Integration und postmigrantische Gesellschaften
Die Debatten um "Integration" werden häufig automatisch mit Migrationsfragen verknüpft. Betrachtet man aber die sozialwissenschaftliche Diskussion um den Begriff der "Integration" und orientiert sich dabei an dem gleichzeitig umstrittenen wie wirkmächtigen Modell der "sozialen Integration", dann kann auch die Integration von Menschen als Teil von sozialen Gruppen untersucht werden, denen kein Interner Link: Migrationshintergrund zugeschrieben wird. So fragt das Modell der sozialen Interner Link: Integration danach, ob alle Individuen in einer Gesellschaft – egal welchen sozialen Gruppen sie angehören oder welchen sozialen Kategorien sie zugeordnet werden – gleiche Teilhabechancen in der pluralen Gesellschaft haben. Demnach kann anhand von vier Dimensionen beobachtet werden, wie gut jemand sozial integriert ist: Untersucht werden dabei die
strukturelle,
kulturelle,
soziale und
emotionale/identifikative Dimension.
Diese Dimensionen sind als Analysetool durchaus noch immer sinnvoll, auch wenn in einer von vielfältigen Lebensführungen, Wertvorstellungen und Migrationserfahrungen geprägten Gesellschaft Interner Link: Vorstellungen von Integration als Eingliederung von Minderheiten in eine "Mehrheitsgesellschaft" oder "Dominanzkultur" an Aussagekraft verlieren. Denn zunehmend gewinnen Ansätze von Transnationalität , Interkultur , und hybriden Identitäten an Bedeutung, in denen Integration immer prozesshaft betrachtet wird. Eine Interner Link: postmigrantische Perspektive, die davon ausgeht, dass alle Menschen in unserer pluralen Gesellschaft ein Recht auf Teilhabe und Anerkennung haben, eröffnet die Möglichkeit, die oben vorgestellten Dimensionen der sozialen Integration an weitere gesellschaftliche Gruppen anzulegen und nach deren Integration im oben dargestellten Sinne zu fragen. Das gilt zum Beispiel für die Gruppe der Ostdeutschen, die in diesem kurzen Beitrag betrachtet werden soll.
Wie integriert sind Ostdeutsche?
Bei den Ostdeutschen handelt es sich zu rund 92 Prozent um Menschen, die nicht mit dem statistischen Begriff des "Migrationshintergrundes" erfasst werden , während es im Bundesdurchschnitt rund 74 Prozent sind, die keinen "Migrationshintergrund" haben. Trotzdem werden alle Ostdeutschen immer wieder mit Blick auf Fragen von Integration betrachtet , z.B. alljährlich in einem Bericht der Bundesregierung über gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West.
Geht man die vier Dimensionen sozialer Integration durch, lässt sich grob Folgendes beobachten: Hinsichtlich der Dimension der strukturellen Integration in den Arbeitsmarkt lässt sich feststellen, dass die Reallöhne in Ostdeutschland noch immer niedriger als in den westdeutschen Bundesländern sind. Die Interner Link: Arbeitslosenquote ist ausgehend von einer offiziell vollbeschäftigten Bevölkerung in der DDR bis 2005 drastisch gestiegen und sinkt seitdem wieder (Höchstwert 18,7 Prozent), liegt aktuell aber mit 7,9 Prozent noch immer leicht höher als im Westen mit sechs Prozent. Außerdem verfügen Ostdeutsche im Vergleich zu Westdeutschen nur über ca. ein Viertel des Mediannettovermögens . Ostdeutsche sind zudem im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil in vielen gesellschaftlichen Bereichen unterrepräsentiert. Sie bekleiden beispielsweise nur etwa 1,7 Prozent der Spitzenpositionen in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Verwaltung und Medien. Keine Redaktion einer überregionalen Tageszeitung hat ihren Sitz in den neuen Bundesländern.
Bei der kulturellen Dimension geht es einerseits um Sprache, andererseits aber auch um Wissen, Fertigkeiten und Verhaltensweisen. Da die Muttersprache der meisten Ostdeutschen Deutsch ist, können sie in dieser Hinsicht als integriert gelten. Bei der Frage jedoch, ob Ostdeutsche die Verhaltensweisen und Normen der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung leicht annehmen konnten, zeigen einige Forschungen, dass das in der DDR akkumulierte kulturelle Kapital der meisten Ostdeutschen entwertet wurde. Das betrifft sowohl Bildungsabschlüsse, den Verlust oder Wechsel des Arbeitsplatzes und die damit verbunden Karrierebrüche, aber auch das inkorporierte kulturelle Kapital (z.B. unterschiedliche Bezeichnungen oder erwartete Verhaltensweisen für alltägliche und vor allem die Erwerbsarbeit betreffende Dinge). Das bedeutete für Ostdeutsche Nachteile mit Blick auf ihre Teilhabechancen im wiedervereinigten Deutschland.
Bei der sozialen Dimension von Integration wird nach Kontakten (Netzwerken) außerhalb der eigenen Gruppe gefragt und danach, wie stark die Einbindung in die Zivilgesellschaft ist. Vor allem nach dem Mauerfall gab es eine große Interner Link: Mobilität zwischen den alten und neuen Bundesländern. In den Osten sind anfangs vor allem westdeutsche Interner Link: Transfereliten gezogen, die die Gesellschaft der neuen Bundesländer überschichtet haben, während Ostdeutsche vor allem der Arbeitslosigkeit im Osten entflohen und von den besseren Löhnen im Westen angezogen wurden. Dort konkurrierten sie teilweise mit Menschen mit Migrationshintergrund um Jobs im Niedriglohnsektor. Wie die Netzwerke zwischen Ost- und Westdeutschen jeweils funktionieren, ist bisher kaum beforscht worden. Wir wissen aber, dass die Interner Link: Zivilgesellschaft (Vereinsleben, Ehrenamt, etc.) in Ostdeutschland noch immer geringer ausgeprägt ist.
Die vierte und letzte Dimension der sozialen Integration fragt nach der emotionalen bzw. identifikativen Integration, also danach, ob sich die Angehörigen einer sozialen Gruppe der vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft zugehörig fühlen. Hier zeigt sich seit Jahren, dass sich Ostdeutsche in standardisierten Befragungen seltener einem übergeordneten bzw. gesamtdeutschen "Deutschsein" verbunden fühlen, sondern stattdessen ihr Ostdeutschsein als wichtige Teilidentität herausstellen. Auch bei jungen Ostdeutschen, die nach der Wiedervereinigung geboren wurden, zeigt sich diese Teilidentität noch. So geben nur acht Prozent der jungen Westdeutschen an, dass sie sich eher als Westdeutsche fühlen, während 20 Prozent der jungen Ostdeutschen sich eher als Ostdeutsche fühlen. Eine Mehrheit der jungen Ostdeutschen gibt an (65 Prozent), dass die Herkunft aus Ostdeutschland noch immer von Bedeutung sei. Auch in meiner eigenen Forschung hat sich ergeben, dass junge Ostdeutsche eine ostdeutsche Identität vor allem auf Grund ihrer Sozialisation (Eltern, Schule, Medien) und in Abgrenzung zur vermeintlich westdeutschen hegemonialen Norm postulieren. Das eigene Ostdeutschsein nehmen sie als symbolisch abgewertet war. Sie reagieren damit auf eine negative Fremdzuschreibung mit einer eigenen eher positiv besetzten Selbstzuschreibung als ostdeutsch.
Analogien?!
Ausgehend von einem Artikel, den ich gemeinsam mit Naika Foroutan veröffentlicht habe, wird seit 2018 diskutiert, ob es Ähnlichkeiten (Analogien) zwischen Ostdeutschen und Muslim*innen gibt, an denen die Debatte um Migration oft festgemacht wird. Das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) hat zu dieser Frage eine standardisierte Befragung in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse im Jahr 2019 erschienen sind und für einige mediale Debatten gesorgt haben. Nur sehr kurz zusammengefasst: Aus der Studie lässt sich herausarbeiten, dass es erstens Analogien der symbolischen Abwertung zwischen Ostdeutschen und Muslim*innen gibt, zweitens ein etwas diffuses Bild bei den Analogien um Anerkennung und drittens keine Analogien bei der Aufstiegsabwehr. Will heißen: Westdeutsche stimmen zu 58,6 Prozent bei Muslim*innen und zu 36,4 Prozent bei Ostdeutschen der Aussage zu, diese seien noch nicht im heutigen Deutschland "angekommen". Ostdeutsche und Muslim*innen werden als "die Anderen" betrachtet, als Abweichung von der (westdeutschen) Norm (sogenanntes Othering). Im Diskurs werden sie sozusagen "migrantisiert". Gleichzeitig stimmen Westdeutsche bei beiden Gruppen (gegenüber Muslim*innen zu 36,5 Prozent und gegenüber Ostdeutschen zu 41,2 Prozent) der Aussage zu, diese würden sich als Opfer stilisieren. Außerdem stimmten 43,3 Prozent der Aussage zu, dass Muslim*innen sich nicht genug vom Extremismus distanzieren. Gegenüber Ostdeutschen wurde dieser Aussage mit 37,4 Prozent zugestimmt. Allerdings wird nur dem Aufstieg von Muslim*innen in höhere Positionen mit Abwehr begegnet: Sowohl Ostdeutsche (53,1 Prozent) als auch Westdeutsche (37,5 Prozent) stimmen der Aussage zu, dass sie befürchten, wenn Muslim*innen in Führungspositionen aufsteigen und hohe Bildungserfolge haben, sie zu viele Forderungen stellen würden.
Anhand der Ausführungen zeigt sich, dass weiterhin eine Auseinandersetzung mit vielfältigen Gruppen um deren sozialer Integration sinnvoll erscheint und dabei auch Ähnlichkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden können. In den letzten Jahren war die Betrachtung von sozialer Integration sehr einseitig auf Migration bezogen. Diese Perspektive zu öffnen, kann deutlich machen, dass sich in der modernen, pluralen Gesellschaft Fragen von Teilhabe und Zugehörigkeit für alle Menschen stellen und kontinuierlichen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen unterliegen.
Zum Thema
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Migration in städtischen und ländlichen Räumen.