Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft. Allein zwischen 2015 und 2019 wanderten rund 2,8 Millionen mehr Menschen nach Deutschland ein als das Land im selben Zeitraum verließen
(Wie) Kann angesichts dieser Vielfalt unterschiedlicher Lebenserfahrungen und Lebensformen gesellschaftlicher Zusammenhalt eigentlich noch erreicht werden? Führt Einwanderung zu einer "Überlastung" der Integrationsmöglichkeiten?
Anpassung, Pluralismus oder Interaktion?
Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon, wie Integration und Zusammenhalt gelingen können. In vielen nationalstaatlich verfassten Gesellschaften herrschte lange die Vorstellung, dass gemeinsame Abstammung (
Diesen beiden gegensätzlichen Vorstellungen stellte der Soziologe Ronald Taft schon im Jahr 1953 ein interaktionistisches Modell der Integration gegenüber. In diesem Fall handeln die unterschiedlichen, sich ethnisch, kulturell, religiös oder anderweitig definierenden sozialen Gruppen in einer Gesellschaft einen gemeinsamen Werte- und Ordnungsrahmen aus, innerhalb dessen aber keine vollständige Verschmelzung, sondern ein respektvolles Miteinanderleben stattfindet. So können beispielsweise Einwanderungs- und andere gesellschaftliche Gruppen in Großbritannien für die regelmäßig stattfindenden Volkszählungen Vorschläge machen, was in welchen Kategorien (z.B. von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit) erfragt und damit gesellschaftlich thematisiert werden soll
Im vergangenen Jahrhundert war ein interaktionistisches Konzept gleichberechtigter Aushandlung von Zugehörigkeiten weder in der sozialen Praxis noch in der wissenschaftlichen Analyse prägend. Vorherrschend war die Idee, gesellschaftlicher Zusammenhalt werde am besten durch normative Integration und durch Angleichungsprozesse der sozialen Teilgruppen garantiert.
Ursprünge der Solidarität
Bereits 1893 hatte der französische Soziologe Émile Durkheim zwischen mechanischer und organischer Solidarität als unterschiedlichen Kräften des gesellschaftlichen Zusammenhalts unterschieden. Seine These: Mechanische Solidarität ergebe sich in traditionalen, segmentären Gesellschaften durch das Zusammenhalten von als gleich wahrgenommenen Elementen, etwa der durch Blutsverwandtschaft integrierten Großfamilien oder Clanverbände. Organische Solidarität dagegen beruhe auf dem Bewusstsein der wechselseitigen Abhängigkeit von als unterschiedlich wahrgenommenen Elementen. In hochgradig arbeitsteiligen und differenzierten Gesellschaften ergebe sich Integration daher nicht aus der Erfahrung des Gleichseins, sondern aus dem Bewusstsein des Aufeinanderangewiesenseins völlig unterschiedlicher sozialer Gruppen.
Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch eine große Heterogenität der Bevölkerung im Hinblick auf Beruf, sozialen Status und Einkommen, auf Geschlechteridentitäten und -orientierungen, auf kulturelle und politische Orientierungen, auf Migrationserfahrungen und Lebensstile sowie viele weitere sozial relevante Merkmale aus. Unter solchen Umständen kann Zusammenhalt nicht durch mechanische Solidarität oder monistische Integration im Sinne etwa des Beschwörens substantieller Gemeinsamkeiten einer "abendländischen Leitkultur" garantiert werden.
Zusammenhalt in heterogenen Gesellschaften
Zusammenhalt in offenen und demokratischen Gesellschaften beruht vielmehr auf der wechselseitigen Anerkennung des Rechts auf Vielfalt bei gleichzeitiger Achtung und Verteidigung eines gemeinsamen "Verfassungspatriotismus" im Sinne einer zivilgesellschaftlichen Übereinkunft der Grundnormen des Zusammenlebens.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird dann immer wieder aufs Neue hergestellt: auf der Mikroebene von Familien und sozialen Netzwerken, die Solidarität und Anerkennung etwa im Hinblick auf religiöse, politische oder Geschlechtervielfalt ermöglichen; durch die Mitgliedschaft in Vereinen, Gewerkschaften oder Parteien, die auf der Mesoebene soziale Verflechtungszusammenhänge darstellen; und schließlich auf der Makroebene gesellschaftlicher Institutionen, zum Beispiel in den Parlamenten und Massenmedien oder bei der Förderung von Wissenschaft
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers