Es gibt diese großen Begriffe: Liebe. Freiheit. Heimat. Sie hängen miteinander zusammen, und sie tun es nicht, sie haben einen großen Klang, aber sie erzählen so viele verschiedene Geschichten. Jede Erzählung von Liebe wird immer eine einzigartige sein, jedes Gefühl von Freiheit sich wie das erste der Welt anfühlen, jede Heimat hat ihren eigenen Geruch, Geschmack, dieses besondere Gefühl von Zuhause.
Meine Heimat ist schwarz-weiß, und sie ist grau, aber sie ist nicht dieses Grau, das aus der Mischung von Schwarz und Weiß entsteht. Sie ist subjektiv, sie ist die meine, und sie braucht keine Definition, weil sie kein Begriff ist; sie ist ein Gefühl. Das Schwarz-Weiß ist die Birkenrinde, ein schlechtes Klischee, das die russische Seele zu erzählen versucht. Ich bin in Sankt Petersburg, in
Heimat - auch wenn der Begriff in der deutschen Sprache diesen etymologischen Hintergrund hat - muss mit Heim nichts zu tun haben, mehr noch, Heimat und Heim können und dürfen geradezu Antonyme sein. In meiner Heimat waren graue Hochhäuser Geborgenheit, Gemeinschaft und Gefühl, und da, wo ich zuhause bin, nämlich hier, in Europa, in Deutschland, in Bayern werden ihnen sozialer Abstieg, Kriminalität und Trostlosigkeit angedichtet. Dass Heimat und Heim buchstäblich wie im übertragenen Sinne einander fern wie fremd sein können, ist eine ebenso persönliche These wie jede Definition dieses Begriffs seit jeher war und immer sein wird. Die Definition verfasse und fühle ich in der deutschen Sprache, einer Sprache, die nicht meine Muttersprache, aber mein Zuhause ist. Die Sprache gehört mir: Die Worte geben sich mir hin. Wenn sie es nicht tun, so zwinge ich sie. Sie verzweifeln an mir, wie ich auch an ihnen verzweifle, das wird immer das Los eines jeden Autors sein. Man könnte sagen, wir stehen miteinander in einer Beziehung, in einer, in der ich fliegen und fallen kann, und man könnte mich fragen: Ist Sprache nicht Ihre Heimat? Und ich würde innehalten, bestimmt. Ich würde innehalten und den Kopf schütteln als Erkenntnis: Zuhause ist, wo ich mich frei und nackt und mit allem, was ich bin, bewege. Aber Zuhause muss nicht zwingend in der Heimat liegen, und Heimat kann manchmal ganz fremd sein. Wenn ich nach Russland fahre, so fahre ich mit den Fingern über schwarz-weiße Birkenrinde, und ich spüre Geborgenheit, wenn ich gen Himmel schaue und graue Hochhäuser mir den Blick verstellen. Aber ich spreche dort in einer mir inzwischen fremden Sprache, und die Art, wie ich denke, verstehen die Menschen dort nicht. Diese Ambivalenz ist, was Menschen auf Reisen schickt, denen man nachsagt, jemand begebe sich zu seinen Wurzeln. Ich weiß nicht, ob man das kann, Wurzeln verpflanzen, Wurzeln suchen, Wurzeln wissen.
Wenn etwas schwer zu fassen ist, versucht man, das Ganze gemeinhin in Einzelteile zu zerlegen. Heimat hat, wenn man diesen Versuch unternimmt, eine räumliche, eine zeitliche, eine soziale, eine emotionale und eine kulturelle Dimension. Das wirft Fragen auf: Ist Heimat ein Haus, ein Ort, eine Region, ein Land? Hat Heimat somit auch Grenzen? Die wer, jemand anders, gezogen hat, einfach so? Ist Heimat da, wo alle die humorvollen Feinheiten meiner Sprache verstehen, ist Heimat da, wo ein Lied das Herz zur Rührung bringt? Ist Heimat, wenn Erinnerungen das Jetzt überlagern, oder ist sie da, wo die wichtigen Menschen sind, deren Lachen man einzuordnen weiß? Ist all diesen Dimensionen die Geborgenheit - die der Familie, der Freunde, der Sprache, der Gerüche, der Niederschlagsstärke, der Blätterfarbe an den Bäumen, der Witze, der Höflichkeitsfloskeln - immanent? Lässt sich diese Geborgenheit - wenn sie denn das verbindende Element sein sollte - regional begrenzen, einordnen oder definieren?
Fragen: Wenn Heimat ein persönliches Gefühl ist, wenn es nichts ist, was verordnet werden kann durch neue politische Konstellationen oder Grenzen, kann es denn überhaupt etwas Statisches sein? Kann und darf sich Heimat nicht auch verändern? Meine hat sich verändert, so sehr, dass ich sie nicht wiedererkenne, und so wie ich sie gerade sehe, auch nicht wiedererkennen will. Muss Heimat ein Singular bleiben, darf sie nicht wachsen, ein Plural werden, dürfen wir nicht Heimaten haben? Dürfen wir diese nicht selbst definieren? Man neigt in Zeiten wie diesen - in denen Geflüchtete im Mittelmeer darauf warten, irgendwo (und das Wo ist für sie nach Tagen und Wochen des Wartens nicht von Bedeutung) an Land gehen zu dürfen - bei diesem Plural Heimaten dazu, an z.B. Deutschland und ein sehr weit entferntes, auf den ersten Blick nichts mit der hiesigen Heimat gemeinsam habendes Land zu denken. Man muss nicht so weit denken: Was ist mit jemandem, der in Unterfranken aufgewachsen ist und nach Hessen zieht, sich in den dortigen Dialekt (ja, auch so etwas gibt es!) verliebt; darf er von zwei, vielleicht sogar noch mehr Heimaten sprechen? Das Leben, das meine Eltern gezwungen hat, mit mir und meinem Bruder auszuwandern, hat mich meiner Heimat, der simplen Geborgenheit meiner Kindheit, die keiner großen Begriffe wie Heimat bedurfte, beraubt. Und jetzt weiß ich nicht, darf das Land, in dem ich lebe, in dem ich in der Sprache, die ich als meine Heimat bezeichnen würde, schreibe, schimpfe, zweifle und liebe, darf das mehr als mein Zuhause, darf das meine Heimat sein? Nicht die zweite, und nicht die neue, sondern eine, die kein Adjektiv nötig hat? Darf Heimat ein Plural sein, darf der Begriff sich dehnen? Von Dorf zu Dorf, von Bundesland zu Bundesland, von Land zu Europa, von Kontinent zu Kontinent? Dürfen wir ihn dehnen, indem wir ihn in der zeitlichen Dimension dehnen, indem wir ihn vorstellen als ein zu bemalendes Blatt: Es war mal weiß, das ist schon lang vor unserer Zeit gewesen. Nun sind da Farbkleckse drauf, Häuser gezeichnet, Strichmännchen oder Tiere. Ist das Bild ein fertiges für immer, oder können wir uns vorstellen, dass es weiter gemalt werden darf? Mit Kohle statt mit Buntstiften, mit neuen Figuren und Mustern. Darf Heimat ein Prozess sein und damit auch eine Chance, eine Zukunft?
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers