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Zur Prognose des Umfangs klimabedingter Migrationen

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In Medien und Politik tauchen regelmäßig Prognosen zur Zahl der Menschen auf, die in Zukunft weltweit ihre Heimatorte wegen plötzlicher oder schleichender Umweltveränderungen infolge des Klimawandels verlassen müssten. Wie verlässlich sind solche Aussagen?

Hirseanbau in Niger
Hirseanbau in Niger. Die Auswirkungen des Klimawandels könnten viele Millionen Menschen dazu bewegen könnten, ihre angestammten Wohnorte zu verlassen. Dabei kann keineswegs gesagt werden, wie viele Menschen aufgrund von Klima- und Umweltveränderungen aktuell migrieren, noch wie viele dies in Zukunft tun werden. (© dpa, Report)

Klima- und Umweltmigration sind immer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Die Einen argumentieren, dass für die Menschen, die aufgrund von Klima- und Umweltveränderungen ihre Heimat verlassen, Regelungen zur sicheren, geordneten und regulären Migration getroffen werden müssen. Die Anderen sprechen sich dafür aus, betroffene Staaten verstärkt in ihren Anstrengungen bei der Bewältigung des Klimawandels zu unterstützen, damit Migrationsdruck gar nicht erst entsteht. Beide Seiten begründen ihre Position damit, dass die Auswirkungen des Klimawandels viele Millionen Menschen dazu bewegen könnten, ihre angestammten Wohnorte zu verlassen. Dabei kann keineswegs gesagt werden, wie viele Menschen aufgrund von Klima- und Umweltveränderungen aktuell migrieren, noch wie viele dies in Zukunft tun werden. Dies hat viele Gründe, so z.B. Interner Link: das Fehlen einheitlicher Definitionen und Konzepte

, der Mangel an Daten oder die Multikausalität von Migrationsentscheidungen.

Bisherige Schätzungen und Prognosen

Diese Gründe, die weiter unten näher erläutert werden, sprechen derzeit dagegen, konkrete Zahlen zu nennen. Dennoch haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bisher mehrfach den Versuch unternommen, den Umfang derzeitiger und zukünftiger Klima- und Umweltmigration konkret zu beziffern.

Schätzungen bisheriger Klima- und Umweltmigration

Die erste Schätzung zur Anzahl bereits Vertriebener stammt von Jodi Jacobson, die 1988 die Zahl der Umweltflüchtlinge Zur Auflösung der Fußnote[1] auf ca. zehn Millionen Personen schätzte. Zur Auflösung der Fußnote[2] Umweltwissenschaftler Norman Myers, der das Thema in den 1990er und 2000er Jahren verstärkt in den Blick der Öffentlichkeit rückte, sprach für das Jahr 1995 von 25 Millionen Umweltflüchtlingen. Zur Auflösung der Fußnote[3] Es folgten Schätzungen mit ähnlich hohen Zahlen, die jedoch in ihren Definitionen und Berechnungsmethoden unklar blieben oder problematisch waren. So wurden beispielsweise oft lediglich Interner Link: Binnenvertriebene

betrachtet und internationale Interner Link: Migrantinnen und Migranten aus der Rechnung ausgeschlossen. Oder es wurde nur auf katastrophenbedingte Vertreibung abgehoben und dabei keine Unterscheidung zwischen geophysischen und klimabedingten Katastrophen gemacht. Zur Auflösung der Fußnote[4]

Seit 2008 führt das Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) Daten zu katastrophenbedingter Flucht zusammen. Diese basieren auf Informationen nationaler Regierungen und lokaler Behörden, aber auch der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung (IFRC) und ihren nationalen Gesellschaften sowie Daten von den Vereinten Nationen, der Interner Link: Internationalen Organisation für Migration (IOM)

(seit 2016 ebenfalls Teil des UN-Systems), von Nichtregierungsorganisationen, Medien und der Privatwirtschaft. Zur Auflösung der Fußnote[5] Im Zeitraum von 2008-2017 verzeichnete das IDMC die Vertreibung von insgesamt 246,5 Millionen Menschen durch geophysische und klimabedingte Katastrophen. Zur Auflösung der Fußnote[6]

Prognosen zukünftiger Klima- und Umweltmigration

Bei der Schätzung zukünftiger Klima- und Umweltmigration ergibt sich ein ähnliches Bild: Im Jahr 1989 schätzte der damalige Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (Interner Link: UNEP

) Mostafa Tolba auf Grundlage einer Studie von Essam El-Hinnawi Zur Auflösung der Fußnote[7], dass bis 2010 ca. 50 Millionen Menschen aufgrund sich verändernder Umweltbedingungen fliehen müssten. Zur Auflösung der Fußnote[8] Auf Tolba und El-Hinnawi berief sich Norman Myers, als er 1995 ca. 150 Millionen Umweltflüchtlinge bis 2050 prognostizierte. Zur Auflösung der Fußnote[9] Diese Aussage korrigierte er 2002 nach oben auf 200 Millionen. Zur Auflösung der Fußnote[10] "Seither wird diese Zahl immer wieder von den Medien, in offiziellen Berichten, von NGOs und Interessengruppen zitiert. Sie ist zu einer magischen Zahl in der öffentlichen Debatte geworden und wird manchmal sogar als Vorhersage der Vereinten Nationen hingestellt." Zur Auflösung der Fußnote[11] Myers wurde für diese Prognose allerdings kritisiert, da sie nicht deutlich mache, ob dieser Wert alle Vertreibungen, die bis 2050 stattgefunden haben werden, zusammenfasse oder ob es sich um die Zahl der Vertriebenen im Jahr 2050 handele. Zur Auflösung der Fußnote[12]

Hürden für Messungen und Prognosen

Neben dem Zeithorizont stellen sich weitere methodologische Probleme, die Prognosen zur künftigen Klima- und Umweltmigration schwierig oder gar unmöglich machen.

Unterschiedliche Definition

Vergleiche zwischen den einzelnen Zahlen sind nicht möglich, da die meisten Studien "mit einem unterschiedlichen Begriff und Verständnis des Phänomens Klima- bzw. Umweltmigration" Zur Auflösung der Fußnote[13] arbeiten. Nur mit klaren Definitionen, die eindeutig abgrenzen, was unter Klima- und Umweltmigration verstanden wird und welche Kategorien von Menschen darunterfallen und welche nicht, wären numerische Bestimmungen des Phänomens aber überhaupt durchführbar.

Fehlende Daten

Trotz vermehrter Anstrengungen um eine solide Datenbasis (siehe unten), sind Daten zur aktuellen Migration, auf der künftige Schätzungen und Modellierungen aufbauen müssten, oft lückenhaft: "Gerade in den Regionen, in denen die Vulnerabilität in Bezug auf den Klimawandel am höchsten ist, verfügt man nicht über belastbare Daten. Auch Zensusdaten werden dort selten erhoben, sodass auch diese Datenquelle nicht zur Verfügung steht. Werden Daten erhoben, fokussieren sich diese meist auf grenzüberschreitende und weniger auf Binnenmigration." Zur Auflösung der Fußnote[14]

Binnenwanderung vs. internationale Migration

Ein Problem, das in Zusammenhang mit der Datenerhebung auftaucht, ist die Frage der Messung: Migration aufgrund von Klima- und Umweltveränderungen tritt meistens als Binnenwanderung auf. Dies wird vor allem bei Naturkatastrophen deutlich, bei denen Menschen oft (vorübergehend) zu Verwandten oder Bekannten in eine benachbarte Stadt oder in einen anderen Teil des Landes gehen, und dabei keine Staatsgrenzen überschreiten. Im Gegensatz zu Migrantinnen und Migranten, die internationale Grenzen überschreiten, sind Binnenwandernde aber nicht leicht zu zählen. Zudem stellt sich die Frage, ab welcher Entfernung und welcher Dauer der Abwesenheit vom angestammten Wohnsitz überhaupt von einer Vertreibung gesprochen werden kann.

Anpassung an den Klimawandel und Bevölkerungswachstum

Problematisch ist, dass die meisten Schätzungen individuelle, nationale oder internationale Anpassungsstrategien an den Klimawandel und die damit verbundenen alternativen Szenarien des Klimawandels nicht berücksichtigen. Außerdem beziehen sie die unterschiedlich hohe Anfälligkeit einzelner Regionen für den Klimawandel häufig nicht mit ein. Die Vorhersagen rechnen darüber hinaus zumeist alle Menschen ein, die in einem Risikogebiet leben, und nicht nur die Personen, die tatsächlich abwandern. Schließlich beziehen die meisten Prognosen die Änderungen in Größe und Verteilung der Weltbevölkerung nicht mit ein. Dies liegt auch darin begründet, dass die Weltbevölkerung zwar "bis zu einem gewissen Grad prognostiziert werden (kann), nicht jedoch deren genaue geografische Verteilung". Zur Auflösung der Fußnote[15]

Multikausalität

Die wohl bedeutendste Schwierigkeit in Bezug auf die Messung und Prognose klima- und umweltbedingter Migrationen ist die Multikausalität von Migration und Migrationsentscheidungen. Klima- und Umweltveränderungen, ob plötzlich oder schleichend auftretend, Interner Link: sind nur einer von mehreren Faktoren, die bei der Entscheidung, zu migrieren, eine Rolle spielen

. Die Notwendigkeit der Migration, der Migrationswunsch sowie die finanzielle, körperliche oder soziale Fähigkeit einzelner Individuen oder Haushalte, zu migrieren, spielen ebenfalls eine Rolle. Zur Auflösung der Fußnote[16] Die Entscheidung, zu migrieren oder nicht zu migrieren, kann zwar durch ökologische Faktoren bedingt werden, aber eben auch durch politische, demographische, ökonomische oder soziale. Zur Auflösung der Fußnote[17] Diese Triebfedern bedingen sich häufig zudem gegenseitig. Die Entscheidung, zu migrieren oder nicht zu migrieren, wird zusätzlich von den Charakteristika des Individuums bzw. des Haushalts geprägt. Darüber hinaus spielen Faktoren eine Rolle, die die Migration erschweren (z.B. Einreisebestimmungen von Zielländern) oder erleichtern (z.B. Vorhandensein von Interner Link: Netzwerken). Zur Auflösung der Fußnote[18]

Die Migrationsentscheidung einzelner Personen oder Haushalte kann daher nicht kausal auf Klima- und Umweltveränderungen zurückgeführt werden. Zur Auflösung der Fußnote[19] Selbst im Falle von Vertreibungen im Zuge von Naturkatastrophen ist die Migration bzw. die Migrationsentscheidung auch immer durch komplexe politische, soziale und ökonomische Strukturen bedingt. Zur Auflösung der Fußnote[20]

Forschung und neue Methoden

Die Forschung zu Klima- und Umweltmigration hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Groß angelegte Forschungsprojekte, wie beispielsweise das "Externer Link: Migration, Environment and Climate Change: Evidence for Policy (MECLEP)"-Projekt der IOM, erlauben es, durch den Vergleich verschiedener regionaler Kontexte, validere allgemeingültige Aussagen über Umweltmigration zu treffen als zuvor. Zur Auflösung der Fußnote[21] Angaben über die Anzahl der derzeit oder zukünftig aufgrund von Klima- und Umweltveränderungen migrierenden Menschen machen diese Studien aufgrund der oben genannten Herausforderungen aber bewusst nicht.

Nichtsdestotrotz gibt es aber einige innovative Ansätze und neuentwickelte Methoden, die möglicherweise in Zukunft genauere Prognosen regionaler Migrationsbewegungen möglich machen könnten, bei denen Klima- und Umweltveränderungen eine Rolle spielen.

Simulationsmodelle, wie beispielsweise das Multi-Agenten-Simulationsmodell, ermöglichen die Berechnungen von Wahrscheinlichkeiten beim Auftreten bestimmter Faktoren mittels Computer. Sie arbeiten mit der Grundannahme, Migration sei nicht monokausal und können verschiedenste Einflüsse integrieren und entsprechend gewichten. Das Multi-Agenten-Simulationsmodell liefert "Computersimulationen des menschlichen Verhaltens in Reaktion auf verschiedene Reize, berechnet anhand von vorcodierten Parametern" Zur Auflösung der Fußnote[22] und kann so zu einem gewissen Grad das Verhalten von größeren Gruppen voraussagen.

Eine zweite Methode ist die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten auf der Grundlage historischer und aktueller Entwicklungen: Die Mehrebenen-Längsschnittanalyse beruht auf dem Vergleich großer Datenbestände zu Demografie und Umwelt über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Sie eignet sich daher besonders zur Bestimmung langfristiger Trends. Zur Auflösung der Fußnote[23] Das IDMC hat beispielsweise einen Disaster Displacement Index entwickelt, der auf Grundlage historischer und aktueller Trends von Bevölkerungswachstum und Naturkatastrophen eine Vorhersage darüber ermöglicht, wie viele Menschen durchschnittlich pro Jahr, Land und Katastrophenform vertrieben werden. Zur Auflösung der Fußnote[24] In diesen Berechnungen wird allerdings Migration aufgrund schleichender Umweltveränderungen (sogenannte slow-onset events) nicht berücksichtigt. Zur Auflösung der Fußnote[25]

Fazit

Seit den 1990er Jahren existieren Schätzungen zum Stand und Prognosen zur zukünftigen Anzahl von Menschen, die aufgrund von Klima- und Umweltveränderungen ihre Heimat verlassen. Diese Angaben sind aber problematisch, da sie grundlegende definitorische und konzeptionelle Hürden nicht aus dem Weg räumen können. Neue Methoden scheinen Verbesserungen zu versprechen, sind aber noch nicht ausgereift oder schwer umsetzbar.

Rechtswissenschaftler Benoît Mayer (2016) schlägt eine Alternative vor, um aus dieser Not eine Tugend zu machen: Anstatt die Gesamtzahl der Menschen zu bestimmen, die aufgrund von Klima- und Umweltbedingungen migrieren oder migrieren werden, könnte sich die Forschung darauf konzentrieren, den statistisch messbaren Einfluss von Klima- und Umweltveränderungen auf Migration zu bestimmen. Dies würde zu einer abstrakten Zahl führen, die aber deutlich machen würde, wie stark klimatische Veränderungen Migration überhaupt beeinflussen und so politischen Druck ausüben. Zur Auflösung der Fußnote[26]

Dieser Beitrag entstand unter Mitarbeit von Elene Ingenbrand.

Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Migration und Klimawandel

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