Klima- und Umweltmigration sind immer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Die Einen argumentieren, dass für die Menschen, die aufgrund von Klima- und Umweltveränderungen ihre Heimat verlassen, Regelungen zur sicheren, geordneten und regulären Migration getroffen werden müssen. Die Anderen sprechen sich dafür aus, betroffene Staaten verstärkt in ihren Anstrengungen bei der Bewältigung des Klimawandels zu unterstützen, damit Migrationsdruck gar nicht erst entsteht. Beide Seiten begründen ihre Position damit, dass die Auswirkungen des Klimawandels viele Millionen Menschen dazu bewegen könnten, ihre angestammten Wohnorte zu verlassen. Dabei kann keineswegs gesagt werden, wie viele Menschen aufgrund von Klima- und Umweltveränderungen aktuell migrieren, noch wie viele dies in Zukunft tun werden. Dies hat viele Gründe, so z.B.
Bisherige Schätzungen und Prognosen
Diese Gründe, die weiter unten näher erläutert werden, sprechen derzeit dagegen, konkrete Zahlen zu nennen. Dennoch haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bisher mehrfach den Versuch unternommen, den Umfang derzeitiger und zukünftiger Klima- und Umweltmigration konkret zu beziffern.
Schätzungen bisheriger Klima- und Umweltmigration
Die erste Schätzung zur Anzahl bereits Vertriebener stammt von Jodi Jacobson, die 1988 die Zahl der Umweltflüchtlinge
Seit 2008 führt das Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) Daten zu katastrophenbedingter Flucht zusammen. Diese basieren auf Informationen nationaler Regierungen und lokaler Behörden, aber auch der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung (IFRC) und ihren nationalen Gesellschaften sowie Daten von den Vereinten Nationen, der
Prognosen zukünftiger Klima- und Umweltmigration
Bei der Schätzung zukünftiger Klima- und Umweltmigration ergibt sich ein ähnliches Bild: Im Jahr 1989 schätzte der damalige Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (
Hürden für Messungen und Prognosen
Neben dem Zeithorizont stellen sich weitere methodologische Probleme, die Prognosen zur künftigen Klima- und Umweltmigration schwierig oder gar unmöglich machen.
Unterschiedliche Definition
Vergleiche zwischen den einzelnen Zahlen sind nicht möglich, da die meisten Studien "mit einem unterschiedlichen Begriff und Verständnis des Phänomens Klima- bzw. Umweltmigration"
Fehlende Daten
Trotz vermehrter Anstrengungen um eine solide Datenbasis (siehe unten), sind Daten zur aktuellen Migration, auf der künftige Schätzungen und Modellierungen aufbauen müssten, oft lückenhaft: "Gerade in den Regionen, in denen die Vulnerabilität in Bezug auf den Klimawandel am höchsten ist, verfügt man nicht über belastbare Daten. Auch Zensusdaten werden dort selten erhoben, sodass auch diese Datenquelle nicht zur Verfügung steht. Werden Daten erhoben, fokussieren sich diese meist auf grenzüberschreitende und weniger auf Binnenmigration."
Binnenwanderung vs. internationale Migration
Ein Problem, das in Zusammenhang mit der Datenerhebung auftaucht, ist die Frage der Messung: Migration aufgrund von Klima- und Umweltveränderungen tritt meistens als Binnenwanderung auf. Dies wird vor allem bei Naturkatastrophen deutlich, bei denen Menschen oft (vorübergehend) zu Verwandten oder Bekannten in eine benachbarte Stadt oder in einen anderen Teil des Landes gehen, und dabei keine Staatsgrenzen überschreiten. Im Gegensatz zu Migrantinnen und Migranten, die internationale Grenzen überschreiten, sind Binnenwandernde aber nicht leicht zu zählen. Zudem stellt sich die Frage, ab welcher Entfernung und welcher Dauer der Abwesenheit vom angestammten Wohnsitz überhaupt von einer Vertreibung gesprochen werden kann.
Anpassung an den Klimawandel und Bevölkerungswachstum
Problematisch ist, dass die meisten Schätzungen individuelle, nationale oder internationale Anpassungsstrategien an den Klimawandel und die damit verbundenen alternativen Szenarien des Klimawandels nicht berücksichtigen. Außerdem beziehen sie die unterschiedlich hohe Anfälligkeit einzelner Regionen für den Klimawandel häufig nicht mit ein. Die Vorhersagen rechnen darüber hinaus zumeist alle Menschen ein, die in einem Risikogebiet leben, und nicht nur die Personen, die tatsächlich abwandern. Schließlich beziehen die meisten Prognosen die Änderungen in Größe und Verteilung der Weltbevölkerung nicht mit ein. Dies liegt auch darin begründet, dass die Weltbevölkerung zwar "bis zu einem gewissen Grad prognostiziert werden (kann), nicht jedoch deren genaue geografische Verteilung".
Multikausalität
Die wohl bedeutendste Schwierigkeit in Bezug auf die Messung und Prognose klima- und umweltbedingter Migrationen ist die Multikausalität von Migration und Migrationsentscheidungen. Klima- und Umweltveränderungen, ob plötzlich oder schleichend auftretend,
Die Migrationsentscheidung einzelner Personen oder Haushalte kann daher nicht kausal auf Klima- und Umweltveränderungen zurückgeführt werden.
Forschung und neue Methoden
Die Forschung zu Klima- und Umweltmigration hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Groß angelegte Forschungsprojekte, wie beispielsweise das "Externer Link: Migration, Environment and Climate Change: Evidence for Policy (MECLEP)"-Projekt der IOM, erlauben es, durch den Vergleich verschiedener regionaler Kontexte, validere allgemeingültige Aussagen über Umweltmigration zu treffen als zuvor.
Nichtsdestotrotz gibt es aber einige innovative Ansätze und neuentwickelte Methoden, die möglicherweise in Zukunft genauere Prognosen regionaler Migrationsbewegungen möglich machen könnten, bei denen Klima- und Umweltveränderungen eine Rolle spielen.
Simulationsmodelle, wie beispielsweise das Multi-Agenten-Simulationsmodell, ermöglichen die Berechnungen von Wahrscheinlichkeiten beim Auftreten bestimmter Faktoren mittels Computer. Sie arbeiten mit der Grundannahme, Migration sei nicht monokausal und können verschiedenste Einflüsse integrieren und entsprechend gewichten. Das Multi-Agenten-Simulationsmodell liefert "Computersimulationen des menschlichen Verhaltens in Reaktion auf verschiedene Reize, berechnet anhand von vorcodierten Parametern"
Eine zweite Methode ist die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten auf der Grundlage historischer und aktueller Entwicklungen: Die Mehrebenen-Längsschnittanalyse beruht auf dem Vergleich großer Datenbestände zu Demografie und Umwelt über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Sie eignet sich daher besonders zur Bestimmung langfristiger Trends.
Fazit
Seit den 1990er Jahren existieren Schätzungen zum Stand und Prognosen zur zukünftigen Anzahl von Menschen, die aufgrund von Klima- und Umweltveränderungen ihre Heimat verlassen. Diese Angaben sind aber problematisch, da sie grundlegende definitorische und konzeptionelle Hürden nicht aus dem Weg räumen können. Neue Methoden scheinen Verbesserungen zu versprechen, sind aber noch nicht ausgereift oder schwer umsetzbar.
Rechtswissenschaftler Benoît Mayer (2016) schlägt eine Alternative vor, um aus dieser Not eine Tugend zu machen: Anstatt die Gesamtzahl der Menschen zu bestimmen, die aufgrund von Klima- und Umweltbedingungen migrieren oder migrieren werden, könnte sich die Forschung darauf konzentrieren, den statistisch messbaren Einfluss von Klima- und Umweltveränderungen auf Migration zu bestimmen. Dies würde zu einer abstrakten Zahl führen, die aber deutlich machen würde, wie stark klimatische Veränderungen Migration überhaupt beeinflussen und so politischen Druck ausüben.
Dieser Beitrag entstand unter Mitarbeit von Elene Ingenbrand.
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers