Die Ursprünge der Migration von Kindern und Jugendlichen aus dem Vereinigten Königreich in die ehemals britischen Überseekolonien liegen in der demografischen Geschichte Großbritanniens. Bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts stellten Personen, die wir heute als Kinder und Jugendliche definieren würden, einen überproportional hohen Anteil an der britischen Bevölkerung. Demgegenüber erscheint der Anteil der Elterngeneration im Vergleich zur heutigen Altersstruktur der Bevölkerung gering. Große Familien und der frühe Tod von Erwachsenen ließen viele Jugendliche ohne ausreichende familiäre Unterstützung zurück. Ein Vater, der seine Frau verlor und arbeiten musste (oft für niedrige Löhne), konnte sich häufig nicht um seine Kinder kümmern. Für eine verwitwete Frau, der ein Lohn erwirtschaftender Ehemann fehlte, war es schwierig, ihren Nachwuchs zu ernähren und zu kleiden. Darüber hinaus waren verwaiste Kinder und verlassene, missbrauchte und obdachlose Jugendliche ein anerkanntes soziales Problem. Jugendliche konnten vielleicht noch für sich selbst sorgen, aber Kinder (hier definiert als diejenigen unter 14 Jahren) hatten nur wenige Möglichkeiten. Viele dieser Jugendlichen und einige, die durchaus Eltern hatten, wurden in die Verantwortung der staatlichen Armenfürsorge-Behörden gegeben und in Armenhäusern untergebracht. Seit dem frühen 19. Jahrhundert nahmen auch lokale oder nationale Wohltätigkeitsorganisationen solche Jugendliche in Obhut. Oft wurden sie in großen kasernenähnlichen Gebäuden untergebracht, obwohl im 20. Jahrhundert einige von ihnen auch in sogenannte cottage homes geschickt wurden, die von "Hausmüttern" verwaltet wurden und den Jugendlichen daher etwas boten, das stärker einer Familie glich. Alle großen kirchlichen Glaubensgemeinschaften waren beteiligt, ebenso private Wohltätigkeitsorganisationen wie Externer Link: Dr. Barnardo's, Externer Link: Quarriers Homes, Externer Link: National Children's Homes und die Externer Link: Fairbridge Society.
Egal, wo sie untergebracht waren, bestand jedoch das Problem, dass es mehr bedürftige Kinder gab als verfügbare Plätze in den Unterkünften. Auch die Finanzierung ihrer Betreuung war eine Herausforderung. Einige Jugendliche wurden als Lehrlinge oder junge Arbeiter im Vereinigten Königreich verteilt. Ab 1618 leisteten die mit der gesetzlichen Armenfürsorge betrauten Behörden Pionierarbeit für die Entsendung von Jugendlichen in die amerikanischen Kolonien, bis die Amerikanische Revolution im Jahr 1776 diese Praxis blockierte. Später, ab den 1830er Jahren, wandten sich viele Wohltätigkeitsorganisationen den scheinbar offensichtlichen Möglichkeiten in den weißen Siedlergesellschaften des Britischen Weltreichs (British Empire) (das später zum selbstverwalteten Commonwealth wurde) zu. Hier schien es Karrieren für Jugendliche zu geben, die im Vereinigten Königreich fehlten. Zudem ging man davon aus, dass ein Neuanfang in ländlichen Gebieten für die Kinder und Jugendlichen sowohl körperlich als auch moralisch von Vorteil sei. Denn die meisten "geretteten" Kinder, die in Großbritannien betreut wurden, wuchsen in Städten auf, die oft zu Recht als ungesund galten. Diese jungen Migrantinnen und Migranten gingen nicht ins Ausland: Sie trugen zur Entwicklung eines "Größeren Britanniens" (Greater Britain) in Übersee bei. Zahlen sind ungenau. Einige Jugendliche wurden nach Südafrika befördert, aber ab 1869 schickte man die meisten Kinder nach Kanada, um dort auf Bauernhöfen zu arbeiten. Wahrscheinlich waren es bis 1924 um die 90.000, plus weitere 329 zwischen 1935 und 1948. Aufgrund des wachsenden Widerstands kanadischer Kinderbetreuungsexperten und Gewerkschaften, die sich gegen "billige" importierte Arbeitskräfte aussprachen, kamen mehr Kinder und Jugendliche nach Australien (6.900, 1913-70). Dort gab es eine große Nachfrage nach "weißen britischen Beständen" ("white British stock"). Eine geringere Anzahl von Kindern und Jugendlichen ging nach Neuseeland (549, 1949-53) und nach Südrhodesien (276, 1949-56).
Kinder- und Jugendmigration – eine versteckte Praxis?
Es handelte sich nicht um eine verdeckte Praxis, Kinder und Jugendliche nach Übersee zu schicken. Die britische Regierung förderte die Migration von Kindern (und getrennt von Jugendlichen) durch Gesetze, die im Zeitraum 1922 bis 1972 mehrmals als Teil eines umfassenderen Programms zur Besiedlung des Empires erneuert wurden. Regierungen in Übersee, insbesondere Australien, stellten ebenfalls finanzielle und administrative Unterstützung bereit. Wohltätigkeitsorganisationen, die um Geldspenden warben, priesen die Vorteile der Migration für vermeintlich sorgfältig ausgewählte Kinder. Die Kindermigration hatte jedoch ihre Kritiker. Bereits 1875 machte sich ein prominenter, für die Armenfürsorge verantwortlicher Beamter Gedanken über das Wohlergehen von Kindermigranten, deren Bedingungen auf den abgelegenen Bauernhöfen, auf die sie geschickt worden waren, zu selten kontrolliert wurden. Als nach dem Zweiten Weltkrieg der Wohlfahrtsstaat in Großbritannien entwickelt und die soziale Sicherung "zu Hause" ausgebaut wurde, bezweifelten ein offizieller Bericht über die Kinderbetreuung von 1946 und eine zunehmende Zahl professioneller Kinderfürsorgebeamter, dass die Kindermigration jetzt noch akzeptabel sei. Darüber hinaus wurde zunehmend die Befürchtung geäußert, dass Kinder in Übersee in die Obhut von Erwachsenen gegeben würden, die fast ausnahmslos ungeschult und schlecht ausgerüstet waren, um Kinder zu erziehen, die oft durch das Fehlen oder den Zusammenbruch eines normalen häuslichen Lebens verstört waren. Britische Regierungsbeamte hegten auch ernsthafte Zweifel an der Qualität der Betreuung und Nachsorge, die Kindermigranten erhielten. Dennoch wurde die Kindermigration von der britischen Regierung, die darauf bedacht war, ihren australischen Partner oder in Großbritannien ansässige und angesehene Wohltätigkeitsorganisationen nicht zu beleidigen, nicht eingestellt oder angemessen reguliert. Die Zahl der Kindermigrantinnen und -migranten aber ging zurück und 1970 endete die Praxis schließlich. Zum Teil ist dies darauf zurückzuführen, dass mehrere Kinderwohlfahrtsverbände aus den 1950er Jahren sich stattdessen für inländische Lösungen für Kinderbetreuungsfragen entschieden. Hauptsächlich aber sorgten die Verbesserung der staatlich finanzierten Familienunterstützungsdienste im Vereinigten Königreich, der Rückgang der Geburtenrate und eine verbesserte Lebenserwartung für einen Rückgang der Zahl der Jugendlichen, die auf vorrübergehende staatliche Unterkunft und Betreuung angewiesen waren.
Die Übersiedlung von Kindern nach Übersee hat jedoch ein belastendes Erbe hinterlassen. Es wurde von einer Sozialarbeiterin, Margaret Humphreys, enthüllt, die 1987 den Child Migrants Trust (etwa: Fonds für Kindermigranten) gründete. Sie hatte Erwachsene getroffen, die ihr berichtet hatten, dass sie als Kinder von ihrer Familie getrennt und nach Australien verschickt worden waren und emotionale, körperliche und sexuelle Misshandlungen erfahren hatten. Öffentliche Aufmerksamkeit und politische Lobby-Arbeit führten zwischen 1996 und 2017 zu vier offiziellen Untersuchungen sowie entlarvenden und beunruhigenden Berichten in Australien. Im Zeitraum 1998 und 2018 gab es zudem drei Untersuchungen im Vereinigten Königreich; eine weitere ist derzeit in Arbeit. Wohltätigkeitsorganisationen und Regierungen wurden beschuldigt; offizielle Entschuldigungen wurden gemacht; Gerichtsverfahren folgten; Familien wurden wieder zusammengeführt, Unterstützungsgruppen gebildet; Seelsorge wurde angeboten; in Australien und Kanada wurden Gedenkstätten errichtet. Es wurde ein finanzieller Ausgleich verlangt – und, was vielleicht am wichtigsten ist, die Wahrheit wurde ans Licht gebracht.
Übersetzung aus dem Englischen: Vera Hanewinkel
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