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Die "Schwabenkinder"

Roman Spiss

/ 3 Minuten zu lesen

Im 17. Jahrhundert führte bitterste Not in Vorarlberg, Tirol und dem schweizerischen Graubünden dazu, dass zahlreiche Kinder nach Oberschwaben, Bayerisch-Schwaben und Baden geschickt wurden, um dort zu arbeiten.

Holzstich, Ravensburg 1895: Verdingung von Kindern aus Tirol als landwirtschaftliche Hilfskräfte in Oberschwaben. (© picture-alliance/akg)

Diese acht- bis 14-jährigen Arbeitskräfte werden meist als "Schwabenkinder" bezeichnet. In den Herkunftsregionen sorgte die Realteilung für zersplitterten landwirtschaftlichen Besitz, der eine Familie auch bei bescheidensten Ansprüchen nicht ernähren konnte.

Realteilung

Bei der Realteilung handelt es sich um ein (historisches) Erbrecht, wonach der Grundbesitz einer Familie gleichmäßig unter den Erbberechtigten aufgeteilt wird. In der Landwirtschaft sorgt dies dafür, dass immer kleinere Parzellen entstehen, da die Landaufteilung bei jedem Erbgang stattfindet.

Seit dem 17. Jahrhundert strömten daher Jahr für Jahr Tausende Kleinbauern zur Saisonarbeit in Gebiete nördlich der Alpen. Diese brachten die Kunde mit, dass die Landwirte des Bodenseeraumes auch Kindern Arbeit bieten könnten. Vor diesem Hintergrund ist vermutlich bereits eine erste Nachricht über die weiblichen und männlichen Kinderarbeiter aus dem Vorarlberger Montafon im Jahr 1625 zu sehen. Im 18. Jahrhundert kamen die Kinderwanderungen richtig in Schwung, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Höhepunkt erreicht: Um 1800 gab es ca. 3.000 Schwabengänger_innen aus Westösterreich, Schätzungen für die Jahre um 1830 gehen von 1.800–2.000 Vorarlberger und 2.500 Tiroler Kindern aus. Zur Jahrhundertmitte dürften es neben 1.500 Kindern aus Österreich noch 700 aus Graubünden gewesen sein, um 1900 gab es immer noch 600-800 Schwabengänger_innen aus Österreich. Durch den Interner Link: Ersten Weltkrieg zum Erliegen gebracht, lebten die Wanderungen nach 1918 in bescheidenerem Umfang wieder auf, erlebten aber dann noch vor dem Interner Link: Ausbruch des Zweiten Weltkrieges das endgültige Aus; der Einsatz von minderjährigen Arbeitskräften galt zu diesem Zeitpunkt als unzeitgemäß.

Die Kinder aus Vorarlberg und dem Tiroler Außerfern hatten den kürzesten Weg ins 'Schwabenland', aber selbst sie waren ein bis zwei Tage unterwegs. Den weitesten Weg hatten Kinder aus dem Südtiroler Vinschgau vor sich. Entfernungen von bis zu 200 km mussten auf Wegen zurückgelegt werden, die mit heutigen Straßen wenig gemeinsam hatten und in einer Jahreszeit zu passieren waren, in der mit schlechten Witterungsverhältnissen zu rechnen war. Denn der Dienstantritt erfolgte in der zweiten Märzhälfte, die Rückkehr in die Herkunftsregionen Ende Oktober/Anfang November. Erst die Eröffnung der Arlbergbahn (1884) brachte eine Erleichterung.

Als Sonderform der Gesindemärkte, die am Rande eines allgemeinen Marktes entstanden waren und auf denen Männer und Frauen ihre Dienste als Knechte und Mägde anboten, entwickelten sich in den Zielregionen eigene Kindermärkte. Die dort vereinbarte Entlohnung stieg allmählich im Laufe der Jahrzehnte. Sie bestand neben der freien Unterkunft und Verpflegung aus einer Sachleistung in Form einer Einkleidung und einem geringen Geldbetrag.

Vor allem die Kinder ab zwölf Jahren mussten dafür Arbeiten erledigen, die auch erwachsenen Knechten und Mägden aufgetragen wurden. Dazu gehörte neben der Stallarbeit die Milchverarbeitung, das Entfernen der Steine auf den Wiesen, das Torfstechen, bei Mädchen (zu einem Fünftel bis einem Drittel an den Wanderungen beteiligt) die Mitarbeit in der Küche. Der Arbeitstag begann zwischen vier und sechs Uhr morgens und dauerte bis in die Abendstunden.

Obwohl in den Zielregionen eine allgemeine Schulpflicht bestand, blieben die jungen ausländischen Arbeitskräfte vom Schulbesuch ausgeschlossen. Die österreichischen Kinder besuchten zwar in der Heimat die 'Winterschule', von der sie allerdings acht Wochen versäumten. Die für drei bis vier Monate angesetzte 'Sommerschule' war aber durch generelle Abwesenheit gekennzeichnet. In den Zielregionen waren die Kinder nicht integriert; sie blieben verachtete Wanderarbeiter_innen, von denen man geduldige Einfügung erwartete. Daher schlossen sie sich zusammen und trafen sich in der spärlichen Freizeit mit Leidensgenossinnen und -genossen. Verachtet und ausgenützt entwickelte sich unter ihnen zwar einerseits ein Gruppenbewusstsein, andererseits blieb aber das Gefühl einer konstanten Fremdheit.

Der "Verein zum Wohle der Schwabenkinder und jugendlichen Arbeiter überhaupt" (gegründet 1891) bekam zumindest im Tiroler Oberland die ärgsten Auswüchse der Kinderarbeitsmigration in den Griff. Er ordnete die Meldung der Kinder, Hin- und Rückreise und den Verdienst. Unter der Führung von Pfarrer Alois Gaim, der Kontrollfahrten in die Dienstorte mit dem Fahrrad unternahm, wurden den Dienstgebern auch humanitäre Pflichten auferlegt. Für die große Mehrheit der Externer Link: Schwabenkinder kamen diese Aktivitäten aber zu spät: Über viele Jahrzehnte hatten sie einen wesentlichen Beitrag geleistet, die überholten Wirtschafts- und Sozialstrukturen ihrer Heimat zu konservieren.

Dieser Artikel ist Teil des Interner Link: Kurzdossiers "Kinder- und Jugendmigration"

Quellen / Literatur

Laferton, Siegfried: Schwabengänger. Kindheit in der Fremde. In: Fremde auf dem Land. Schriften Süddeutscher Freilichtmuseen Bd. 1, Neustadt a. d. Aisch 2000, S. 157-179.

Spiss, Roman: Tiroler und Vorarlberger "Schwabenkinder" in Württemberg, Baden und Bayern von der Frühen Neuzeit bis zum Ersten Weltkrieg. In: Klaus J. Bade et al. (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn 2008 (2. Auflage), S. 1036-1039.

Uhlig, Otto: Die Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg. Tiroler Wirtschaftsstudien 34, Innsbruck 1998 (3. Auflage).

Fussnoten

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Dr. Roman Spiss hat in Innsbruck und Klagenfurt Geschichte, Geographie und Politik studiert, arbeitet am Bundesrealgymnasium Innsbruck am Adolf-Pichler-Platz und ist Lehrbeauftragter an der Universität Innsbruck sowie der Pädagogischen Hochschule Tirol. Umfangreiche Publikations-, Ausstellungs- und Vortragstätigkeit vor allem zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Tiroler Oberlands.