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Woher kommst du? Aushandlungen der Zugehörigkeit russlanddeutscher Jugendlicher | Russlanddeutsche und andere postsozialistische Migranten | bpb.de

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Woher kommst du? Aushandlungen der Zugehörigkeit russlanddeutscher Jugendlicher

Birte Schröder

/ 6 Minuten zu lesen

Was bedeutet es für russlanddeutsche Jugendliche, wenn sie nicht selbstverständlich als Deutsche und damit fraglos als der Gemeinschaft Zugehörige wahrgenommen werden? Wie gehen sie mit solchen Erfahrungen um? Eine fallstudienbasierte Spurensuche.

Matroschka-Puppen auf dem Kölner Weihnachtsmarkt: Russlanddeutsche Jugendliche werden häufig nicht selbstverständlich als Deutsche anerkannt. Klischees und Alltagsrassismus sind verbreitet. Das hat Folgen für ihre eigenen Zugehörigkeitsbeschreibungen. (© picture-alliance, Geisler-Fotopress)

In der deutschen Migrationsgesellschaft werden im Alltag häufig durch die Unterscheidung "Wir" und "die Anderen" Trennlinien zwischen Menschen gezogen, die zum deutschen "Wir" dazugehören und solchen, die (vermeintlich) nicht oder nicht "richtig" dazugehören. Dies betrifft auch Jugendliche mit Migrationshintergrund, die in Deutschland aufgewachsen sind. Wenn sie auf die Frage "Woher kommst du?" die deutsche Stadt nennen, in der sie groß geworden sind, so lässt das Gegenüber diese Antwort oft nicht gelten, sondern fragt weiter: "Woher kommst du wirklich? Woher kommt deine Familie?". Ihre Zugehörigkeit zum deutschen "Wir" wird dadurch angezweifelt. Diese wiederholten Erfahrungen wirken sich auch darauf aus, wo die Jugendlichen sich selbst zugehörig fühlen.

Im Folgenden geht es um subjektive Erfahrungen mit Zugehörigkeitszuschreibungen russlanddeutscher Schüler_innen. Diese sollen am Beispiel von Julia und Anna dargestellt werden, die die achte Klasse in einer deutschen Großstadt besuchen. Mit Julia und Anna sowie drei weiteren Schülerinnen habe ich im Rahmen meiner Doktorarbeit ein Gruppengespräch geführt, in dem sich die Jugendlichen über Erfahrungen mit alltäglichem Rassismus und Zuschreibungen von Nicht-Zugehörigkeit in Deutschland ausgetauscht haben. Am Gespräch waren neben Julia und Anna die Schwarze Schülerin Stella beteiligt, die weiße deutsche Jugendliche Franziska sowie Amina, eine Schülerin, die einen Hidschab trägt – ein Kopftuch, welches das Gesicht freilässt. Die Schülerinnen bilden eine Freundschaftsgruppe.

Rassismus

Die Rassismusforscher Paul Mecheril und Claus Melter (2010) verstehen Rassismus als ein soziales Unterscheidungssystem, in dem Menschen als erkennbar verschieden konstruiert werden. Die Unterscheidung wird auch als Rassialisierung bezeichnet. Im Rassismus wird bestimmten sozialen Gruppen aus einer machtvollen Position heraus vermeintliche nationale, ethnische oder kulturelle "Andersheit" zugeschrieben. Damit verbunden sind Vorstellungen über die betroffenen sozialen Gruppen. Den Gruppen werden Eigenschaften und Wesensmerkmale zugeschrieben, die als wahr und zutreffend gelten. Die Unterscheidungen werden auf der zwischenmenschlichen Ebene, aber auch beispielsweise in Büchern und Medien und auf institutioneller Ebene (z.B. in Behörden oder Erlassen) wiederholt und gefestigt. Die als "Andere" betrachteten Gruppen werden abgewertet oder als hier nicht zugehörig verstanden. Dies legitimiert Ausgrenzung und Ungleichbehandlung.

Die Alltäglichkeit von Rassismus

Der Hinweis auf die Alltäglichkeit von Rassismus unterstreicht, dass Rassismus uns alle betrifft und nicht etwa nur rechtsextreme Gewalttäter_innen und ihre Opfer. Rassismus beschränkt sich in diesem Verständnis nicht auf körperliche rassistische Übergriffe, sondern schließt auch subtilere Äußerungsformen mit ein. Wir leben in einer Gesellschaft, in der unterschieden wird zwischen fraglos dazugehörigen Menschen, die sich hier legitimerweise aufhalten, und nicht selbstverständlich dazugehörigen Menschen, deren Verhältnis zum Hier oftmals infrage gestellt wird. Diese unterschiedliche Position in der Gesellschaft und die damit einhergehenden unterschiedlichen Erfahrungen betreffen uns alle.

Fußnoten

  1. Mecheril & Melter (2010), S. 150, 156 und Scharathow (2014), S. 47.

  2. Mecheril (2007), S. 6.

Deutsch sein

Sowohl für Julia als auch für Anna ist es schwierig, sich als Deutsche zu bezeichnen. Julia erläutert, dass sie mittlerweile dazu übergegangen ist, anderen gegenüber zu sagen, dass sie Russin sei, obwohl sie selbst der Meinung ist, sie sei Deutsche, da ihre Eltern Deutsche sind. Sie selbst bezieht sich in ihrer Verortung als Deutsche auf die Kategorie der Abstammungsgemeinschaft. Damit greift sie auf den ideologisierten Volksbegriff der Interner Link: (Spät-)Aussiedler_innenpolitik zurück. Dieser bezieht sich auf eine nationale Bekenntnis- und Abstammungsgemeinschaft und fußt nicht etwa auf Staatsangehörigkeit. Deutsch sind demnach alle, die (ethnisch) deutsche Vorfahren haben. Allerdings ist Julias Erfahrung, dass die Mehrheit der weißen Deutschen der Auffassung ist, dass sie – um Deutsche zu sein – auch in Deutschland hätte geboren werden müssen. Dies ist sie aber nicht. Indem sie sagt, sie sei Russin, geht sie Diskussionen aus dem Weg, in denen ihre eigene Identität infrage gestellt wird. Wenn sie sich selbst als Deutsche bezeichnet, werde das vom Gegenüber häufig nicht ohne Weiteres akzeptiert. Wie sehr sich beide Schülerinnen an den in der Mehrheitsgesellschaft verbreiteten und akzeptierten (Zugehörigkeits-)Kategorien orientieren, zeigt auch ihre Antwort auf die Frage, woher sie stammen. Beide geben an, dass sie aus Russland kämen, obwohl Julia in Kasachstan und Anna in Deutschland geboren wurde und ihre Familie ebenfalls aus Interner Link: Kasachstan stammt.

Russlandbilder

Die Schülerinnen setzen sich mit in der deutschen Gesellschaft kursierenden Vorstellungen von Russland auseinander. Mit Russland würden demnach eine vermeintliche sozio-ökonomische und technologische Rückständigkeit, eine wilde und gefährliche Natur sowie Alkohol assoziiert. Zum Beispiel gebe es die Vorstellung, "dass dort Bären auf den Straßen rumlaufen" und man "immer noch mit Kerzen" lese. Die Schülerinnengruppe kritisiert allgemein, dass das Fernsehen an die Bilder in den Köpfen der Zuschauer_innen anknüpfe und diese bediene, anstatt sie aufzubrechen und zu diversifizieren.

Die in der Mehrheitsgesellschaft vorherrschenden Vorstellungen von Russland werden für die russlanddeutschen Schülerinnen auch persönlich bedeutsam. Sie erläutern, dass auch diejenigen, die diesem Land zugeordnet würden als "rückständig" eingeordnet würden. Dies wiederum führe dazu, dass man aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werde. Anna berichtet zudem von einer Situation, in der "ein deutscher Junge" auf die Information, sie sei Russin, folgendermaßen reagiert habe: "Dann meinte er sofort, dass man bei dem Spiel Call of Duty die Russen erschießen muss und hat mich ausgelacht". Die Jugendliche wurde in dieser Situation doppelt verletzt. Der Junge macht sie zu einem Mitglied der "Opfergruppe" seiner virtuellen Freizeitbeschäftigung und verhöhnt sie dabei zugleich.

Solche Erfahrungen teilen die russlanddeutschen Schülerinnen Julia und Anna mit ihren Freundinnen Stella und Amina. Auch diese erleben im Alltag verschiedene Vorstellungen über Kollektive von Menschen (Afrikaner_innen, Muslim_innen), die dann auf die Mädchen persönlich projiziert werden.

Ausgrenzungserfahrungen

Der Hidschab von Amina und die Hautfarbe von Stella werden im Alltag meist rassialisiert und rufen eine sofortige Zuordnung als nicht-deutsch hervor. Das Kopftuch führt laut Julia dazu, dass "man sofort sieht, dass Amina einen anderen Glauben hat." Viele weiße Deutsche kämen daraufhin umgehend zu dem Schluss: "Ja, die ist nicht so wie wir, die gehört hier nicht dazu." Im Gegensatz dazu brauche es im Fall der russlanddeutschen Jugendlichen Hintergrundwissen, um sie als "anders" einzuordnen. Menschen müssten hierfür "wissen", dass sie Russinnen seien. Die russlanddeutschen Schülerinnen machen deutlich, dass ihre Ausgrenzungserfahrungen nicht mit derselben Häufigkeit und Heftigkeit einhergehen wie die ihrer Freundin Amina.

Interessant an der Freundschaftsgruppe ist, dass sie ihre ähnlichen und doch unterschiedlichen Erfahrungen in der deutschen Migrationsgesellschaft gemeinsam bearbeiten. In einer Studie von Dietrich (2009) über russlanddeutsche Jugendliche und Rassismus grenzten sich die befragten russlanddeutschen Jugendlichen dagegen von anderen Gruppen Migrationsanderer ab. Sie hoben gemäß der – im Alltag verbreiteten und für ihr eigenes Einwanderungsrecht nach Deutschland zentralen – Vorstellung, Deutsche_r sei, wer von Deutschen abstamme, ihr Deutschsein hervor. Andere Jugendliche erklärten sie demgegenüber zu "Ausländer_innen", weil diese keine deutschen Vorfahren hätten. Eine solche Rivalität untereinander um die Frage, wer Deutsche_r sein darf und wer nicht, gibt es im Gespräch der von mir betrachteten Freundschaftsgruppe nicht. Vielmehr teilen vier der Freundinnen die Erfahrung, als nicht (wirklich) zugehörig wahrgenommen zu werden, als "anders" ausgegrenzt und abgewertet zu werden. Gemeinsam mit der weißen deutschen Franziska analysieren die Schülerinnen ihre Erfahrungen und versichern sich der gegenseitigen Unterstützung. Dass vier von ihnen als nicht selbstverständlich in Deutschland zugehörig gesehen werden und Erfahrungen mit Interner Link: Alltagsrassismus machen, ist für die Freundinnen gelebte Normalität. Gleichzeitig bestärken sie sich darin, dass es nicht in Ordnung ist, dass sie diese Erfahrungen machen und tauschen sich darüber aus, was gegen Diskriminierung helfen kann. Die Freundinnen sind sich einig, dass es in der Gesellschaft ein stärkeres Bewusstsein dafür braucht, dass Interner Link: Rassismus existiert und verletzend ist. Sie appellieren an alle Mitglieder der Gesellschaft, über die eigenen Handlungen nachzudenken und diese zu überprüfen.

Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Russlanddeutsche.

Mehr zum Thema

Quellen / Literatur

Artamonova, o.v. (2016): "Ausländersein" an der Hauptschule: Interaktionale Verhandlungen von Zugehörigkeit im Unterricht. Bielefeld: Transcript.

Dietrich, K. (2009): "Die Russen mögen die Türken nicht": Zur (Re-)Produktion von Rassismen am Beispiel junger Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler. In: Scharathow, W. & Leiprecht, R. (Hrsg.). Rassismuskritik: Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit. Reihe Politik und Bildung 48. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, S. 349–365.

Mecheril, P. (2007): Die Normalität des Rassismus. – Überblick - Zeitschrift des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen 13, 2, 3–9, Externer Link: https://www.ida-nrw.de/fileadmin/user_upload/ueberblick/Ueberblick_2_07.pdf (Zugriff: 2017-11-15).

Mecheril, P. (2010): Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive. In: Mecheril, P., Castro Varela, M. d. M., Dirim, İ., Kalpaka, A. & Melter, C. (Hrsg.). Migrationspädagogik. Bachelor / Master. Weinheim, Basel: Beltz, S. 7–22.

Mecheril, P. & Hoffarth, B. (2006): Adoleszenz und Migration: Zur Bedeutung von Zugehörigkeitsordnungen. In: King, V. & Koller, H.-C. (Hrsg.). Adoleszenz — Migration — Bildung: Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 221–240.

Mecheril, P. & Melter, C. (2010): Gewöhnliche Unterscheidungen: Wege aus dem Rassismus. In: Mecheril, P., Castro Varela, M. d. M., Dirim, İ., Kalpaka, A. & Melter, C. (Hrsg.). Migrationspädagogik. Bachelor / Master. Weinheim, Basel: Beltz, S. 150–178.

Reitemeier, U. (2006): Aussiedler treffen auf Einheimische: Paradoxien der interaktiven Identitätsarbeit und Vorenthaltung der Marginalitätszuschreibung in Situationen zwischen Aussiedlern und Binnendeutschen. Tübingen: Gunter Narr Verlag.

Scharathow, W. (2014): Risiken des Widerstandes: Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen. Kultur und soziale Praxis. Bielefeld: Transcript.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mecheril & Hoffarth (2006), S. 232.

  2. Der Beitrag basiert auf der Feldforschung der Autorin im Rahmen ihrer Dissertation zum Thema "Rassismuskritische Perspektiven geographischer Bildung im Spiegel natio-ethno-kultureller Zugehörigkeitsaushandlungen von Schüler_innen". Während der Feldforschung hat sie in Schulklassen teilnehmend beobachtet und mit Jugendlichen Gruppengespräche geführt. Zu Anonymisierungszwecken wurden die Namen der Jugendlichen in diesem Artikel frei erfunden.

  3. Weiß und Schwarz bezeichnen hier keine Farben, sondern werden in der Bedeutung von politischen Kategorien verwendet. Daher werden sie kursiv gesetzt bzw. großgeschrieben. Das unterstreicht, dass die Kategorien weiß und Schwarz nicht an sich relevant sind, wohl aber gesellschaftlich mit Bedeutung aufgeladen

  4. Reitemeier (2006), S.66.

  5. Zitate aus dem von der Autorin geführten Gespräch mit den russlanddeutschen Schülerinnen.

  6. Dass die Herkunft von russlanddeutschen Jugendlichen (bzw. von Migrationsanderen allgemein) in der Schule auch bei Lehrer_innen stark im Vordergrund stehen kann, zeigt eine Studie von Artamonova (2016) auf, z.B. S. 164-165. Dort beeinflusst die (vermeintliche) Herkunft und das vermeintliche Nicht-Deutschsein der Schüler_innen die Unterrichtsgespräche derart stark, dass einige Lehrer_innen Verhalten und Aussagen von Schüler_innen ständig auf der Folie von deren vermeintlich von der "deutschen" abweichenden Kultur oder Sprache deuten.

  7. Rassialisiert meint, dass hier bestimmte Merkmale herangezogen werden, die so mit Bedeutung aufgeladen werden, dass Menschen als erkennbar "anders", "nicht-deutsch" bzw. "nicht von hier" verstanden werden (Mecheril & Melter 2010, S. 156).

  8. Der Erziehungswissenschaftler Mecheril (2010, S. 17) schlägt die Bezeichnung "Migrationsandere" vor, um anzuzeigen, dass Menschen nicht "an sich" "Ausländer_innen" oder "Migrant_innen" sind. Vielmehr soll dieser Begriff darauf hinweisen, dass die Unterscheidung von "Autochthonen" und "Menschen mit Migrationshintergrund" gesellschaftlich hergestellt wird, indem bestimmte Menschen zu "Anderen" gemacht werden.

  9. Reitemeier (2006, S. 436-438) hat eine solche Konkurrenz um den Anspruch der Zugehörigkeit zum Kollektiv der Deutschen auch innerhalb der Statusgruppe Aussiedler_innen beobachtet. Auch hier gebe es Rivalitäten um die Frage, wessen Deutschsein glaubwürdiger sei und wessen Aufenthaltsberechtigung in Deutschland damit vermeintlich höherrangiger sei.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Birte Schröder für bpb.de

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Weitere Inhalte

Birte Schröder ist Doktorandin in der Abteilung Geographie am Interdisziplinären Institut für Umwelt-, Sozial- und Humanwissenschaften der Europa-Universität Flensburg. In ihrer Dissertation setzt sie sich mit Aushandlungen von Zugehörigkeit von Schülerinnen und Schülern auseinander und entwirft davon ausgehend Perspektiven für einen rassismuskritischen Geographieunterricht.