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Unsichtbar? Polinnen und Polen in Deutschland – die zweitgrößte Zuwanderergruppe

Peter Oliver Loew

/ 6 Minuten zu lesen

Polnische Staatsangehörige gehören zu den größten Gruppen von Zuwanderern nach Deutschland. Statistisch gesehen stehen sie hinter den türkischen Staatsangehörigen an zweiter Stelle bei der Zahl in Deutschland lebender Ausländerinnen und Ausländer, aber auch bei den in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund. Vielfach wird eine relative Geschlossenheit der Gruppe vermutet, doch die Wirklichkeit sieht anders aus und ist historisch bedingt.

Ein Plakat mit einem Willkommens-Gruß an den Papst hängt 2011 vor dessen Berlin-Besuch an der St. Johannes-Basilika in Neukölln, der Kirche der polnisch-muttersprachlichen Gemeinde. (© dpa)

Geschichte der Migrationen von Polinnen und Polen

Bevölkerungen mit polnischer Muttersprache wurden in großer Zahl nach den Teilungen Interner Link: Polens zwischen 1772 und 1795 zu Einwohnern Preußens bzw. später des Interner Link: Deutschen Reichs. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten hier etwa vier Mio. Polnischsprachige, von denen bis 1914 eine halbe Million in die Industrieregionen des Westens (Ruhrgebiet) abgewandert war. Es handelte sich um die erste Massenzuwanderung nicht-deutscher Arbeitskräfte ins deutschsprachige Kernland. Zu einem erheblichen Teil passten sie sich rasch an die deutsche Mehrheitsgesellschaft an.

Ein weiterer Zuzug polnischsprachiger Menschen setzte mit den Zwangsmigrationen im Zuge des Zweiten Weltkriegs ein: Insgesamt 2,8 Mio. polnische Zwangsarbeitskräfte wurden zur Arbeit im Deutschen Reich genötigt. Zusammen mit vielen hunderttausend überlebenden polnischen Insassen der Konzentrationslager bildeten sie 1945 die Gruppe polnischer displaced persons (heimatlose Menschen). 1,7 Mio. Polinnen und Polen (und zehntausende polnischer Jüdinnen und Juden) lebten in den vier deutschen Besatzungszonen, von denen etwa 80.000 für immer blieben.

Migrationsbewegungen in der jüngeren Vergangenheit

Die größte Zuwanderung polnischsprachiger Menschen hing mit den Aussiedlermigrationen aus Polen zusammen: Zwischen 1949 und 1990 siedelten 1,4 Mio. Menschen aus Polen nach Westdeutschland aus, weil sie – oder ihre Nachkommen – sich der deutschen Nation zugehörig fühlten, 1937 innerhalb der Reichsgrenzen gelebt hatten oder unter deutscher Besatzung die Deutsche Volksliste unterschrieben hatten, wodurch sie nach dem Krieg Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft hatten. Viele jener, die seit den 1970er Jahren als Aussiedler in die Interner Link: Bundesrepublik kamen, waren in einem polnischen Umfeld groß geworden und sprachen oft gar kein Deutsch. Aufgrund der politischen Unterdrückung und schwierigen Wirtschaftslage kamen in den 1980er Jahren außerdem noch 200.000 polnische Flüchtlinge hinzu, die zum Teil Asylanträge stellten. Auf dem Höhepunkt dieser Zuwanderungsbewegung in den 1980er Jahren gelangten zahlreiche Personen als Kinder und Jugendliche nach Deutschland, die zwei Jahrzehnte später Berühmtheit erlangen sollten – Fußballer wie Miroslav Klose und Lukas Podolski, Schriftsteller wie Artur Becker, Journalisten wie Alice Bota, Musiker wie der Rapper Toony oder die Sängerin Balbina. Aber auch zuvor hatten Zuwanderer aus Polen bereits die deutsche Gesellschaft geprägt, etwa der aus einer polnisch-jüdischen Familie stammende "Literaturpapst" Interner Link: Marcel Reich-Ranicki.

Seit der Aufhebung des Visumzwangs 1990 und der schrittweisen Erleichterung der Arbeitsaufnahme in Deutschland hat die Zahl polnischer Zuwanderer ein hohes Niveau erreicht. Waren 1990 im wiedervereinigten Deutschland 241.000 Menschen mit ausschließlich polnischer Staatsangehörigkeit registriert, zählten sie Ende 2015 741.000. Zur selben Zeit – 2015 – wurden insgesamt 1,7 Mio. Menschen mit polnischem Migrationshintergrund registriert. Die Rechte der in Deutschland lebenden Polinnen und Polen sind durch den "Interner Link: deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag" von 1991 geregelt. Sie können "ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum Ausdruck bringen" und dürfen nicht "gegen ihren Willen assimiliert" werden.

Integration

Arbeitsfelder, welche die polnische Zuwanderung seit einem Vierteljahrhundert prägen, sind die Interner Link: häusliche Pflege, die Reinigungsbranche ("Putzfrauen"), die Baubranche sowie saisonal die Landwirtschaft. Daneben gibt es verstärkt eine intellektuelle Zuwanderung an Universitäten, von Ingenieuren, Informatikern und Musikern. Polnische Migrantinnen und Migranten sind im Vergleich zu anderen Zuwanderergruppen überdurchschnittlich gut in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft integriert. Hierfür spielt neben der kulturellen Nähe von Deutschen und Polen auch das Bildungsethos vieler nach Deutschland kommender Polinnen und Polen eine Rolle.

Ein weiterer Grund für die gute Integration ist, dass bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts polnischsprachige Zuwanderinnen und Zuwanderer oft bemüht waren, sich möglichst effizient in die deutsche Gesellschaft einzugliedern, sie wurden zu einer "unsichtbaren Minderheit". Nach dem EU-Beitritt Polens ließ der von deutschen Überheblichkeitsgefühlen und polnischen Komplexen mit verursachte Anpassungsdruck nach. Dies hing auch mit der symbolischen Aufwertung Polens als – zumindest bis zum Antritt Interner Link: der national-konservativen Regierung im Herbst 2015 – stabiler liberaler Demokratie mit dynamisch wachsender Wirtschaft zusammen. Während sich zuvor etwa polnische Läden oder Verkaufsstände meist an die aus den polnischen Gebieten stammende Bevölkerung richteten, wenden sich die in den 2010er Jahren immer öfter entstehenden polnischen Restaurants und Schnellimbisse, in denen zum Beispiel Pierogi (gefüllte Teigtaschen) angeboten werden, ausdrücklich an die deutsche Mehrheitsgesellschaft.

Keine homogene Gruppe

Aufgrund ihrer sehr verschiedenen sozialen Herkunft und Zuwanderungsgeschichte sowie ihrer sehr unterschiedlichen Identifikation mit der polnischen Nation bildet die polnischsprachige Bevölkerung in Deutschland keine geschlossene Gruppe, weshalb sie nur zu einem Teil als polnische Diaspora bezeichnet werden kann. Dies zeigt sich bereits an ihrem sehr geringen Organisationsgrad. Zwar gibt es einige Dachverbände polnischer Interner Link: Organisationen, deren ältester eine bis in die 1920er Jahre zurückreichende Geschichte besitzt. Diese haben jedoch nur sehr wenige Mitglieder und können keinesfalls für sich in Anspruch nehmen, die in Deutschland lebenden Polinnen und Polen in ihrer Gesamtheit zu repräsentieren. Oft ist die Situation auch deshalb komplex, weil führende Vertreterinnen und Vertreter der "polnischen Minderheit" in Deutschland als Aussiedler, also formal als Mitglieder der deutschen Minderheit in Polen, nach Deutschland gekommen sind. Daneben gibt es eine Reihe meist lokal organisierter polnischer Vereine, die sich um Polnischunterricht für Kinder und Jugendliche kümmern, sowie einige Tanz-, Kultur- und Sportvereine.

Politisches Potenzial der polnischen Diaspora

Während sich auf lokaler Ebene hin und wieder Kontakte zu anderen Zuwanderergruppen ergeben – etwa bei interkulturellen Festen oder vereinzelt in Ausländerbeiräten –, so empfinden doch viele Polinnen und Polen in Deutschland gerade die neuere Zuwanderung nach Deutschland als Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Die oft konservativen, polnisch-nationalen Vertreter der Dachverbände lassen sich gerne von der polnischen Politik einspannen: Diese nennt die Gruppe der in Deutschland lebenden Polinnen und Polen "Polonia", was eine emotionale Zugehörigkeit zur polnischen Nation hervorheben soll. Von Seiten der Warschauer Politik (vor allem von rechten Parteien) wird regelmäßig für die in Deutschland lebenden Polinnen und Polen der Status einer nationalen Minderheit gefordert – analog zu der anerkannten deutschen Minderheit in Polen. Anders als diese ist jedoch die polnische Bevölkerungsgruppe in Deutschland über das gesamte Land verstreut und in ihrer Zusammensetzung äußerst verschiedenartig. Allerdings lassen sich nur relativ wenige in Deutschland lebende Polinnen und Polen politisch vereinnahmen, was sich auch an der geringen Beteiligung bei den polnischen Wahlen zeigt. Bei den letzten Parlamentswahlen 2015 gingen in Deutschland von gut 600.000 Wahlberechtigten knapp 20.000 Personen an die Wahlurnen – sie wählten relativ gleich verteilt konservativ-rechte bzw. liberale und linke Parteien. Gründe für die geringe Wahlbeteiligung sind politisches Desinteresse, die Entfernung zu den wenigen Wahllokalen, die mühsam zu beantragende Briefwahl und auch die Tatsache, dass nicht wenige direkt an ihrem zweiten Wohnsitz in Polen gewählt haben dürften.

Einigendes Band: Katholizismus

Die einzige Organisation, die einen relativ großen Teil der polnischen Zuwanderer in Deutschland erreicht, ist die katholische Kirche, die über Jahrhunderte wichtigstes Bindeglied der polnischen Bevölkerung war und der sich auch heute noch knapp 87 Prozent aller Polinnen und Polen zugehörig fühlen. So finden heute in Deutschland unter dem Dach der "Polnischen Katholischen Mission" – die von der deutschen Bischofskonferenz unterhalten wird – in mehr als 300 Kirchen polnische Gottesdienste statt. Sie werden jeden Sonntag von knapp 100.000 Menschen besucht. Hier finden auch neue Migrantinnen und Migranten rasch Anschluss.

Fazit

Die seit knapp 150 Jahren bestehende, sehr intensive Migration von Polen nach Deutschland hat Migrationsnetzwerke und -traditionen entstehen lassen, welche die deutsch-polnischen Beziehungen prägen. Für Deutschland bedeutet diese Zuwanderung erhebliche Vorteile, da sich aufgrund der kulturellen Nähe zwischen Deutschen und Polen verhältnismäßig wenige Probleme ergeben. Für Polen ist die Bilanz ambivalent: Während auf der einen Seite durch die Auswanderung der Arbeitsmarkt entlastet wird und es erhebliche Geld- und Vermögenstransfers nach Polen gibt, gehen dem Staat auf der anderen Seite gut und Interner Link: hoch qualifizierte, flexible Arbeitskräfte verloren. Die durch die häufige Pendelmigration verursachte Trennung von Familien verursacht weitere Schwierigkeiten. Insgesamt dürften die eng verflochtenen Migrationsbeziehungen zwischen Deutschland und Polen aufgrund ihrer historischen Tradition und ihrer Vielschichtigkeit unter benachbarten Nationen in Europa einzigartig sein.

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Dr. Peter Oliver Loew ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt. Seine Arbeitsgebiete sind u.a. polnische Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts, deutsch-polnische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart, Geschichte Danzigs.