Vereinigungen, in denen sich Zuwanderer organisieren, sorgen in der öffentlichen Wahrnehmung häufig für Kontroversen. Oft wird die Bildung von ethnisch oder
In der Forschung über russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler wurde zivilgesellschaftlichen Vereinen vergleichsweise wenig Bedeutung beigemessen. Aufgrund des Mangels an statistischen Erhebungen und Befragungen gibt es bisher keine belastbaren Daten zum Gesamtniveau des zivilgesellschaftlichen Engagements von Russlanddeutschen
Wie lassen sich vor diesem Hintergrund Aussagen über gruppenspezifische Interessen von russlanddeutschen Zuwanderern machen? Inwiefern werden die unterschiedlichen Interessen dieser heterogenen Gruppe von Vereinen repräsentiert? Um diesen Fragen nachzugehen, lohnt es sich, das Spektrum an zivilgesellschaftlichen Organisationen von und für Russlanddeutsche genauer in den Blick zu nehmen.
Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland als politische Interessenvertretung
Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland ist der älteste und politisch bedeutendste bundesweit organisierte Verband, der russlanddeutsche Interessen in Deutschland vertritt. Gegründet wurde er 1950 unter dem Namen "Arbeitsgemeinschaft der Ostumsiedler" in Stuttgart. Die damaligen Gründungsmitglieder waren vor allem Deutsche aus der Schwarzmeerregion, die bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als deutsche Staatsangehörige in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen konnten. Durch die Unterzeichnung der "Externer Link: Charta der deutschen Heimatvertriebenen" schrieb sich der Verband von Beginn an in die Tradition der deutschen Vertriebenenverbände ein. Bis heute ist er unter dem Dachverband des "
Eine der wichtigsten Aktivitäten der LmDR ist in diesem Zusammenhang die Einflussnahme auf politische Entscheidungen durch Stellungnahmen, Gutachten und Politikempfehlungen. Als Ansprechpartner der Bundes- und Landesregierungen ist die LmDR regelmäßig bei Kommissionen und Beratungssitzungen vertreten, die Fragen der Aussiedler bzw. Spätaussiedler betreffen. Durch diese enge Zusammenarbeit mit politischen Entscheidungsträgern ermöglichte die LmDR bereits während des Kalten Krieges zahlreichen Russlanddeutschen und deren Familienangehörigen die Ausreise in die BRD. Die Verteidigung dieser privilegierten Einwanderung wurde insbesondere in den 1990er Jahren relevant. Die steigenden Einwandererzahlen aus der ehemaligen Sowjetunion lösten eine Debatte in der deutschen Öffentlichkeit und Politik aus, im Zuge derer der Status von Russlanddeutschen als "Deutsche" sowie die damit verbundenen sozialstaatlichen Vergünstigungen zunehmend infrage gestellt wurden. Vor diesem Hintergrund setzte sich die LmDR erfolgreich für die Berücksichtigung eines russlanddeutschen "Kriegsfolgenschicksals" in der Aufnahmeprozedur ein. Sie trug damit zu einer bis heute bestehenden Externer Link: ethnisch privilegierten Einwanderung von Russlanddeutschen aus der ehemaligen Sowjetunion bei. Trotz zahlreicher gesetzlicher Einschränkungen und Kürzungen wurde die gänzliche Abschaffung der Aussiedlergesetzgebung letztlich verhindert.
Ein weiteres Anliegen des Verbands ist die Vermittlung eines positiven Bildes von Russlanddeutschen in der deutschen Öffentlichkeit. Auch diese Zielsetzung ist auf die 1990er Jahre zurückzuführen, als Russlanddeutsche durch negative Berichterstattung in den Medien zunehmend als Belastung für die Sozialsysteme und als kriminelle Ausländer stigmatisiert wurden. Um diesen Negativbildern entgegenzuwirken, macht die LmDR in ihren Publikationen und Veranstaltungen auf positive Beispiele der erfolgreichen Integration von Russlanddeutschen aufmerksam. Durch Publikationen und Gedenkveranstaltungen verweist der Verband immer wieder auf die leidvolle Geschichte der Russlanddeutschen in der Sowjetunion und untermauert damit deren deutsche Herkunft und Zugehörigkeit. Auf der Grundlage dieses Selbstverständnisses definiert die LmDR Russlanddeutsche trotz ihres Migrationshintergrunds nicht als Einwanderer, sondern als Teil der deutschen Mehrheitsgesellschaft. In ihren Stellungnahmen grenzt die LmDR Russlanddeutsche somit deutlich von Zuwanderern nichtdeutscher Herkunft ab.
Neben dieser politischen Funktion versteht sich die LmDR auch als Hilfsorganisation und Kulturverein. Soziale und kulturelle Aktivitäten finden vor allem in den über 150 Landes-, Kreis- und Ortsgruppen statt, in die sich der Verband auf regionaler Ebene untergliedert. Die sozialen Angebote der LmDR umfassen beispielsweise rechtliche Beratung für Russlanddeutsche, deren Verwandte nach Deutschland ausreisen möchten, oder die selbst neu nach Deutschland eingewandert sind. Im Bereich der kulturellen Angebote organisiert der Verband zahlreiche Veranstaltungen wie beispielsweise Ausstellungen, Literaturlesungen, Vorträge, Seminare, Theaterstücke, Feste und Gedenktage. Ziel dieser kulturellen Aktivitäten ist die Bewahrung und Pflege eines "russlanddeutschen Kulturguts" sowie der Erinnerung an die Geschichte der Russlanddeutschen in den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten. In einigen Landes- und Ortsverbänden gibt es außerdem eine aktive Jugendarbeit, in der russlanddeutsche Kinder und Jugendliche durch Angebote wie Sport, Musik oder Tanz in die Aktivitäten der LmDR eingebunden werden. Seine Vereins- und Projektarbeit finanziert der Verband sowohl durch Beiträge und Spenden seiner Mitglieder als auch durch Bundeszuwendungen, die er über den Bund der Vertriebenen erhält.
Trotz der politischen Sichtbarkeit der LmDR als Repräsentant russlanddeutscher Interessen ist insgesamt nur ein kleiner Teil der in Deutschland lebenden Russlanddeutschen in der LmDR engagiert.
Diversifizierung russischsprachiger Hilfsorganisationen und Kulturangebote ab den 1990er Jahren
Im Zuge der ansteigenden russlanddeutschen Zuwanderung nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden in den 1990er Jahren neben den landsmannschaftlichen Strukturen zahlreiche neue russischsprachige Initiativen und Organisationen. Der rasante Anstieg an russischsprachig sozialisierten Einwanderern bei gleichzeitiger Kürzung staatlicher Integrationshilfen führte zu einer sprunghaften Zunahme des Bedarfs an Unterstützung und Beratung für die Neuankömmlinge, der durch die landsmannschaftlichen Strukturen nur unzureichend abgedeckt werden konnte. Diese Betreuungs- und Beratungsfunktion wurde vor allem von kirchlichen und karitativen Verbänden übernommen, die auch schon während des Kalten Krieges in diesem Bereich aktiv gewesen waren. Beispielsweise wurden bei der Caritas oder dem Deutschen Roten Kreuz russischsprachige Beratungsstellen eingerichtet. Darüber hinaus wurden in vielen Städten und Gemeinden auch Selbsthilfeorganisationen von ehrenamtlichen russischsprachigen Helfern ins Leben gerufen. Hauptaufgabe dieser Strukturen war es zunächst, die Neuankömmlinge zum Beispiel beim Ausfüllen und Übersetzen von Formularen, bei Behördengängen und in Alltagsfragen zu unterstützen und zu begleiten. Einige dieser Initiativen entwickelten sich mit der Zeit zu Vereinen mit einer größeren Bandbreite an Aktivitäten. Viele Vereine bieten mittlerweile Deutschkurse, berufliche Weiterbildungsseminare sowie sportliche und kulturelle Freizeitaktivitäten für Kinder und Jugendliche an.
Durch die Entstehung dieser neuen Strukturen ist das Spektrum an Angeboten, die sich an Russlanddeutsche richten, seit den 1990er Jahren wesentlich heterogener geworden. Diese Heterogenität und manchmal auch Widersprüchlichkeit zwischen unterschiedlichen Einwandererinteressen lässt sich auch anhand der vielfältigen Bezeichnungen und Namensgebungen der Vereine feststellen (siehe Tabelle 1). Einige, wie beispielsweise der "Hamburger Verein der Deutschen aus Russland" oder der "Verein zur Integration von russlanddeutschen Aussiedlern (VIRA e.V.)" in Düsseldorf, weisen durch ihre Bezeichnung weiterhin auf die russlanddeutsche Herkunft ihrer Mitglieder hin. Ihr Kulturangebot hat einen engen Bezug zur russlanddeutschen Geschichte und bleibt damit weitgehend an die Programmatik der LmDR geknüpft. Andere Vereine, wie beispielsweise der "Club Dialog e.V." oder das "Integrationszentrum Harmonie e.V." in Berlin, betonen durch ihren Namen sowie ihre programmatische Zielsetzung, dass sie sich an Migrant_innen verschiedener Herkunft wenden. Diese Ausrichtung als Migrantenorganisationen ergibt sich nicht zuletzt aus den Förderstrukturen durch Bund, Länder und Gemeinden: Seit den 2000er Jahren werden vor allem solche Projekte gefördert, die sich an Personen mit Migrationshintergrund richten. Um diese Förderungen zu erhalten, positionieren sich einige Vereine somit als "Integrationsvereine" oder "Begegnungszentren" und nähern sich damit dem Angebot anderer Migrantenorganisationen an. Darüber hinaus sind in vielen Städten und Gemeinden in den letzten Jahrzehnten auch Kulturangebote entstanden, die ein russischsprachiges, sowjetisch sozialisiertes Publikum ansprechen. Diese beinhalten zum Beispiel Chöre, Folkloregruppen, Festivals und Konzerte. Einige dieser Veranstaltungen, wie beispielsweise die jährlich stattfindenden "deutsch-russischen Festtage" in Berlin-Karlshorst, werden teilweise auch durch staatliche und private Förderer aus Russland finanziert. Durch ihr Angebot in russischer Sprache und ihren Bezug zu russischen bzw. sowjetischen Kulturelementen vermitteln sie eine Zugehörigkeit zu einer transnationalen russischsprachigen Gemeinschaft. Die Vielfalt dieser russischsprachigen Angebote deutet auf ein weitreichendes Interesse vieler in Deutschland lebender Russischsprachiger hin, eine Verbindung zur russischen Sprache und damit verbundenen Kulturelementen aufrechtzuerhalten und diese an die nächste Generation weiterzugeben. Dies wird durch Angebote wie zum Beispiel bilinguale Kindertagesstätten oder Samstagsunterricht in russischer Sprache und Landeskunde ermöglicht. Die damit verbundenen Vereinsstrukturen betonen durch Namensgebungen wie "Bundesverband russischsprachiger Eltern" oder "Verband der russischsprachigen Jugend", dass sie sich an alle Russischsprachigen, unabhängig der ethnischen Herkunft oder Staatsangehörigkeit wenden. Das Bild einer grenzüberschreitenden russischsprachigen Diaspora, das dadurch vermittelt wird, steht in starkem Gegensatz zum deutsch ausgerichteten Identitätsdiskurs und Kulturangebot der LmDR.
Vielfalt an Interessen und Zugehörigkeiten
Aus den diversen politischen, sozialen und kulturellen Angeboten für (Spät-)Aussiedler ergeben sich somit sehr unterschiedliche Definitionen des "Russlanddeutschseins", die mitunter im Widerspruch zueinander stehen: Definiert man russlanddeutsche Verbände im engeren Sinne als Organisationen, die die Interessen "der Russlanddeutschen" als Gruppe vertreten, so entsteht zunächst ein scheinbar einheitliches Bild. Tatsächlich ist die LmDR der einzige politisch sichtbare und einflussreiche Verband, der Russlanddeutsche auf der Basis ihrer deutschen Herkunft und Geschichte als eigene Gruppe repräsentiert. Erweitert man jedoch diesen Blickwinkel, zeigt sich, dass viele russischsprachige Vereine eine alternative Gruppendefinition vermitteln, die Russlanddeutsche als Teil einer russischsprachigen Einwanderergemeinschaft oder einer transnationalen russischen
Von einem eindeutig definierbaren russlanddeutschen Verbandswesen mit gruppenspezifischen Interessen lässt sich daher nur begrenzt sprechen. Vielmehr macht der Überblick über das breite Spektrum an Vereinen und Verbänden deutlich, wie heterogen und vielschichtig die Interessen und Zugehörigkeiten russlanddeutscher (Spät-)Aussiedler sind.