Fragen von politischer Partizipation und politischen Einstellungen russlanddeutscher Spätaussiedler in der Bundesrepublik Deutschland haben seit den Vorgängen rund um den "Fall Lisa" – die angebliche Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens in Berlin durch "Flüchtlinge" im Januar 2016 – an Relevanz gewonnen. Gut 10.000 Russlanddeutsche demonstrierten damals bundesweit gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und u.a. für den "Erhalt deutscher Kultur". Seitdem wird öffentlich immer wieder die Frage diskutiert, inwieweit diese Bevölkerungsgruppe rechtsnationalem Gedankengut und speziell der seit der "Flüchtlingskrise" an Popularität gewinnenden Alternative für Deutschland (AfD) zugeneigt ist – zumal die AfD bereits zuvor Versuche unternahm, Russlanddeutsche gezielt in russischer Sprache zu umwerben.
Jenseits dieser auf vermeintliche politische Rechtslastigkeit verengten Perspektive des öffentlichen Diskurses soll hier die Partizipation russlanddeutscher Spätaussiedler an der bundesdeutschen Politik in einem breiteren Kontext thematisiert werden. In diesem Zusammenhang interessieren aktives politisches Engagement genauso wie politische Einstellungen, Wahlverhalten und Parteipräferenzen. Weiterhin kann zwischen "konventionellen" (z.B. wählen, kandidieren) und "unkonventionellen" (z.B. demonstrieren, politische Online-Beteiligung) Partizipationsformen unterschieden werden. (Für das Thema der gesellschaftlichen Partizipation in Vereinen und Verbänden siehe den Beitrag von Gesine Wallem.) Die Frage nach der Partizipation von Spätaussiedlern an Parteipolitik und Wahlen ist dabei besonders relevant. Im Unterschied zu anderen Migranten in der Bundesrepublik Deutschland genießen sie als deutsche Staatsbürger seit der Einreise aktives und passives Wahlrecht.
Aktives Engagement
Bezüglich des aktiven Engagements von russlanddeutschen Spätaussiedlern in der Parteipolitik liegen keine systematischen Erkenntnisse vor. Politische Sichtbarkeit erlangte der erste Bundestagesabgeordnete russlanddeutscher Herkunft, Heinrich Zertik, der 2013 für die CDU in den Bundestag gewählt wurde und dem 2015 gegründeten "Netzwerk Aussiedler" der Partei vorsteht. Auch auf kommunaler Ebene sind Vernetzungsbemühungen zu beobachten. In Berlin etwa wurden zwei russlanddeutsche PolitikerInnen in Bezirksversammlungen gewählt. In Niedersachsen finden sich ebenfalls vereinzelt russlanddeutsche Politiker in kommunalen Vertretungen. In Bremen ist Valetina Tuchel (SPD) Mitglied der Bürgerschaft. In Au am Rhein (Baden-Württemberg) wurde im April 2017 mit der parteilosen Veronika Laukart eine Russlanddeutsche zur Bürgermeisterin gewählt.
Trotz dieser Fälle von kommunal- oder sogar bundespolitischem Engagement ist eindeutig, dass die Präsenz von Spätaussiedlern in Parteien, Gremien und Parlamenten gering ausgeprägt ist. Dies ist für eine Migrantengruppe, die in ihrer Masse erst seit relativ kurzer Zeit in Deutschland lebt, an sich nicht ungewöhnlich. Angesichts ihrer als deutsche Staatsbürger im Vergleich zu anderen Migranten besseren Partizipationsmöglichkeiten ist dies aber erklärungsbedürftig. Das in der Vergangenheit oft angeführte Erklärungsmuster, dass die geringe politische Partizipation v.a. mit der Prägung durch das nicht-demokratische Sowjetsystem zu tun habe, trägt nicht weit. Dieselbe sowjetische Prägung verhinderte beispielsweise nicht das prominente politische Engagement russischer Juden in Israel bereits kurz nach ihrer Einwanderung.
Vielmehr erscheint ein Erklärungsansatz plausibel, der auf die politischen Gelegenheitsstrukturen der Bundesrepublik verweist : Parteipolitisches Engagement hat mit bestimmten sozialen Ressourcen und Netzwerken zu tun, die bei "Migranten" generell weniger ausgeprägt sind als bei "Einheimischen". Das politische Engagement auf einer "ethnischen" Plattform (also explizit als Angehörige einer besonderen Gruppe, beispielsweise als Russlanddeutsche bzw. als Spätaussiedler) kann hier einen "Nebeneingang" in die Politik eröffnen. Dies war in der Bundesrepublik der 1990er Jahre mit ihrer ausgeprägten gesellschaftlichen Dichotomie zwischen "Deutschen" und "Ausländern" aber nicht opportun für die deutschen Spätaussiedler, da sie sich durch die Betonung der eigenen Gruppenzugehörigkeit gleichsam von der angestrebten Integration als "Deutsche" entfernt hätten.
Auf die Gegenwart übertragen könnte man im Lichte dieses Arguments das punktuell zu beobachtende explizite Engagement als Spätaussiedler als einen Effekt der pluralisierten Migrationsgesellschaft seit den 2000er Jahren interpretieren. In ihr sind auch hybride Identitäten und Positionierungen möglich, ohne sich damit aus der Gemeinschaft "der Deutschen" auszuschließen. Zugleich erfasst aber diese Form des Engagements augenscheinlich nur einen geringen Teil der Russlanddeutschen. Mit fortschreitender Integration in lokale Gemeinschaften ist auch ein stärkeres allgemeines parteipolitisches Engagement denkbar. In jedem Fall ist der Faktor Zeit hier von hoher Relevanz.
Wahlverhalten, Parteipräferenzen, politische Einstellungen
Bedingt durch ihre vermeintlich konservativen Grundhaltungen wie auch ihre Dankbarkeit gegenüber der Regierung von Helmut Kohl für die Ermöglichung der Aussiedlung galten Russlanddeutsche in den 1990er Jahren als CDU-Stammwähler. Neuere Forschungen legen hingegen ein differenzierteres Bild nahe. So zeigte eine 2016 erschienene Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) zu den Externer Link: Parteipräferenzen von Zuwanderern, dass Spätaussiedler (nicht ausschließlich Russlanddeutsche) eine relativ ähnliche Streuung durch das politische Spektrum aufweisen, wie die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund.