Migranten in der Welt und in Westafrika
2013 wurde die Zahl der Migranten weltweit auf 230 Millionen geschätzt, was ca. drei Prozent der Weltbevölkerung entsprach. Die Europäische Union hat zwar mit einem Ausbau ihrer extraterritorialen Migrationspolitik seit dem Jahr 2000 versucht, die Wanderungsbewegungen aus dem globalen Süden nach Europa zu begrenzen. Es ist ihr aber dennoch nicht gelungen, den Umfang der Migrationsbewegungen zu reduzieren. Allerdings sind parallel zur Süd-Nord-Mobilität die Süd-Süd-Bewegungen wesentlich umfangreicher geworden: 2000 bis 2013 stellten sie 57 Prozent der gesamten Wanderungsbewegungen dar.
Die Migration erfolgt dabei nicht grundsätzlich als Reaktion auf Missstände. Stattdessen existiert in Westafrika eine beträchtliche Bandbreite an Formen transnationaler, d.h. staatsgrenzenüberschreitender Mobilität, die nicht notwendigerweise den globalen Norden als Migrationsziel hat.
Zirkuläre Migration in Westafrika
In Westafrika suchen Viehhalter nach Weideland und Wasser (sogenannten pastoralen Ressourcen), das sie saisonbedingt in verschiedenen ökologischen Zonen finden. Da in dieser Klimazone (Sahel und Westafrika) eine Familie oft nicht nur von einer Einkommensquelle leben kann, sind saisonale Migrationsbewegungen notwendig, um mit unterschiedlichen ökonomischen Aktivitäten – z.B. Tierhaltung auf Naturweiden, Feldbau, urbane Berufsfelder wie Handel und Dienstleistungen – den Lebensunterhalt der Familie zu sichern.
Der Alltag vieler Westafrikaner basiert also auf einer Strategie zur Existenzsicherung, die Sesshaftigkeit und Mobilität verbindet. Je nach Möglichkeit sind die Menschen mehr oder weniger regelmäßig mobil, auf mehr oder weniger langen Wegen und für mehr oder weniger lange Zeit unterwegs. Mobilität, bzw. die Bereitschaft und Befähigung zur mobilen Ressourcennutzung, ebenso wie saisonale Migration ist für den gesamten Sahara-Sahel-Raum prägend. Sie wird als wesentliches Charakteristikum der Region betrachtet, und als "condition sahélienne"
Die Zirkulation der Menschen wird dadurch erleichtert, dass Familien und ethnische Gruppen transregionale und grenzüberschreitende Handelsnetzwerke und/oder religiöse Netzwerke ausbilden. Somit tragen die Migrationsnetzwerke zur wirtschaftlichen Entwicklung der Migranten und ihrer Herkunftsgruppen und -regionen bei. Frauen sind an saisonaler Migration zur Ressourcennutzung
Die Mobilität in Westafrika hat eine lange Tradition. So ist beispielsweise der Handel seit der Zeit des Karawanenhandels (vom 8. Jahrhundert bis ca. 1930) mobil organisiert: Erträge aus dem Verkauf von Waren an einem Ort werden wieder in neue Produkte investiert, die an anderen Orte weiterverkauft werden. Die Händler versuchen, ihren Ertrag für eine Ware an einem bestimmten Ort zu maximieren und nehmen dafür in Kauf, Monate lang weit weg von Zuhause zu arbeiten. Einige sind Berufshändler, andere saisonale Händler, die mit der Handelstätigkeit andere Erwerbsaktivitäten ergänzen.
Aus der Vielfältigkeit der Aktivitäten und Verdienstmöglichkeiten, bedingt nicht zuletzt durch die unterschiedliche Handels-, Lohn- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten der
Die neuen Mobilitätsstrategien und -wege sind z.T. mit tradierten Formen vergleichbar bzw. haben sich aus diesen entwickelt. Die heutigen Migranten im Sahara-Sahel-Raum befinden sich somit in einem komplexen System von Wanderungsbewegungen, in einem durch unterschiedlichen Ressourcenzugang definierten Raum, in welchem sie zirkulieren, um ihre Chance, sozial und finanziell aufzusteigen, zu optimieren. Daher ist der Begriff der "zirkulären Migration" gut geeignet, um die Mobilität in Westafrika zu beschreiben.
Innovative Verknüpfungen innerhalb der globalen Bewegungen
Die Mobilität in Westafrika ist in globale Bewegungen eingebunden. Die ökologische Entwicklung und wachsende Einflüsse der Globalisierung haben die sozio-ökonomische Notwendigkeit von Mobilität verstärkt und gleichzeitig deren technisch-praktische Bedingungen in vieler Hinsicht verbessert. Seit Generationen nehmen afrikanische Händler an dieser Form der Mobilität teil. Ihre Geschäfts- und Handelsnetzwerke, die früher überwiegend auf den afrikanischen Raum beschränkt waren, spannen sich heute weltweit zwischen verschiedenen internationalen Handels-Drehscheiben, wie etwa Istanbul, Dschidda, Dubai, Bangkok, Hongkong oder Guangzhou auf. Importe werden per Container getätigt bzw. auch per DHL oder sogar als Begleitgepäck. Junge Leute, Praktikanten oder Auszubildende, begleiten die Händler und werden somit in einschlägige internationale Netzwerke und bei internationalen Partnern eingeführt. Geld wird auf einfachem Wege mit Western Union, per Internet oder Smartphone – auch ohne Kontozugang – an alle Ecken der Welt transferiert. Informelle Praktiken werden an formelle nationale und internationale Regelungen angepasst.
Diese Mobilität stellt eine kreative Wahrnehmung der Chancen der Globalisierung dar. Sie ist ein Mittel, um vielversprechende Geschäftsmöglichkeiten zu ergreifen und um einer eigenen Geschäfts- und Expansionslogik zu folgen. Durch ihre transnationale Mobilität und Fähigkeit zur kreativen Adaptation fungieren die innerafrikanischen bzw. internationalen afrikanischen Unternehmer und Händler als ideale "Vermittler" (translators) von Produkten, Technologien und Ideen zwischen den Gesellschaften. Die globale Mobilität ist für sie Mittel geworden, um ihre eigenen Vorstellungen von Moderne auf ihrem eigenen Weg zu erreichen und entzieht sich so einer meist mit "Elend" konnotierten Begrifflichkeit von Migration aus dem globalen Süden nach Europa.
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers