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Lager auf der Schlotwiese – Zwang, Rückführung, Integration | Flüchtlingslager | bpb.de

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Lager auf der Schlotwiese – Zwang, Rückführung, Integration

Dr. Mathias Beer

/ 5 Minuten zu lesen

Zwang, Rückführung, Integration – während der 25 Jahre seines Bestehens erfüllte das Lager auf der Schlotwiese im Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen unterschiedliche Funktionen. Obwohl immer wieder seine Schließung gefordert wurde, bestand das Lager bis 1967 fort – ein geschichtsträchtiger Ort, der vielen unterschiedlichen Gruppen von Zwangsmigranten über Jahrzehnte hinweg eine notdürftige Unterkunft in der Bundesrepublik bot.

Alltag in einem Gemeinschaftsraum im Flüchtlingslager auf der Schlotwiese. (© Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Sammlung Weishaupt)

Lager und ihre Vorgeschichte

Zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde auf Beschluss der Bundesregierung die erste und einzige statistische Erhebung zu den in Deutschland bestehenden kriegsbedingten Lagern und ihren Insassen durchgeführt. Demnach gab es zum Stichtag 30. Juni 1955 im Bundesgebiet 3.008 Lager (Auswandererlager, Behelfswohnlager, Durchgangslager, Grenzdurchgangslager, Massenlager, Notaufnahmelager, Notunterkünfte Ost, Rückführungslager, Umsiedlungslager, Wohnlager). Darin und insbesondere in den rund 1.900 Wohnlagern lebten mehr als eine halbe Million Menschen, viele von ihnen seit 1947 und früher. Diese Lagerstatistik bietet zwar einerseits eine klare Momentaufnahme für eine der Folgen von millionenfacher Flucht und Ausweisung der deutschen Bevölkerung aus Ostmitteleuropa während und am Ende des Interner Link: Zweiten Weltkriegs. Der "homo barackensis", so eine der Bezeichnungen für die Lagerbewohner, gehörte zum deutschen Nachkriegsalltag. Er war ein sichtbares Zeichen für die die Bundesrepublik über Jahrzehnte prägende Flüchtlingsfrage. Erst Anfang der 1970er Jahre wurden die letzten "Rest-Wohnlager" geräumt. Andererseits aber vernebelt die Lagerstatistik den Blick auf die Geschichte der Lager der Bundesrepublik und zwar in doppelter Weise: Mit dem Stichtag der Erhebung erfasste sie nur die Geschichte dieser Lager nach 1945. Die in vielen Fällen weit zurückreichende "Vorgeschichte" dieser Lager kam dadurch gar nicht in den Blick. Darüber hinaus erfasste die Erhebung keineswegs alle Lager, weil die meldenden Behörden viele Lager in ihrem Zuständigkeitsbereich bereits geschlossen sehen wollten. Beide Aspekte verdeutlicht das auf der Schlotwiese, im Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen gelegene Lager. Es ist in die Lagerstatistik von 1955 nicht eingegangen und bestand insgesamt ein Vierteljahrhundert, von 1942 bis 1967. Damit steht es für die Geschichte vieler weiterer Lager der deutschen Nachkriegszeit.

Die Schlotwiese – vom Erholungsort zur Lagerstätte

Auf dem Gebiet der Stadt Stuttgart wurden während des Zweiten Weltkriegs von Firmen und der Stadtverwaltung unterschiedliche Arten von Lagern eingerichtet und betrieben – für Rückkehrer, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Das Lager auf der Schlotwiese zählte zu den größten dieser Einrichtungen. Es wurde ganz bewusst versteckt auf einer Waldlichtung, die ursprünglich als Sport- und Erholungsgebiet diente, errichtet. Vor allem die in den nahe gelegenen Firmen beschäftigten Zwangsarbeiter, Interner Link: Ost- und Westarbeiter, sowie Kriegsgefangenen wurden in den Reichsarbeitsdienstbaracken untergebracht. Das erste Lager entstand 1942. Als Barackenlager besaß es einen provisorischen Charakter und sollte "längstens auf Kriegsdauer" bestehen. Ein Jahr später errichtete die Stadt Stuttgart östlich davon ein weiteres Lager. Wegen der dürftigen Überlieferungslage kann die Zahl der in den Lagern untergebrachten Zwangsarbeiter nur geschätzt werden. Sie lag bei 1.500 bis 2.000 Personen. Als Verwaltungsgebäude diente der einzige vorhandene Steinbau – ein 1929 von der Deutschen Jugendkraft errichtetes Klubhaus, seit 1936 Heim der Hitlerjugend. Das Verwaltungsgebäude war auch die Adresse, von der aus einige der Lagerinsassen, vorwiegend polnische Staatsbürger, wegen nicht näher bekannten Vergehen ins nordöstlich von Stuttgart gelegene Konzentrationslager Welzheim überführt und dort hingerichtet wurden.

Von den zahlreichen alliierten Luftangriffen auf Stuttgart waren auch die beiden Lager auf der Schlotwiese betroffen. Dabei kamen mehrere Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene ums Leben. Ein Teil der Baracken wurde zerstört. Bei Kriegsende wurden die verbliebenen Lagerinsassen befreit und konnten in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Doch damit endete die Geschichte der Lager auf der Schlotwiese nicht.

Die langjährige Belegung durch Displaced Persons

Das Russische Büro in Stuttgart beschlagnahmte die verbliebenen baufälligen Baracken. Als Verbindungsstelle der sowjetischen Besatzungsmacht richtete es dort ein Rückkehrerlager für ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter ein. Dieses Lager war eine der vielen Anlaufstellen, von der aus die Interner Link: Displaced Persons (DPs), zunächst auch gegen ihren Willen, wie alle anderen Zwangsverschleppten, in ihr Heimatland zurückgebracht werden sollten. In den ersten Monaten nach Kriegsende wies das "Lager für russische Rückwanderer Schlotwiese" zeitweilig eine Belegung von 3.000 Personen auf. Am 10. August 1945 war die "Barackenstadt auf der Schlotwiese" allerdings bereits geräumt. Die Bezirksverwaltung Zuffenhausen strebte eine komplette Räumung des Geländes an, um es wieder der örtlichen Bevölkerung als Sport- und Freizeitstätte zur Verfügung zu stellen.

Dem geplanten Abriss kamen die amerikanischen Militärbehörden zuvor. Sie beschlagnahmten das Lager, unterstellten es der "United Nations Relief and Rehabilitation Administration" (UNRRA) und brachten dort vom 13. August 1945 an Volksdeutsche aus dem ungarisch-rumänisch-serbisch-kroatischen Grenzgebiet unter. Diese waren von NS-Reichsstellen im Oktober 1944 vor den herannahenden sowjetischen Truppen ins Reich evakuiert worden oder sie waren geflohen. Bei Kriegsende erhielten sie den DP-Status, konnten aber nicht heimkehren, weil ihnen die jugoslawischen Behörden wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit die Rückkehr in ihre Heimatorte verweigerten.

Mit dem Einweisen der volksdeutschen DPs auf die Schlotwiese begann eine weitere, sich über mehr als zwei Jahrzehnte hinziehende Etappe der Lagergeschichte. In deren Verlauf änderte sich der rechtliche Status der Lagerbewohner mehrfach, weil sie niemand in seiner Zuständigkeit haben wollte. Der vorteilhafte, mit der Rückkehroption in die Heimat verbundene DP-Status wurde ihnen von den Militärbehörden schon im Dezember 1945 mit der Begründung aberkannt, sie seien keine Zwangsverschleppten. Die Stadt Stuttgart, für die das Lager "ein Pfahl im Fleisch der Stadt" war, beharrte darauf, den Status der Lagerbewohner zu klären. Sie verband damit die Hoffnung, sich nicht um das Lager und seine Bewohner kümmern zu müssen. In der Folge wurden die Lagerbewohner zunächst als Staatenlose, dann als den Deutschen gleichgestellte Ausländer und schließlich als Vertriebene eingestuft und verblieben somit schließlich doch in der Zuständigkeit der Stadt.

Das Lager als Heimat auf Zeit

Während dieser Zeit als Außenseiter abgestempelt, entstand durch die Selbstorganisationsinitiative der Bewohner eine "hölzerne Barackenstadt" auf der Schlotwiese. Deren Bevölkerung wuchs durch weiteren Zuzug auf zeitweilig bis zu 1.600 Bewohner an. Die Lagergemeinde verfügte über eine eigene Verwaltung. Es entstanden mehrere Betriebe, darunter auch eine Gaststätte. Ein Kindergarten, eine Schule und ein Kirchenraum mit geweihter Glocke wurden eingerichtet. Mehrere Vereine wurden gegründet, darunter mit dem F.C. Batschka ein erfolgreicher Fußballklub. Mit seinen Siegen gegen alteingesessene Mannschaften trug er wesentlich zum Selbstbewusstsein der Schlotwieser bei.

So gelang es vielen der Lagerbewohner sich trotz der schlechten Lebensbedingungen auf der Schlotwiese eine "Heimat auf Zeit", eine zweite Heimat - wie sie das Lager nannten - aufzubauen. In seiner Abgeschiedenheit bot das Lager den Bewohnern die notwendige "Nestwärme". Das Lager war der erforderliche Rückzugsraum, in dem man ungestört auf Vertrautes zurückgreifen konnte. Es bildete letztendlich die Schleuse, die, als die Rückkehrhoffnungen den politischen Realitäten wichen, den Übergang in die neue bundesdeutsche Gesellschaft erleichterte.

Vom Lager zur Siedlung – die Schlotwiese und ihre Nachgeschichte

1948 gründeten die Schlotwieser, wie sie sich selbst nannten und damit ihre Verbundenheit mit dem Lager ausdrückten, im Lager die Baugenossenschaft "Neues Heim". Sie legte mit dem im Dezember 1949 eingeweihten ersten Wohnblock den Grundstein für die neue Siedlung Stuttgart-Rot in Sichtweite des Lagers. In den neuen, 1960 mehr als 10.000 Einwohner zählenden Stadtteil zogen nach und nach auch die meisten Bewohner des Lagers um. Die Baracken wurden nach jedem Auszug abgerissen. Stuttgart-Rot wurde den Lagerbewohnern zur dritten und endgültigen Heimat, wie viele berichteten. Hier wurde aus dem F.C. Batschka der bis heute bestehende S.V. Rot. Doch es sollte noch bis 1967 dauern, bis mit dem Abbruch des einzigen Steinbaus die letzten Bewohner auszogen und das Lager sein Ende fand.

Heute erinnert vor Ort nichts mehr an die Lager. Die öffentliche Erinnerung scheint diese Geschichte der Schlotwiese auszublenden. Die Schlotwiese ist wieder Sport- und Freizeitgelände.

Zum Thema

Interner Link: Lager nach 1945
Interner Link: Flucht und Vertreibung

Quellen / Literatur

Beer, Mathias/Lutum-Lenger, Paula (Hg.): Fremde Heimat. Das Lager Schlotwiese nach 1945. Stuttgart, Tübingen 1995.

Beer, Mathias: Selbstbild und Fremdbild als Faktoren bei der Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945. In: Schraut, Sylvia/Grosser Thomas (Hg.): Die Flüchtlingsfrage in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Mannheim 1996, S. 31-53.

Beer, Mathias: Lager als Lebensform in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Zur Neubewertung der Funktion der Flüchtlingswohnlager im Eingliederungsprozeß. In: Motte, Jan u. a. (Hg.): 50 Jahr Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte. Frankfurt am Main, New York 1999, S. 56-75.

Beer, Mathias: Die deutsche Nachkriegsgeschichte als Lagergeschichte. Zur Funktion von Flüchtlingslagern im Prozess der Eingliederung. In: Bispinck, Henrik/Hochmuth, Katharina (Hg.): Flüchtlingslager im Nachkriegsdeutschland. Migration, Politik, Erinnerung. Berlin 2014, S. 47-71.

Gühring, Albrecht (Hg.): Zuffenhausen. Dorf, Stadt, Stadtbezirk. Stuttgart 2004.

Müller, Roland: Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus. Stuttgart 1988.

Statistisches Bundesamt (Hg.): Die kriegsbedingten Lager und ihre Insassen im Jahre 1955. Wiesbaden 1957.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Mathias Beer, Zeithistoriker und Migrationsforscher mit zahlreichen einschlägigen Publikationen, ist seit 2007 Geschäftsführer und stellvertretender Leiter des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde sowie Lehrbeauftragter in der Abteilung Geschichtswissenschaft der Universität Tübingen.