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Das Notaufnahmelager Marienfelde in Berlin: ein historischer und aktueller Ort der Migration

Bettina Effner

/ 5 Minuten zu lesen

Flüchtlinge aus der DDR und Ost-Berlin, (Spät-)Aussiedler, Geflüchtete aus Syrien und anderen Teilen der Welt – das Notaufnahmelager Marienfelde in Berlin ist Zeuge historischer und aktueller Migrationsbewegungen nach Deutschland.

Ein Richtfest in Berlin-Marienfelde, Notaufnahmelager für DDR-Flüchtlinge am 18.11.1952. (© picture-alliance/akg, Gert Schütz)

Am 30. Juli 1952 wurde auf einer Baustelle in West-Berlin mit dem Grundstein eine Urkunde eingemauert. "Berlin und die Bundesregierung", hieß es dort, "erbauen diese Siedlung als ersten Sammelpunkt und Durchgangslager für die aus der Zone der Unfreiheit in immer wachsender Zahl hereinströmenden Flüchtlinge. In der festen Zuversicht, daß der Kampf um die Freiheit und Einheit aller Deutschen endgültig gewonnen wird, errichtet Berlin dieses Notaufnahmelager in Form einer Wohnsiedlung, die später eine Heimstatt freier und glücklicher Menschen sein soll." Der Text hielt fest, welche Erwartungen sich aktuell und für die Zukunft mit der Institution verbanden, die 1952/53 im amerikanischen Sektor der geteilten Stadt entstand. Als zentrale Anlaufstelle sollte das neue Lager helfen, die Aufnahme von Zuwanderern aus der Interner Link: DDR und Ost-Berlin effizienter zu gestalten und ihre Unterbringung zu verbessern. Weil offen schien, wie lange mit einer solchen Ost-West-Migration zu rechnen war (und die DDR überhaupt existieren würde), wurde eine spätere Nutzbarkeit des Gebäudekomplexes eingeplant. Errichtet wurden daher nicht Baracken, sondern 15 Blocks in fester Bauweise, die überwiegend Zweieinhalbzimmerwohnungen beherbergten – in der Hoffnung, dass hier einmal reguläre Mieter einziehen würden.

Entstehungshintergrund

Das Notaufnahmelager entstand in einer Zeit, in der Berlin, wie der damalige Bundespräsident Interner Link: Theodor Heuss anlässlich der Einweihung am 14. April 1953 formulierte, vor einer "grausam schwere[n] Aufgabe" stand. Hatte der Senat bereits in den Jahren nach Kriegsende hohe Zuwandererzahlen zu bewältigen gehabt, brachte das Jahr 1952 eine weitere Verschärfung der Lage. Da das Interner Link: SED-Regime die innerdeutsche Grenze ab Mai rigide auszubauen begann, wählten immer mehr Fluchtwillige den Weg über Berlin, um dort vom Ostsektor in die Westsektoren zu wechseln. Zeitgleich stieg die Abwanderung aus der DDR insgesamt stark an. Für die Fertigstellung eines Aufnahmelagers, das zahlreichen Dienststellen, Behörden und Verbänden sowie zunächst rund 1.200 Menschen Unterkunft bot, war es also höchste Zeit. Neben den zuvor etablierten Anlaufstellen in Interner Link: Gießen und Uelzen war Marienfelde die dritte Einrichtung dieser Art. Die Neuankömmlinge absolvierten hier ein viele Stationen umfassendes Aufnahmeverfahren. An seinem Ende stand im Erfolgsfall die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik und West-Berlin. Anschließend wurden die meisten der Aufgenommenen gemäß vereinbarter Quoten auf die Bundesländer verteilt und ausgeflogen: eine entscheidende Erleichterung für das überlastete West-Berlin.

Ein Ort mit starker Symbolkraft

Das Notaufnahmelager Marienfelde war aufgrund seiner Funktion ein Ort an der Schnittstelle zwischen Ost und West mit starker Symbolkraft. Wie viele Menschen aus der DDR dieses "Tor zur Freiheit" passierten und warum, beobachtete die westdeutsche Öffentlichkeit genau. Die Ost-West-Bewegung war ein Seismograph der Verhältnisse im SED-Staat und konnte, als "Interner Link: Abstimmung mit den Füßen" gedeutet, zudem die Überlegenheit des eigenen Systems belegen. Um diese politische Bedeutung wussten auch Politiker wie der Regierende Bürgermeister von West-Berlin Willy Brandt und US-Vize-Präsident Lyndon B. Johnson, die Marienfelde besuchten, um Solidarität zu demonstrieren. Ein besonderes Interesse an diesem Ort hatten überdies die westlichen und östlichen Geheimdienste. Für die Nachrichten- und militärischen Abschirmdienste der westlichen Alliierten und der Bundesrepublik stellten die Ankömmlinge eine hochinteressante Quelle dar etwa bezüglich Streitkräften, Industrieanlagen und Forschungsprojekten in der DDR. Begleitend zum Aufnahmeverfahren mussten sich die Betreffenden daher Informationsgesprächen mit den Vertretern dieser Organisationen unterziehen. Für den Externer Link: Staatssicherheitsdienst der DDR, repräsentierte das Aufnahmelager ein "Feindobjekt", gegen das es mit Bespitzelung und Unterwanderung vorzugehen galt.

Veränderungen der Funktion des Notaufnahmelagers

Die Aktivitäten der Geheimdienste vor Ort überdauerten die Zäsur des Interner Link: Mauerbaus. Ansonsten änderte sich nach 1961 viel: Mit dem Versiegen der Zuwanderung verlor das Notaufnahmelager "seine Funktion als sozialer und weltpolitischer Brennpunkt" und war daher auch für die Politik nicht mehr interessant. Die wenigen Menschen, die noch aus der DDR herüberwechselten, waren vornehmlich Rentner. Um die freigewordenen Kapazitäten zu nutzen, erhielt die Einrichtung 1964 eine zusätzliche Aufgabe als Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin für Interner Link: Aussiedler. Bis in die 1980er Jahre hinein kam die Mehrzahl der Menschen, die dieser Kategorie zugeordnet wurden, aus Externer Link: Polen. Ihre Zuwanderung sowie eine überraschende Ausreisewelle aus der DDR 1984 führten dazu, dass Marienfelde zwischenzeitlich mit bis zu 1.200 Menschen überbelegt war. Diese Entwicklung spitzte sich ab 1987 erneut und nun drastisch zu, als zunächst die Zahl der Aussiedler und dann der DDR-Zuwanderer rasant anstieg. 1989 war mit über 51.000 Übersiedlern und 11.806 Aussiedlern der Gipfelpunkt der Anmeldungen in Marienfelde erreicht. West-Berlin sah sich wie die übrigen Bundesländer kaum mehr in der Lage, seinen Unterbringungs- und Versorgungspflichten gegenüber den Zuziehenden nachzukommen. Weil sich die Verhältnisse in der DDR grundlegend gewandelt hatten und Deutschland auf die Einheit zusteuerte, wurde das Aufnahmeverfahren für DDR-Zuwanderer auf Drängen der Länder zum 1. Juli 1990 eingestellt.

Damit endete die Geschichte des Lagers Marienfelde als Anlaufpunkt für ostdeutsche Flüchtlinge und Übersiedler. 1,35 Millionen von ihnen hatten seit 1953 diesen Ort passiert bei einer Gesamtzahl von rund vier Millionen Menschen, die zwischen 1949 und 1990 die DDR verließen. Als Aufnahmestelle für Spätaussiedler aber bestand die Institution weiter fort. Rund 96.000 ›Deutschstämmige‹ mit Familienangehörigen (ab 1990 vorwiegend aus den Nachfolgestaaten der Interner Link: Sowjetunion) waren hier angekommen, bevor die Einrichtung auch in dieser Funktion im Sommer 2010 ihre Pforten schloss. Doch schon Ende desselben Jahres zogen neue Bewohner ein. Im Auftrag des Landes Berlin betreibt der Internationale Bund e.V. auf dem Gelände seitdem ein Übergangswohnheim für Schutzsuchende aus aller Welt: Interner Link: Syrien etwa, Tschetschenien, Interner Link: Afghanistan, Interner Link: Südosteuropa und afrikanischen Ländern. Für manche unter ihnen ist Marienfelde die Durchgangsstation in ein neues Leben. Die Zukunft dieser als Asylbewerber oder auf anderer Grundlage um Aufenthalt ersuchenden Menschen stellt sich jedoch weitaus unsicherer dar als bei ihren Vorgängern an diesem Ort, deren Status als Deutsche sicher war.

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Quellen / Literatur

Keith Allen: Befragung – Überprüfung – Kontrolle. Die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen in West-Berlin bis 1961, Berlin 2013.

Bettina Effner: Das Notaufnahmelager Marienfelde, in: Günter Schlusche u.a. (Hg.): Stadtentwicklung im doppelten Berlin. Zeitgenossenschaften und Erinnerungsorte, Berlin 2014, S. 322-326.

Bettina Effner; Enrico Heitzer: Eine Schnittstelle zwischen Migrations- und Spionagegeschichte: DDR-Flüchtlinge, das Notaufnahmelager Marienfelde und die Geheimdienste. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64 (2016), H. 2 (Themenheft, verschiedene Beiträge S. 109-175).

Helge Heidemeyer: Flucht und Zuwanderung aus der SB/DDR 1945/1949–1961. Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer, Düsseldorf 1994.

Elke Kimmel: Das Notaufnahmeverfahren, in: Bettina Effner; Helge Heidemeyer (Hg.): Flucht im geteilten Deutschland, Berlin 2005, S. 115-133.

David Skrabania: Die zentrale Aufnahmestelle für Aussiedler in Berlin-Marienfelde, 14. April 1953 bis 31. Juli 2010, Berlin, Landesamt für Gesundheit und Soziales 2011.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Abschrift der Grundsteinurkunde ist abgedruckt in: Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde e.V. (Hg.): Fluchtziel Berlin. Die Geschichte des Notaufnahmelagers Berlin-Marienfelde, Berlin 2000, S. 15.

  2. Abdruck der Rede Heuss’ in: Erinnerungsstätte (Hg.): Fluchtziel, S. 17 (Zitat)-20. Zur Absicherung der innerdeutschen Grenze 1952 s. Damian van Melis; Henrik Bispinck (Hg.): "Republikflucht". Flucht und Abwanderung aus der SBZ/DDR 1945 bis 1961, München 2006, S. 34-37.

  3. Zu den beiden anderen Notaufnahmelagern s. als Überblick Jeanette van Laak: Das Notaufnahmelager Gießen, in: Deutschland Archiv Online, 27.03.2013, Interner Link: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/vanlaak20130331; Christine Böttcher: "geflohen – vertrieben – rübergemacht". Das Notaufnahmelager Bohldamm in Uelzen 1945–1963 zwischen Kaltem Krieg und Wiederaufbau, Uelzen 2009.

  4. S. dazu Bettina Effner; Helge Heidemeyer: Flucht im geteilten Deutschland. Die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, in: Dies. (Hg.): Flucht, S. 11-25, v.a. S. 12f.; Helge Heidemeyer: Flüchtlingslager als Bühne der Politik – Die symbolische Bedeutung des Notaufnahmelagers Marienfelde, in: Henrik Bispinck; Katharina Hochmuth (Hg.): Flüchtlingslager im Nachkriegsdeutschland. Migration, Politik, Erinnerung, S.74-91.

  5. Zu dem Komplex Geheimdienste, insbesondere der DDR-Staatssicherheit, s. Burghard Ciesla: "Feindobjekt" Marienfelde, in: Effner; Heidemeyer (Hg.): Flucht, S. 153-169.

  6. Das Zitat bei Heidemeyer: Flüchtlingslager als Bühne, S. 87. Zu den beschriebenen Entwicklungen s. Katja Augustin: Im Vorzimmer des Westens. Das Notaufnahmelager Marienfelde, in: Effner; Heidemeyer (Hg.): Flucht, S. 135-151, hier 147-151.

  7. Zum Übergangswohnheim s. die kurze Darstellung auf der Homepage der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde http://www.notaufnahmelager-berlin.de/de/ueberg angswohnheim-fuer-fluechtlinge-964.html

Weitere Inhalte

Bettina Effner, Historikerin, leitet seit 2006 die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde – Stiftung Berliner Mauer. Sie war Mitkuratorin der ständigen Ausstellung zur ‘Flucht im geteilten Deutschland’. Seit Mitte 2013 arbeitet sie an einer Dissertation zum Thema ‘Der Westen als Alternative. DDR-Zuwanderer in der Bundesrepublik und in West-Berlin 1970–1990’, die sowohl Diskurse der Aufnahmegesellschaft als auch Erfahrungen der Gewanderten nachvollzieht.