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Und raus bist du!? – Zivilgesellschaftliche Proteste gegen Abschiebungen | Zivilgesellschaftliches Engagement in der Migrationsgesellschaft | bpb.de

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Und raus bist du!? – Zivilgesellschaftliche Proteste gegen Abschiebungen Ein Interview mit Prof. Dr. Helen Schwenken und Maren Kirchhoff.

/ 13 Minuten zu lesen

Als Reaktion auf die hohe Fluchtzuwanderung nach Deutschland im Jahr 2015 ist der Ruf nach einer vehementeren Interner Link: Abschiebung abgelehnter Asylbewerber lauter geworden. Im Rahmen von Asylrechtsverschärfungen sind seit Sommer 2015 bereits konkrete Maßnahmen ergriffen worden, um Ausländer, denen kein humanitärer Aufenthaltstitel gewährt wird oder die Straftaten begehen, schneller in ihre Herkunftsländer rückführen zu können. Vor diesem Hintergrund stieg die Zahl der Abschiebungen von 10.900 im Jahr 2014 auf 17.000 im Jahr 2015 und damit auf den höchsten Wert seit 2006. Im April 2016 forderte der Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung der Bundesregierung, Peter Altmaier (CDU), von den Bundesländern eine Verdoppelung der Zahl der Abschiebungen. Nach Angaben von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) wurden allein in den ersten beiden Monaten 2016 4.500 Menschen aus Deutschland abgeschoben und damit doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Während Teile der Bevölkerung vermehrte Abschiebungen begrüßen, regt sich gegen erzwungene Rückführungen ausländischer Staatsangehöriger aber auch Widerstand in der Zivilgesellschaft. Die Redaktion von focus Migration hat mit den Sozialwissenschaftlerinnen Prof. Dr. Helen Schwenken und Maren Kirchhoff gesprochen, die am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück ein Projekt zu Protesten gegen Abschiebungen in Deutschland durchführen, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird.

Warum werden Abschiebungen von Teilen der Zivilbevölkerung abgelehnt und was motiviert Menschen, sich gegen Abschiebungen einzusetzen?

Prof. Dr. Helen Schwenken (© Pressestelle UOS)

Schwenken: Es gibt unterschiedliche Gründe, warum Menschen mit Abschiebungen nicht einverstanden sind. Die Personen, die sich gegen Abschiebungen wenden, lassen sich grob in drei Gruppen einteilen. Zu der ersten Gruppe zählen Menschen, die enge persönliche Beziehungen zu denjenigen aufgebaut haben, die abgeschoben werden sollen, so zum Beispiel Schulklassen, Fußballvereine, Moschee- oder Kirchengemeinden oder Familienangehörige, die einen befristeten oder unbefristeten Aufenthaltstitel haben. Über die persönlichen Kontakte zu den Personen, die von Abschiebung bedroht sind, wissen sie sehr viel über deren Hintergrund, aber auch über die Länder, in die abgeschoben werden soll. Wenn dieses Wissen noch nicht besteht, zeigt sich, dass sich im Kontext der drohenden Abschiebung viele Menschen im Umfeld der betroffenen Person kundig machen, beispielsweise über Roma-Verfolgung im Kosovo und die ökonomischen Bedingungen dort. Das sorgt für den Protest.

Eine zweite Gruppe von Personen sieht Abschiebungen aus ethischen Überlegungen oder auch aus politischen Erwägungen heraus generell sehr kritisch, beispielsweise aufgrund von Widersprüchen der Interner Link: Migrations- und Asylpolitik. Sie engagieren sich häufig auch in anderen Bereichen politisch und sozial und hegen eine generelle Skepsis gegenüber dem staatlichen Instrument der Abschiebung. Die dritte Gruppe sind die Betroffenen selber. Diese wehren sich in unterschiedlicher Weise gegen ihre Abschiebung. Praktische Unterstützung bekommen Betroffene zum Teil auch durch Professionelle: Sie sind beispielsweise in der Rechtsberatung oder in der Gesundheitsversorgung tätig und kommen darüber mit Menschen, denen eine Abschiebung droht, in Kontakt. Sie sehen zum Beispiel, dass eine Person, die abgeschoben werden soll, unter einer Interner Link: posttraumatischen Belastungsstörung leidet oder den Rechtsweg nicht ausgeschöpft hat. Aus dieser professionellen Perspektive heraus kommen auch sie zu dem Schluss, dass eine Abschiebung so nicht rechtens oder vertretbar ist.

Maren Kirchhoff (© Privat)

Kirchhoff: Allgemein kann man zusammenfassen, dass Abschiebungen als staatlicher Zwangsakt interpretiert werden können, mit dessen Hilfe versucht wird, staatlich zu bestimmen, wer zur Gemeinschaft dazu gehört und wer nicht. Das aber widerspricht eben häufig den erläuterten verschiedenen Antworten auf die Frage, wer als zugehörig wahrgenommen wird bzw. wessen Ansprüche auf Zugehörigkeit als legitim erachtet werden. Zudem gibt es auch Menschen, die Bewegungsfreiheit als grundlegendes Ideal betrachten, dem sie sich verpflichtet fühlen und die Meinung vertreten, dass alle Menschen das Recht haben sollten, dort zu leben, wo sie es möchten.

Schwenken: Nicht alle Menschen, die sich gegen Abschiebungen engagieren, lehnen aber restriktive Migrations- oder Asylpolitiken als solche ab. Häufig stellen sie jedoch fest, dass die Umsetzung der darin vorgesehenen Maßnahmen – wie eben Abschiebungen – für sie sehr problematisch ist. Im Ländervergleich haben wir uns gefragt, wie es dazu kommt, dass es teils auch Personen sind, die sich gegen Abschiebungen engagieren, die konservative Parteien wie die CDU wählen und restriktive Regelungen tendenziell eher befürworten. Sie empfinden es dann aber als unmenschlich, was im Kontext der praktischen Durchsetzung dieser restriktiven Regelungen passiert. Wenn man die Person, die abgeschoben werden soll, vor Augen hat und sieht, was für ein Schicksal ihr im Falle einer Abschiebung droht, wird quasi die Bedeutung einer Politik fassbarer als wenn man bei der Wahl ein Kreuzchen auf einem Stimmzettel macht.

Welche verschiedenen Protestformen gegen Abschiebungen gibt es?

Kirchhoff: Einerseits gibt es direkte Protestformen wie Blockaden, mit denen letztlich die Durchsetzung der Abschiebung verhindert wird. Dazu zählt in gewisser Weise auch das in den letzten Jahren wieder prominenter gewordene Kirchenasyl, weil es dabei um die Verhinderung des physischen Zugriffs auf die von Abschiebung bedrohten Individuen geht. Andererseits gibt es Proteste, die eher auf eine öffentliche Wahrnehmung zielen und so versuchen, Druck auf die Politik auszuüben. Darunter fallen öffentliche Proteste wie große Demonstrationen oder Kundgebungen. In den letzten Jahren sind zudem viele Protestformen entstanden, die eine Art Zwischenposition einnehmen. Sie zielen auf institutionalisierte Kanäle und versuchen beispielsweise über Petitionen oder Härtefallanträge Abschiebungen zu verhindern.

Seit wann lassen sich Anti-Abschiebungsproteste in Deutschland beobachten und wie haben sie sich im Laufe der Zeit verändert?

Kirchhoff: In den 1960er und 1970er Jahren gab es vor allem Proteste, die im Rahmen der Interner Link: Arbeiter_innenbewegung und der Interner Link: Studierendenbewegung zu verstehen sind. Mit einer Gesetzesänderung 1965 wurde ermöglicht, dass ausländische Staatsangehörige wegen politischem Aktivismus abgeschoben werden können. Dagegen hat sich massiver Widerstand aus den genannten Bewegungen formiert und es kam zu Demonstrationen, an denen sich zum Teil Zehntausend Menschen beteiligten. In den 1980er Jahren gab es mit dem Selbstmord des türkischen Asylbewerbers Cemal Kemal Altun ein entscheidendes Moment. Er stürzte sich während seines Abschiebeverfahrens aus dem Fenster des Verwaltungsgerichts Berlin. Als Reaktion darauf kam es zu großen Demonstrationen, um sich zu solidarisieren und Abschiebungen in die Türkei der Militärdiktatur zu kritisieren. Kurze Zeit nach diesem Selbstmord im Jahr 1983 kam das Kirchenasyl in Deutschland wieder auf. Zunächst in der Heilig-Kreuz-Gemeinde in Berlin, die sich für Kemal Altun eingesetzt hatte und die Menschen mit der Gewährung von Asyl in der Kirche vor einem solchen Schicksal schützen wollte. Auch in den 1990er Jahren setzen sich Kirchenasyle und direkte Proteste fort. Es gab auch Proteste, die versuchten, Asylgesetzverschärfungen zu verhindern oder direkt Abschiebegefängnisse anzugreifen. Um 2000 kamen dann neue Formen von Anti-Abschiebungsprotesten auf. Sie versuchten etwa, mit einer Art gegen Abschiebungen vorzugehen. Hier ist zum Beispiel die "Deportation Class"-Kampagne gegen die Lufthansa zu nennen: Dabei ging es gezielt darum, den Ablauf von Abschiebungen direkt zu stören, anstatt zu versuchen, eine große politische Änderung zu erreichen, die als wenig aussichtsreich erachtet wurde. In dieser Tradition stehen auch die Flughafenproteste, die es in Deutschland in den letzten Jahren häufiger gab, aber eben auch Abschiebeblockaden, bei denen Menschen versuchen, den physischen Zugriff auf die abzuschiebende Person zu verhindern.

Eine neue Protestwelle setze ab 2012 ein. An zahlreichen Orten Interner Link: protestierten Geflüchtete gegen ihre prekären Lebensbedingungen und auch gegen Abschiebungen allgemein. Mit steigenden Abschiebezahlen gab es zudem in den letzten Jahren eine Art Renaissance von Kirchenasylen, deren Zahl seit 2012 enorm angestiegen ist. Interessant ist daran, dass es sich vor allem um sogenannte Dublin-Fälle handelt, die ins Kirchenasyl gehen. Das hat allerdings auch mit der Funktionsweise des Interner Link: Dublin-Verfahrens zu tun. Menschen, für deren Asylverfahren ein anderes EU-Mitgliedsland zuständig ist, müssen innerhalb von sechs Monaten von Deutschland an das zuständige Land überstellt werden. Geschieht dies nicht, so muss der Asylantrag in Deutschland bearbeitet werden. Für Menschen im Kirchenasyl geht es also genau darum, diese Zeitspanne zu überbrücken, damit Deutschland sich für die Bearbeitung ihres Asylantrags zuständig erklärt.

Erst 2015 gab es ja eine Debatte zwischen Politik und Kirchen über die Praxis des Kirchenasyls. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte den Kirchen vorgeworfen, sich damit über geltendes Recht hinwegzusetzen und hatte damit gedroht, den Zeitraum für Dublin-Überstellungen von sechs auf 18 Monate ausweiten lassen zu wollen.

Schwenken: Kirchenasyle waren sehr erfolgreich. Das hat das Bundesinnenministerium auch festgestellt und ist dann in Konfrontation zu den Kirchen gegangen. Diese haben daraufhin mit dem Innenministerium einen Kompromiss verhandelt. Dieser wurde innerhalb der Kirchenasylbewegung sehr kontrovers diskutiert, weil der Staat damit in die Autonomie der Kirchen und die Entscheidung von lokalen Kirchengemeinden eingegriffen hat. Die Situation ist bis heute nicht vollständig geklärt. Daran sehen wir aber, dass das Kirchenasyl auch gesellschaftlich große Unterstützung und Legitimation erfahren hat, woraufhin sich der Staat unter Druck gesetzt fühlte.

Was bedeutet denn "erfolgreich" im Kontext des Kirchenasyls?

Schwenken: Über 95 Prozent der 2013 und 2014 beendeten Kirchenasyle hatten einen positiven Ausgang, was nicht heißt, dass der Person ein dauerhaftes Bleiberecht zugesprochen worden ist. Vielmehr bedeutet "erfolgreich", dass ein Asylverfahren wieder aufgenommen wurde, temporärer Abschiebeschutz gewährt wurde oder dass sich Deutschland für das Asylverfahren zuständig erklärte. Das kann immer noch zur Folge haben, dass die Person doch nicht in Deutschland bleiben darf, aber erst einmal hat das Kirchenasyl den Betroffenen Luft verschafft und auch eine Klärung ihrer Situation bewirkt.

Kirchhoff: Hier kommen die unterschiedlichen Richtlinien für die Gewährung von humanitärem Schutz in Europa zum Tragen und die damit verbundenen ungleichen Chancen auf Asyl. Während zum Beispiel in einigen Ländern wie Deutschland die Ablehnungsquote für Asylbewerbende aus dem Kosovo sehr hoch ist, ist sie in Frankreich deutlich niedriger. So geht es beim Kirchenasyl auch darum, Menschen, die zum Beispiel in die Niederlande überstellt werden sollen, wo geduldete Geflüchtete nach Ablehnung ihrer Asylanträge auf der Straße leben müssen, in das Asylverfahren in Deutschland zu bringen.

Schwenken: In Bezug auf Proteste gegen Abschiebungen allgemein, zeigen unsere Forschungsergebnisse, dass es recht viele Personen gibt, die trotz Protest abgeschoben wurden, die aber später wieder zurück nach Deutschland kamen, weil die Wirkung des Protests noch deutlich nach der Abschiebung anhielt. Sie erhielten das Recht auf Wiedereinreise, weil zum Beispiel bei der Abschiebung Fehler gemacht wurden oder über Härtefallregelungen erwirkt wurde, dass Kinder und Jugendliche wieder einreisen durften, um die Schule oder ihre Ausbildung in Deutschland zu beenden. Das Dranbleiben führt also zu einer relativ hohen Erfolgsrate. Allerdings kann Protest sich nur dann entwickeln, wenn bekannt ist, dass eine Abschiebung erfolgen soll. Dieses Wissen wird vor allem über soziale Beziehungen hergestellt. So werden viele Personen abgeschoben, die keine Chance hatten, für sich Unterstützung zu organisieren. Von ihrer Abschiebung erfährt man dann erst im Nachhinein aus der Statistik.

Im Rahmen des Schulstreiks gegen Rassismus in Berlin fordern zwei Schülerinnen ein "Bleiberecht für Alle". (© picture-alliance/dpa)

Welche Rolle spielen die von Abschiebung Bedrohten, aber auch andere Asylbewerber oder bereits anerkannte Flüchtlinge in Protesten gegen Abschiebungen?

Schwenken: Zur Beantwortung der Frage muss man auch in die Geschichte der Proteste gegen Abschiebungen schauen, die bis in die 1960er Jahre zurückreicht. Damals waren sie sehr stark von den Betroffenen selbst bzw. ihrem sozialen – auch beruflichen – Umfeld organisiert. In den 1980er Jahren änderte sich das. Die selbstorganisierten Proteste gingen zurück. Stattdessen setzten sich andere Menschen advokatorisch gegen Abschiebungen ein, traten also als Fürsprecher für von Abschiebung betroffene Personen auf. Das hat auch dazu geführt, dass die Asylsuchenden eher als Hilfesuchende wahrgenommen wurden. Seit einigen Jahren gibt es nun aber wieder eine Rückbewegung hin zur wieder stärkeren öffentlichen Wahrnehmung von selbstorganisierten Interner Link: Protesten von Geflüchteten. Dies betrifft nicht nur das Thema Abschiebungen.

Kirchhoff: Trotzdem fanden selbstorganisierte Proteste permanent statt. Es gab zum Beispiel 1993, in dem Jahr, in dem der sogenannte Interner Link: Asylkompromiss in Kraft trat, selbstorganisierte Proteste von Roma gegen Abschiebungen oder Ende der 1990er Jahre das sogenannte Wanderkirchenasyl, eine besondere Form des Kirchenasyls, bei der 1998 in Nordrhein-Westfalen rund 260 Kurdinnen und Kurden monatelang von Kirche zu Kirche zogen, um gegen ihre Abschiebung und die bundesdeutsche Ausländerpolitik zu protestieren. Darüber hinaus gibt es Selbstorganisationen wie beispielsweise Jugendliche ohne Grenzen und The Voice, die sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte selbst organisiert und unter anderem gegen Abschiebungen gekämpft haben. Sie waren aber alle viel weniger öffentlich präsent als die Proteste, die im Zuge der neuen Protestwelle seit 2012 aufgekommen sind.

Schwenken: Jetzt reden wir ja vor allem über öffentliche Proteste. Ein nicht geringer Teil der Abschiebungen kann aufgrund von Widerstandshandlungen der Betroffenen nicht durchgeführt werden. Das sind teilweise Akte der Verzweiflung, wenn die Betroffenen wissen, dass die Abschiebung für sie eine Gefahr für Leib und Leben bedeutet. Dabei gibt es auch dramatische Fälle von Selbstverletzungen oder gar Selbsttötungen. Zwischen 1993 und 2014 verletzten sich in Deutschland rund 1.400 Menschen, denen eine Abschiebung bevorstand, selbst und 179 nahmen sich das Leben.

In Osnabrück zum Beispiel gibt es eine Gruppe von Abschiebungsgegnern, die sich bislang über Telefonketten und SMS zusammenriefen, wenn eine Abschiebung erfolgen sollte. Sie fanden sich dann vor der Unterkunft der abzuschiebenden Person ein, was oftmals ausreichte, um die Polizei zur Umkehr zu bewegen und die Abschiebung zu verhindern. Seit Inkrafttreten des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes (Asylpaket I) im Oktober 2015 dürfen Abschiebungen nicht mehr angekündigt werden. Wie reagieren die Proteste gegen Abschiebungen auf solche Gesetzesverschärfungen?

Schwenken: Die Praxis in Osnabrück war erfolgreich und hatte in Deutschland Pioniercharakter. Sie führte dazu, dass dann auch in anderen deutschen Städten Menschen ähnlich vorgingen, um Abschiebungen zu verhindern. Durch die Bundesgesetzgebung und die darin enthaltene Bestimmung, Abschiebungen nicht mehr anzukündigen, hat sich die Grundlage dieser erfolgreichen Proteste verändert. Eine Strategie, um darauf zu reagieren, ist, stärker auf die Betroffenen und andere Asylsuchende zuzugehen, um sie besser über Abschiebungen und ihre Rechte zu informieren. Denn erst, wenn Asylsuchende über ihre Rechte unterrichtet werden, können sie Rechtsmittel gegen Abschiebungen einlegen und sich so dagegen wehren. Mit Informationsveranstaltungen tragen die Aktivistinnen und Aktivisten zu einer Verbreiterung des Wissens und auch von möglichem Protest bei.

Kirchhoff: Die aktuellen gesetzlichen Regelungen reagieren im Prinzip darauf, wie Abschiebungen in der Vergangenheit verhindert wurden. So wurden zum Beispiel die Regelungen für ärztliche Gutachten, die zu einer Aussetzung von Abschiebung führen können, verschärft und eine Ankündigung des konkreten Abschiebetermins untersagt. Letzteres soll vermutlich ein "Untertauchen" der Betroffenen sowie Blockaden wie die in Osnabrück erschweren. Die Proteste hören dadurch aber nicht einfach auf. Stattdessen finden sich neue Wege, wie gegen Abschiebungen protestiert wird. In Bezug auf Entwicklungen wie das im Frühjahr 2016 geschlossene Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, das die massenhafte Abschiebung nach Griechenland eingereister Geflüchteter vorsieht, stellt sich für uns auch die Frage, ob sich die Proteste gegen Abschiebungen in Zukunft stärker transnationalisieren werden.

Gibt es denn einen länderübergreifenden Austausch der verschiedenen Gruppen, die sich gegen Abschiebungen engagieren?

Schwenken: Innerhalb der einzelnen europäischen Staaten gibt es einen Austausch und ein Lernen voneinander, aber international weniger. Ein länderübergreifender Austausch erfolgt eher in Bezug auf eine generelle Kritik an der Interner Link: Europäisierung der Migrations- und Asylpolitik und der Interner Link: "Festung Europa". Das sind dann auch diejenigen Akteursgruppen, die zum Beispiel an die griechisch-mazedonische Grenze fahren und sich die Situation vor Ort anschauen und dort auch Asylsuchende und Geflüchtete in humanitärer Hinsicht unterstützen.

Richten sich die Anti-Abschiebungsproteste vor allem gegen die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber oder auch gegen die Rückführung von straffällig gewordenen Ausländern, die zuvor lange Jahre mit einem Aufenthaltstitel in Deutschland lebten? Welchen Personengruppen gilt die Solidarität der Zivilgesellschaft?

Kirchhoff: Es ist wichtig, sich anzuschauen, was sich hinter der Kategorie "straffällig gewordene Ausländer" verbirgt. In den 1990ern gab es den relativ prominenten Fall von Muhlis A., besser bekannt als "Mehmet", der in Deutschland aufgewachsen war und im Alter von 14 oder 15 Jahren in die Türkei abgeschoben wurde. Gegen die Abschiebung gab es massive Proteste, weil viele Menschen der Ansicht waren, dass man einen Jugendlichen wegen Straftaten nicht abschieben und das Recht auf seine Heimat absprechen könne: Mehmets Heimat war Deutschland und nicht die Türkei. Kurz gesagt: So vielfältig die Motive sind, sich gegen Abschiebungen einzusetzen, so verschieden sind auch diejenigen, für deren Verbleib sich eingesetzt wird.

In Ihrem Forschungsprojekt untersuchen Sie nicht nur Proteste gegen Abschiebungen in Deutschland, sondern, in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftler_innen, auch Antiabschiebungsproteste in Österreich und der Schweiz. Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede lassen sich dabei zwischen den drei untersuchten Ländern feststellen?

Schwenken: Über den Vergleich lassen sich die Unterschiede zwischen den Protesten in den drei Ländern sehr schön herausarbeiten. So zeigen sich Ähnlichkeiten zwischen der Interner Link: Schweiz und Interner Link: Deutschland. In beiden Ländern werden Proteste gegen Abschiebungen zum politischen Thema und werden politisch verhandelt, sind also auch mit einer generellen Kritik an der nationalen Migrations- und Asylpolitik verknüpft. In Interner Link: Österreich sind Proteste gegen Abschiebungen dagegen eher kein politisches Thema im Sinne einer allgemeinen Kritik an der herrschenden Asyl- und Migrationspolitik, sondern erfolgen stärker einzelfallbasiert. Allerdings sind in Österreich die politischen Kanäle und Repräsentanten stärker in Proteste gegen Abschiebungen involviert als in Deutschland. Hierzulande nehmen beispielsweise Vertreter_innen von Parteien oder auch Bürgermeister_innen kaum an solchen Protesten teil. Die Protestkultur in Deutschland ist viel stärker als die österreichische auf Öffentlichkeit und demonstrative Aktionsformen orientiert.

In allen drei untersuchten Ländern führt das Engagement gegen Abschiebungen allerdings zu einer Politisierung von Personen, die sich zuvor nicht im Bereich Migration und Asyl engagiert haben oder zunächst wenig über diese Themen wissen, sich aber über die Konfrontation mit einer Politik, die Härte demonstriert, politisch weiterbilden und das reflektieren. Die Auseinandersetzung mit Abschiebungen eignet sich auch als Thema der politischen Bildung. Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass es zahlreiche Jugendliche gibt, die sich ausgehend von der Beschäftigung mit einem konkreten Abschiebungsfall nachhaltig für die Themenbereichen Migration und Asyl interessieren und sich weitergehende Gedanken machen, zum Beispiel um Gesellschaft, um Zugehörigkeit, um Engagement oder Solidarität. Wir sehen also, dass es gerade für junge Leute auch ein Feld der politischen, sozialen aber auch ethischen Auseinandersetzung ist und mit in Zukunft zu erwartenden steigenden Abschiebungszahlen auch noch stärker werden könnte.

Das Projekt:

Das Forschungsprojekt, an dem Prof. Dr. Helen Schwenken und Maren Kirchhoff beteiligt sind, untersucht Proteste gegen Abschiebungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Projektziel ist es, zu erklären, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Umständen sich Unterstützung für von Abschiebung bedrohte Menschen entwickelt, warum gegen Abschiebungen protestiert wird und welcher Protest erfolgreich ist. Damit soll ein Einblick in die Praxis gesellschaftlichen Engagements gegen Abschiebungen generiert werden. Im Zeitraum 2013-2016 wird das deutsche Teilprojekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Neben den beiden deutschen Wissenschaftlerinnen sind auch Teams an den Universitäten Wien (Österreich, Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger) und Neuchâtel (Schweiz, Prof. Dr. Gianni D‘Amato) am Projekt beteiligt.


Die Fragen stellte Vera Hanewinkel.

Zum Thema:

Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Zivilgesellschaftliches Engagement in der Migrationsgesellschaft".

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