"Fluchterfahrungen sind immer schwer belastend" – Zum Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen im Schulalltag | (Flucht-)Migration und Gesundheit | bpb.de
"Fluchterfahrungen sind immer schwer belastend" – Zum Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen im Schulalltag
David Zimmermann
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Die Kultusministerkonferenz geht davon aus, dass allein 2014 und 2015 rund 325.000 Flüchtlinge im schulpflichtigen Alter nach Deutschland gekommen sind. Sie bringen ihre lebensgeschichtlichen Belastungen in den Schulalltag ein. Dadurch ergeben sich besondere Herausforderungen für die Organisation Schule und dort arbeitenden Pädagoginnen und Pädagogen. Ein wichtiger Anlass, um den Themenkomplex Zwangsmigration, Trauma und schulischer Alltag einmal genauer zu betrachten.
Herr Zimmermann, was ist eigentlich aus medizinisch-psychiatrischer bzw. psychoanalytischer Sicht ein Trauma?
Ich wäre sehr dankbar, wenn es eine einheitliche Trauma-Konzeption gäbe und es relativ leicht zu erklären wäre, was ein Trauma ist. Es gibt aber unterschiedliche Gründe, warum das in dieser Form nicht möglich ist. Schon in der psychiatrischen Sichtweise gibt es zwei grundlegend verschiedene Zugänge. Das eine ist die relativ bekannte Posttraumatische Belastungsstörung. Sie folgt grundlegend – und das ist im Kontext psychiatrischer Störungsvorstellung das Traumaspezifische – der Idee, dass es immer ein auslösendes Ereignis für eine Traumatisierung gibt und daraus resultierende typische Symptommuster: Übererregung, Wiedererleben und Vermeidung. In der fünften Auflage des Diagnostischen und statistischen Manuals psychischer Störungen (DSM-5) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft gibt es einen neueren Symptomkatalog, der diesen Symptombereich auch noch einmal für kleinere Kinder spezifiziert. Das Kernspezifikum dabei ist das posttraumatische Spiel, das heißt, dass Kinder wiederholt traumatische Erfahrungen durchspielen und es kommt immer zu einem schrecklichen Ende. Dennoch erfassen wir mit dieser psychiatrischen Kategorie die Haupterfahrung bzw. Lebenswelt von zwangsmigrierten Kindern und Jugendlichen nicht in vollem Umfang, weil ihr Verhaltens- und Erlebensspektrum zu breit aufgefächert ist. Zudem haben die meisten der geflüchteten Kinder und Jugendlichen keine einmaligen traumatischen Erfahrungen, sondern langfristige Erfahrungen aus sehr verschiedenen Lebensbereichen.
Psychiatrisch kommt man dem schon näher mit der Kategorie der Traumaentwicklungsstörung von Bessel A. van der Kolk, die sich aber in einschlägigen Manualen (DSM-5; ICD-10) nicht wiederfindet. In dieser Konzeption ist die langfristige oder mehrfache Verlusterfahrung ein Kernbedingungsfeld. Da sind wir dann schon ziemlich nah am Bereich Flucht. Für die Schule ist dabei vor allem wichtig, dass der Bereich Aufmerksamkeit und Verhalten, aber noch wichtiger vielleicht der Bereich Beziehungsgestaltung bei langfristig traumatisierten Kindern nachhaltig gestört ist.
Psychoanalytisch ist das Wichtigste, dass die Erfahrung, die zur Traumatisierung führt, überflutend ist, d.h. sie kann psychisch nicht integriert werden in sonstige Identitäts- und Verarbeitungsschemata. Deshalb wird sie im Verhalten reinszeniert. Das ist das, was Fachkräfte in der Schule dann immer wieder merken: Traumatisierte Kinder mit oder ohne Zwangsmigrationshintergrund zeigen sehr auffällige – teilweise sehr zurückgezogene, teilweise sehr aggressive, manchmal auch hochangepasste – Verhaltensweisen, die sich Lehrerinnen und Lehrer nur schwer erklären können, die manchmal auch plötzlich wechseln können und die vor allem immer mit einer hohen emotionalen Last für alle – für die Kinder und Jugendlichen selbst, aber auch für die Klasse und für die Fachkräfte – verbunden sind.
Wenn wir jetzt noch einmal ein bisschen genauer auf die Kinder und Jugendlichen mit Fluchtgeschichte schauen, dann ist die psychoanalytische, gleichwohl soziale Umstände betonende Konzeption der sequentiellen Traumatisierung entscheidend. Sie verweist nämlich darauf, dass es unterschiedliche hochbelastende Erfahrungen gibt, die noch dazu sehr unterschiedlichen sozialen Situationen entstammen. So haben wir es bei Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung natürlich mit Menschen zu tun, die in ihrem Herkunftsland oft traumatische Erfahrungen, z.B. im Kontext von Krieg, gemacht haben. Gleichzeitig aber sind die Erfahrungen während der Flucht oft hochgradig belastend, mit viel Abhängigkeit und Ausbeutung verbunden und die Lebenssituation im Aufnahmeland ist häufig auch nicht durch Sicherheit geprägt, sondern durch hoch unsichere Bedingungen – wie die Angst vor Abschiebung oder traumatische Erfahrungen mit Rassismus. Diese Erfahrungen verdichten sich innerlich für die Kinder und Jugendlichen zu einem Gesamtgeschehen, das man manchmal leicht übersetzen kann in Sätze wie: "Ich bin nirgendwo gewollt" oder: "Meine Anwesenheit ist überall bedroht". Und das ist dann das Grunderleben, welches diese Kinder und Jugendlichen auch mit in die Schule bringen. Ein solches Erleben lässt sich aber nur rekonstruieren, wenn man die Gesamterfahrung im Blick hat, also die verschiedenen Sequenzen – daher kommt ja auch die Bezeichnung des Konzepts der sequentiellen Traumatisierung – und die in diesen Sequenzen auftretenden Erfahrungen und Erlebensmuster.
Die Kategorie der sequentiellen Traumatisierung wurde ursprünglich von Hans Keilson aus der Arbeit mit Überlebenden des Holocaust in den Niederlanden entwickelt und später von David Becker modifiziert, der vor allem in Chile mit ehemaligen politischen Gefangenen und deren Familien gearbeitet hat. Ich habe dann selber daran weitergearbeitet und das Konzept der sequentiellen Traumatisierung im Hinblick auf die Erfahrungen und Erlebenssituation von jungen Flüchtlingen modifiziert. Ich habe ein Schaubild mitgebracht, das diesen Zusammenhang verdeutlicht (siehe Abbildung 1).
Sequentielle Traumatisierung
Das Konzept der sequentiellen Traumatisierung geht über die psychoanalytische Theorie hinaus, weil zum Beispiel auch die politischen Rahmenbedingungen mit in den Blick genommen werden, ebenso wie die größere soziale Situation.
Das macht natürlich gerade auch im Hinblick auf eine unsichere Aufenthaltssituation Sinn, denn für eine Behandlung von Traumata benötigt man ja stabile äußere Rahmenbedingungen, auf die sich die Patienten verlassen können und diese ist in einem noch nicht abgeschlossenen Asylverfahren nicht gegeben.
So sehe ich das auch. Das macht zwar pädagogische oder auch therapeutische Arbeit nicht sinnlos, aber die Überlegungen zur unsicheren Aufenthaltssituation müssen integriert werden. Ein wesentlicher traumabezogener Zugriff in Therapie und Pädagogik fokussiert auf die Schaffung äußerer und innerer sicherer Orte: An welche guten und sicheren Dinge kann ich denken, wenn mich gerade einmal wieder alles überflutet? Das ist aber natürlich hochgradig schwierig zu erreichen, wenn die äußere Situation durch sehr viel Unsicherheit geprägt ist. So kommen dann sowohl pädagogische als auch therapeutische Konzepte an ihre Grenzen.
Wenn die Lebensgeschichte schon über einen sehr langen Zeitraum durch Instabilität gekennzeichnet ist, wird es sicherlich schwierig, sich einen sicheren Ort vorstellen zu können. Das leitet zu der Frage über, wie man traumatisierte Menschen behandelt. Welche Therapieansätze gibt es?
Einerseits gibt es die sogenannten evidenzbasierten Therapieformen. Allen ist dabei gemeinsam, dass es sich um kognitiv orientierte Therapieformen handelt, die einen traumakonfrontierenden Anteil haben. Menschen werden zwar innerhalb der Therapie auch stabilisiert, aber es geht immer auch darum, die traumatische Erfahrung durchzuarbeiten und dadurch neue Möglichkeiten des Umgangs mit ihr zu schaffen. Andererseits gibt es einen Bereich, der sich zum Beispiel in der Gestalttherapie findet, bei dem der Aspekt der Stabilisierung Priorität hat. Ähnlich ist es bei der psycho-imaginativen Traumatherapie nach Luise Reddemann. Dabei ist der Traumakonfrontationsteil zwar nicht ausgeschlossen, aber im Vordergrund steht ganz klar die Stabilisierung. Und das halte ich im Kontext von Flucht und Traumatisierung für das Allerwichtigste. Man kann unterschiedlich zu der Möglichkeit von Durcharbeitung und Traumakonfrontation stehen, aber bei so langfristigen traumatischen Erfahrungen, die bis in das Hier und Jetzt reichen, kann eine Traumakonfrontation auch sehr kontraproduktiv sein oder sogar Formen von Retraumatisierung auslösen. Das wäre der therapeutische Aspekt.
Und dann gibt es einen pädagogischen Aspekt, der einerseits ein bisschen mit dem therapeutischen Aspekt verwandt ist, sich andererseits aber auch etwas davon unterscheidet. Es geht im Kern um die Frage, was Pädagoginnen und Pädagogen machen können, um traumatisierte Kinder und Jugendliche zu stabilisieren. Dabei ist der Konfrontationsaspekt ausgeschlossen, weil es kein pädagogisches Arbeitsfeld ist, Kinder und Jugendliche mit den traumatischen Erfahrungen zu konfrontieren. Aber man kann die Kinder und Jugendlichen durchaus stabilisieren, zum Beispiel durch sichere äußere Orte in der Schule, durch Abläufe, die durch viel Transparenz, Klarheit und stabile Beziehungen gekennzeichnet sind. Allerdings wird die traumatische Erfahrung dabei nicht tabuisiert. Man arbeitet sie zwar nicht durch, aber die Kinder und Jugendlichen mit Fluchterfahrung sollen spüren, dass die Erwachsenen, mit denen sie es im Kontext Schule zu tun haben, potenziell ihre Geschichte aushalten können, wenn sie sie erzählen wollen. Eine der sehr negativen Erfahrungen ist, wenn Kinder und Jugendliche merken, dass sie ihre Geschichte nicht teilen können, weil die Erwachsenen, denen sie begegnen, ihre Geschichte als äußerst bedrohlich empfinden. Das bedeutet nicht, dass man Kinder und Jugendliche dazu auffordert, zu erzählen, was sie alles Schlimmes erlebt haben. Aber in der Haltung sollte man ausdrücken, dass man ihre Geschichte aushalten kann. Es ist pädagogisch bedeutsam, einen solchen Rahmen zu schaffen.
Kinder und Jugendliche machen ihre Erfahrungen wahrscheinlich sonst oft mit sich selbst aus, wenn sie das Gefühl haben, dass sie Erwachsenen nicht einen Teil ihrer Last abgeben können, was ja eigentlich auch zur Rolle von Erwachsenen gehört. Ich vermute, dass sich dieses Problem auch sehr stark in den Familien widerspiegelt. Denn wenn die Eltern selbst mit eigenen traumatischen Erfahrungen zu kämpfen haben, fällt es ihnen vermutlich schwer, den eigenen Kindern etwas von deren Belastungen abzunehmen.
Dem stimme ich absolut zu. Das ist auch ein Ergebnis meiner eigenen Untersuchungen. Viele der geflüchteten Kinder und Jugendlichen übernehmen auch im familiären Kontext übermäßig viel Verantwortung. Rein praktisch bedeutet das, dass große Geschwister anstelle der Eltern an Elternabenden teilnehmen, zu Ämtern gehen usw. Das ist im Prinzip nichts Neues. Aber sie übernehmen eben auch emotional Verantwortung. Sie haben große Angst davor, ihren Eltern von ihrem eigenen Leid zu erzählen, einfach auch einmal jugendlich und wild zu sein, auch einmal über die Stränge zu schlagen, weil sie ihre Eltern als so belastet erleben, dass sie das Gefühl haben, sie permanent schützen zu müssen. Und das ist ausdrücklich kein Verweis darauf, dass wir es mit unfähigen Eltern zu tun hätten, sondern es ist ein Verweis darauf, dass es Eltern gibt, die ihrerseits so hoch emotional belastet sind, dass ihre Kapazität, auf Nöte und emotionale Herausforderungen auf der Seite ihrer Kinder einzugehen, einfach begrenzt ist. Wir kennen auch aus anderen Kontexten Eltern, die so psychisch belastet sind, dass ihre emotionale Kapazität für die Kinder eingeschränkt ist. Bei Eltern mit Fluchterfahrung kommt aber noch hinzu, dass es sich eben nicht nur um vergangene Erlebnisse handelt, sondern auch um die Unsicherheit im Hier und Jetzt, wenn zum Beispiel die Abschiebung droht oder es schwer fällt, seine Vaterrolle einzunehmen, weil man nicht arbeiten darf.
Mir stellt sich dabei die Frage, ob es dann nicht sinnvoll wäre, in die Traumatherapie von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung die Eltern einzubeziehen, um das familiäre Umfeld mit zu stabilisieren? Strukturell ist so eine Familientherapie natürlich sehr herausfordernd, weil man Sprachmittler und entsprechende Settings benötigt. Dennoch kann, wenn die entsprechenden Rahmenbedingungen gegeben sind, so eine Auseinandersetzung mit traumatischen Erfahrungen in der Familie hoch wertvoll sein. Sie muss aber eine sichere Fundierung haben in Form eines sicheren Ortes, wo Menschen sich auch öffnen und ihre Erfahrungen thematisieren können. Ich werde aber schlecht Menschen durch gesprächsterapeutische Ansätze unterstützen können, wenn sie anschließend in ihre Erstaufnahmeeinrichtung zurückkehren und sich zu sechst ein Zimmer teilen. Da ist dann alles, was Richtung Offenheit und Auseinandersetzung geht, eher bedrohlich. Daher muss so ein familientherapeutischer Ansatz auch immer reflektieren, was Stabilisierung in einem politischen Sinne bedeutet.
Wie können denn Lehrerinnen und Lehrer erkennen, dass einer ihrer Schüler möglicherweise traumatisiert ist, d.h. auf welche Symptome können sie achten?
Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, weil die Symptome gerade von langfristigen Traumatisierungen sehr breit gefächert sind und teilweise auch anderen Hintergründen entsprechen können. Zum Beispiel haben wir es im Bereich Aufmerksamkeit und Verhalten auch mit Symptomen zu tun, die im schulischen Kontext oft als Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) klassifiziert werden. Oder wir haben es mit Symptomen zu tun, die eher einem depressiven Verhalten und Erleben entsprechen. Das heißt, es ist gar nicht so einfach, rein von den Symptomen auszugehen, um auf eine Traumatisierung zu schließen. Gerade im Kontext von Flucht würde ich Lehrkräfte ermuntern, nicht nur auf die Kinder und Jugendlichen zu achten, die in ihrem Verhalten äußerst ausagierend sind und ihnen besonders auffallen, sondern gerade auch auf hochangepasste Kinder und Jugendliche. Eine Lehrerin hat das im Gespräch so beschrieben: "Diese Schüler kennen die Regeln schon, bevor sie ausgesprochen wurden. Und manchmal zeigen diese Kinder und Jugendlichen sogar die richtige Menge an Störverhalten, damit sie bloß gar nicht auffallen." Da ist etwas dran, denn viele Kinder und Jugendliche haben verinnerlicht, dass sie nur dann eine Überlebenschance haben, wenn sie permanent funktionieren – und das darf man im Kontext von Flucht als subjektives Erleben ruhig wörtlich verstehen.
Ein wesentliches Merkmal von traumatisierten Kindern und Jugendlichen, auf das Lehrkräfte achten können, ist, dass sie in ihren Verhaltensweisen unberechenbar erscheinen, manchmal emotionale Durchbrüche in Form von Aggressivität oder großer Traurigkeit zeigen, manchmal auch schon gar nicht mehr ansprechbar wirken, so als ob sie in einem anderen Film seien – dissoziativ würde man das in der Fachsprache nennen. Und das Zweite, worauf Lehrkräfte auch achten dürfen und sollten, ist ihre eigene emotionale Beteiligung. Fühlen sie sich zum Beispiel in der Arbeit mit bestimmten Kindern und Jugendlichen völlig hilflos? Oder haben sie auf einmal den ganz starken Impuls ein bestimmtes Kind am liebsten mit nach Hause nehmen zu wollen? Auch wenn das gar nicht zu ihrer Professionalität passt, erscheinen diese emotionalen Beteiligungen nicht zufällig. Und sie sind bedeutsam, um zu erkennen, wie viel Last und auch welche Form von Last auf diesen Kindern und Jugendlichen liegt.
Teilweise kann man auch Traumadiagnostikverfahren im schulischen Kontext anwenden. Das ist aber in der Schule noch nicht weit verbreitet und auch nicht so pauschal zu empfehlen. Stattdessen raten wir in Lehrerbildungen und -fortbildungen dazu, die Ressource des pädagogischen Teams zu nutzen. Im Gespräch mit anderen Lehrkräften bekommt man erstens viel mehr Informationen darüber, was ein Kind oder ein Jugendlicher schon erlitten hat. Zweitens wird es möglich, sich dem emotionalen Erleben eines Kindes oder Jugendlichen anzunähern. Wir benutzen zum Beispiel in unserem Ansatz von Fallverstehen die Form der Perspektivübernahme, das heißt, dass Lehrkräfte Ich-Sätze formulieren, die beschreiben, wie es einem Kind gehen könnte. Man kann darüber sicherlich nicht die gesamte Gefühlswelt erschließen, aber man kann einiges rekonstruieren. Drittens können sich Lehrkräfte im Team darüber austauschen, was in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Fluchtgeschichte bei ihnen selbst passiert. Sie können gemeinsam überlegen, warum sie sich in der Arbeit mit einem bestimmten Schüler manchmal so ohnmächtig, hilflos, wütend oder aggressiv fühlen. Das hat auch eine entlastende Funktion für die Fachkräfte selbst. Denn so wie Kinder und Jugendliche mit Fluchtgeschichte oft den Satz verinnerlicht haben: "Mich versteht sowieso keiner", so haben oft auch Lehrkräfte die Ansicht verinnerlicht: "Meine Arbeit und die Belastung mit den Kindern versteht sowieso keiner." Dass das nicht so ist, erfährt man häufig erst im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Deshalb ist die entscheidende Schnittstelle, wie Lehrkräfte Kinder und Jugendliche mit möglicherweise traumatischen Erfahrungen genauer wahrnehmen können, das Fallverstehen im Team. Dort kann auch überlegt werden, was Lehrerinnen und Lehrer im Hinblick auf Stabilisierung und Unterstützung, auf Förderung, aber manchmal auch auf Passivität, auf Einfach-mal-sein-lassen anbieten können.
Was können Lehrerinnen und Lehrer tun, die zu dem Schluss gekommen sind, dass einer ihrer Schüler traumatisiert ist? Können sie einen Schulpsychologen kontaktieren, der sich das Kind bzw. den Jugendlichen einmal anschaut?
Natürlich können sie sich an einen Schulpsychologen wenden. Lehrkräfte dürfen ihre eigene Professionalität aber auch ernst nehmen. Denn diese Form von Beziehungsdiagnostik, die man ja nur machen kann, wenn man ein Kind auch langfristig kennt – die Beobachtung im Unterricht, die Beobachtung im Gespräch mit dem Kind, die Wahrnehmung von Emotionen oder manchmal auch fast gänzlich fehlender Emotionalität bei einem Kind – die kann kein Schulpsychologe in ein oder zwei Schulstunden machen, sondern die können nur Lehrkräfte machen, die die Kinder und Jugendlichen langfristig kennen.
Haben Sie Handlungsempfehlungen, wie sich Schulen auf die Anwesenheit von traumatisierten Kindern und Jugendlichen einstellen können?
Es gibt sicherlich nicht ein oder zwei Handlungsempfehlungen, die dazu führen, dass alles gut läuft, aber es gibt einige grundlegende Ideen, die die Situation verbessern können. Spezifische Angebote wie Willkommens- oder Sprachlernklassen sollten als Teil der Schulentwicklung verstanden werden und nicht als ein Extraangebot, das irgendwie nebenher läuft. Viele didaktische Modelle, die in den Sprachlern- oder Willkommensklassen ausprobiert werden, haben oft sogar Modellcharakter für den Umgang mit Heterogenität im Schulalltag. Es ist sehr wichtig, dass sich die Lehrkräfte der Sprachlernklassen und der Regelklassen austauschen, um nicht zuletzt die Übergänge von den Sprachlernklassen in die allgemeinen Klassen gut zu gestalten. Bislang ist das Gestalten dieser Übergänge eines der Hauptprobleme. Darüber hinaus kann man auch im Schulgebäude viel Sicherheit schaffen, indem man das Gebäude möglichst übersichtlich gestaltet. Zum Beispiel kann es für neue Schülerinnen und Schüler, die eventuell sogar aus einem anderen Land stammen, sehr beängstigend sein, wenn sie die Toilette nicht finden. Da kann man durch basale Dinge Abhilfe und damit Sicherheit schaffen.
Didaktisch ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler morgens bereits wissen, was im Laufe des Tages passieren wird. Zum Beispiel sollten die Schüler direkt morgens erfahren, wenn die Klassenlehrerin oder eine andere wichtige Bezugsperson krank ist. Manchmal sitzen Schüler bis viertel nach acht im Klassenzimmer und bekommen dann erst die Auskunft, dass die Lehrerin krank ist. Das freut sicherlich einige Schüler, weil sie so eine Viertelstunde länger frei hatten. Für traumatisierte Kinder und Jugendliche bedeutet das aber eine Viertelstunde Unsicherheit und Angst, weil für sie der Klassenlehrer oft die einzige Bezugsperson außerhalb vom Wohnheim ist, die die Verbindung zur aufnehmenden Gesellschaft schafft. Man kann nicht verhindern, dass der Klassenlehrer einmal krank wird, aber man durch klare Informationen Sicherheit schaffen. Und schließlich brauchen wir strukturelle Bedingungen für die Fachkräfte selbst, Möglichkeiten der Reflexion und der eigenen Sicherheit und Unterstützung etwa durch Schulbehörden, aber auch durch die Schulleitung, denn wenn die Fachkräfte nicht in einigermaßen emotional sicheren Bedingungen arbeiten, werden sie diese schwierige Arbeit schlecht machen können.
Sie verwenden in diesem Kontext auch den Begriff der Traumapädagogik. Was verstehen Sie darunter?
Also vor allen Dingen heißt Traumapädagogik, sichere Beziehungen zu schaffen, die durch Transparenz gekennzeichnet sind und traumatische Erfahrungen nicht tabuisieren müssen, die gleichzeitig aber nicht übergriffig sind. Übergriffig sind Beziehungen dann, wenn Schülerinnen und Schüler aus einer Bedürftigkeit der Lehrperson heraus in eine regressive Beziehung gedrängt werden, also permanent in einer emotionalen Abhängigkeit gehalten werden, nach dem Motto: "Ich bin der Einzige, der dich versteht. Daher muss jedes Problem mit mir geteilt werden." In der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen kann es leicht passieren, dass Lehrkräfte eine solche eigene Bedürftigkeit entwickeln und meinen, dass nur sie dieses Kind verstehen könnten und nur sie die einzig wichtige Ansprechperson seien.
Die genannten Aspekte sollten ja im Prinzip nicht nur für den Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen gelten, sondern für die pädagogische Arbeit im Allgemeinen.
Völlig richtig. Das ist einer der Leitsätze von Traumapädagogik: Was für traumatisierte Kinder und Jugendliche gut ist, kann für die anderen nicht schlecht sein. Der einzige Unterschied ist, dass die genannten Aspekte für traumatisierte Kinder und Jugendliche entwicklungsnotwendig sind, für die anderen sind sie entwicklungsförderlich, aber nicht ganz so essenziell. Wenn da die Lehrer-Schüler-Beziehung misslingt, gibt es vielleicht noch genügend andere stabile Beziehungen in ihrem Leben. Für traumatisierte Kinder, und das gilt nun ganz speziell für Kinder mit Fluchterfahrung, vor allem unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, ist aber die Lehrer-Schüler-Beziehung oft die einzige, die wirklich Stabilität gewährleisten kann.
Gibt es Statistiken oder Schätzungen dazu, wie viele geflüchtete Kinder und Jugendliche in Deutschland traumatisiert sind?
Die Zahl zu bestimmen ist nahezu unmöglich. Es gibt schon Statistiken auf der Basis psychiatrischer Diagnostiken. Ich würde dem aber nicht so richtig trauen, weil diese Statistiken mit der Kategorie der Posttraumatischen Belastungsstörung arbeiten. Wenn man es aus pädagogischer Sicht betrachtet, dann haben wir es bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen fast durchgängig mit Menschen mit hohen Belastungserfahrungen zu tun. Das heißt nicht, dass sie alle innerlich traumatisiert sind, weil manche von ihnen auch erstaunlich resilient sind, das heißt, die Fähigkeit besitzen, ihr inneres Gleichgewicht selbst wieder zu finden und sie so trotz hoher Belastung ihr Leben ziemlich gut bewältigen können. Gleichwohl gibt es auch viele Kinder und Jugendliche, die sehr resilient wirken, bei denen aber ein hohes Maß an innerer Belastung besteht, die jedoch gar keinen Ausdruck finden kann, solange die äußere Situation unsicher ist. Wichtig ist das Bewusstsein dafür, dass wir es insgesamt mit einer Risikogruppe zu tun haben. Das hat nichts mit Pathologisierung zu tun, sondern mit dem Respekt vor der sozialen Erfahrung der Kinder und Jugendlichen mit Zwangsmigrationshintergrund. Ihre Geschichten bedürfen einer besonders reflektierten pädagogischen Beziehung. Wie viel Prozent der geflüchteten Kinder und Jugendlichen tatsächlich traumatisiert sind, ist für mich dabei nahezu unerheblich.
Wenn Sie den Aspekt der Resilienz ansprechen, dann wird noch einmal ganz deutlich, dass es nicht darum geht, ob außenstehende Dritte ein oder mehrere Erlebnisse in der Biografie einer Person als traumatisch deuten, sondern wie die betroffene Person ihre Erfahrungen selbst deutet und verarbeitet, weil der Grad dessen, was als traumatisch empfunden wird, sicherlich sehr unterschiedlich ist.
Richtig, rein von außen – und da kann man jetzt auch vom Thema Flucht weggehen – haben wir auch Kinder und Jugendliche mit relativ kleinen belastenden Erfahrungen, die aber durchaus traumatisiert sein können. Trauma ist und bleibt am Ende also ein sehr subjektives Geschehen. Fluchterfahrungen sind immer schwer belastend, aber was sie mit den Einzelnen machen, kann man tatsächlich nur individuell erschließen.
Dr. David Zimmermann ist Juniorprofessor für Pädagogik bei Verhaltensstörungen an der Leibniz Universität Hannover. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählt der Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen im Schulalltag. focus Migration hat mit ihm über dieses Thema gesprochen.
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