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Altern in der Migrationsgesellschaft: Neue Ansätze in der Pflege – kultursensible (Alten-)Pflege und Interkulturelle Öffnung
Gabriella Zanier
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In Zukunft wird es in Deutschland immer mehr Pflegebedürftige mit einer Migrationsbiographie geben. Einrichtungen der Altenpflege sind gefordert, sich auf diese Entwicklung einzustellen, um den individuellen Bedürfnissen und Ansprüchen der Pflegebedürftigen gerecht zu werden. Der Beitrag stellt die hierbei zum Tragen kommenden Ansätze der kultursensiblen (Alten-)Pflege und Interkulturellen Öffnung vor.
Forderungen nach kultursensibler Pflege und sogenannter Interkultureller Öffnung sind nicht neu. Bereits Anfang der 1990er Jahre gab es dazu erste Arbeitsansätze in der offenen und stationären Altenhilfe. Auch die Prognosen über eine deutliche Zunahme der Anzahl älterer Migranten waren bereits vor 25 Jahren bekannt. Schon Ende der 1980er Jahre wiesen erste Untersuchungen auf die Schwierigkeiten für ältere Migranten beim Zugang und der Nutzung medizinischer und pflegerischer Dienste sowie sozialer Leistungen hin. Im Jahr 1999 wurde der Arbeitskreis Charta für eine kultursensible Altenhilfe (Vorläufer vom Forum für eine kultursensible Altenhilfe) ins Leben gerufen. Zwei Jahre lang setzte er sich mit der Frage auseinander, welche Barrieren beim Zugang von Migranten zur Altenhilfe bestehen und wie sie überwunden werden könnten. Die Arbeitsansätze dazu wurden im 2002 veröffentlichten Externer Link: Memorandum für eine kultursensible Altenhilfe und der begleitenden Externer Link: Handreichung formuliert. Das Thema blieb jedoch weiterhin eher ein Randthema und gewinnt erst allmählich angesichts einer steigenden Zahl älterer Menschen mit Migrationshintergrund an Aufmerksamkeit. Laut Mikrozensus 2013 haben rund 16,5 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund, etwa 1,5 Millionen davon sind über 65 Jahre alt. Modellrechnungen zeigen, dass ihre Zahl bis 2030 auf 3,6 Millionen ansteigen und sich damit in ca. 15 Jahren mehr als verdoppeln wird. Bereits heute stellen die älteren Migranten die zurzeit am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe dar.
Aufgrund der Arbeitsbedingungen und Migrationsbelastungen ist das Risiko, im Alter pflegebedürftig zu werden, bei der Gruppe der Migranten höher als in der Referenzgruppe der Einheimischen.
Zu den für Migranten spezifischen Belastungen können im Wesentlichen zählen: schwere Arbeitsbedingungen, höheres Unfallrisiko, häufigere Berufskrankheiten, Erwerbslosigkeit (nicht nur wegen geringerer Qualifizierung, sondern auch wegen Berufsunfähigkeit), sozioökonomische Benachteiligung, migrationsbedingte psychische Belastungen z.B. durch Trennungserfahrungen (von der Heimat sowie auch familiären Bindungen), Anpassung an die kulturellen und Systembedingungen des "Aufnahmelandes", Kommunikationsprobleme, Diskriminierungserfahrungen, kulturelle Identifikationskonflikte und Generationsprobleme.
Gleichzeitig verfügen Migranten aber auch über eine Reihe von Ressourcen, die das Risiko einer Pflegebedürftigkeit verringern können. Dazu zählen u.a. im Falle jener, die als "Gastarbeiter" in die Bundesrepublik gekommen sind, die positive Selektion im Hinblick auf den Gesundheitszustand zu Beginn der Migration (guter Gesundheitszustand war Voraussetzung für den Arbeitsvertrag im Aufnahmeland), die ausgeprägte Anpassungsfähigkeit und die Kompensationsmechanismen, die die Migranten entwickelt haben.
Insgesamt haben in Deutschland gut über acht Prozent der im Sinne des SGB XI pflegebedürftigen Personen einen Migrationshintergrund. Diese Zahl erfasst nur die Anfrage von institutionell registrierten Pflegeleistungen, jedoch keineswegs den realen Bedarf. Rund 78 Prozent der Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund bzw. ihre pflegenden Angehörigen nehmen keine Pflegeleistungen in Anspruch. Zudem greifen sie auf ambulante Pflegeleistungen meist erst im fortgeschrittenen Stadium der Pflege zurück und bevorzugen Geldleistungen (79 Prozent ausschließlich Pflegegeld, bei den Pflegebedürftigen ohne Migrationshintergrund 70 Prozent) gegenüber Sach- und Kombileistungen (Pflegegeld plus Sachleistung, d.h. Inanspruchnahme von professionellen Pflegediensten). Das verweist auf Barrieren bei der Inanspruchnahme von Pflegeleistungen, die zum einen aufseiten der Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund und ihrer Angehörigen, zum anderen aber auch aufseiten der Einrichtungen und Dienstleister in der Altenpflege zu finden sind.
Barrieren
Wenn in den Einrichtungen der Altenhilfe die Nachfrage seitens älterer Migranten noch gering ist, darf dies nicht als Indikator für einen geringeren Bedarf gedeutet werden. Vielmehr sollte nach den Gründen für die Diskrepanz zwischen Bedarf und tatsächlicher Nachfrage gesucht werden. Barrieren auf der Seite der Migranten behindern die Wahrnehmung und Nutzung der Unterstützungsangebote wie auch die öffentliche Artikulation ihres Hilfebedarfs.
Zu diesen Barrieren zählen u.a.: Unkenntnisse bzw. fehlende oder falsche Information über die Beratungs- und Hilfsangebote und über Versorgungsansprüche, mangelnde Sprachkenntnisse, Angst vor rechtlichen oder finanziellen Folgen (Einkommen der Kinder wird einbezogen), negative Erfahrungen mit Behörden in Deutschland oder im Heimatland, bürokratische Hürden bei der Beantragung von Pflegeleistungen, Hemmungen/Scham bei der Inanspruchnahme fremder bzw. professioneller Hilfe, soziale Kontrolle innerhalb der Community oder durch Deutsche ohne Migrationshintergrund, Stigmatisierung, Unwissenheit oder Unsicherheit über Inhalt und Gestalt der Hilfe/Pflegeleistungen, Sorge/Misstrauen darüber, dass die eigenen kulturellen und religiösen Bedürfnisse nicht verstanden und nicht berücksichtigt werden, Vorbehalte gegenüber den Wertvorstellungen der Mitarbeiter (Vorurteile).
Auf der anderen Seite verhindern Barrieren der Einrichtungen der Altenhilfe, dass Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund diese in Anspruch nehmen. Oft mangelt es am Verständnis für die spezifischen Bedürfnisse von Migranten.
Zu den Barrieren auf der Seite der Einrichtungen/des Systems zählen z.B. die monolinguale Ausrichtung (Informationsmaterialien und Beratung meist nur auf Deutsch), die Art der Informationsverteilung, die Verständlichkeit des Inhalts des Informationsmaterials (selbst für deutsche Nutzer schwer verständlich), die Unübersichtlichkeit der Hilfsangebote, bürokratische Hürden (Antrag und verschiedene Zuständigkeiten), die mangelnde Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Bedarf von Migranten vor Ort, Unkenntnisse über die Lebenslagen der Migranten, Vorurteile, Leugnung von kulturellen Unterschieden, mangelnde interkulturelle Kompetenz.
Die skizzierte Pluralität und Heterogenisierung der Bevölkerung sind noch nicht in die derzeitigen Strukturen des Altenhilfe- und Gesundheitssystems eingegangen. Diese stehen heute vor der Aufgabe, einen internen Organisationsentwicklungsprozess einzuleiten, um den zunehmend unterschiedlichen kulturellen wie religiösen Bedürfnissen angemessen begegnen zu können.
Die zunehmende Vielfalt der Biographien, Lebensstile und Bedürfnisse erfordert vom Versorgungssystem flexible Strukturen und Abläufe, die Überarbeitung und Differenzierung der Pflege- und Betreuungskonzepte sowie neue Kompetenzen. Der kultursensible Ansatz und die Interkulturelle Öffnung können zu dieser Entwicklung beitragen. Während der Ansatz der kultursensiblen Pflege (wie auch ähnlich gelagerte Ansätze der transkulturellen bzw. ethnospezifischen Pflege) primär auf die Veränderung der Pflegebeziehung zwischen der hilfsbedürftigen Person und dem professionell Pflegenden und damit auf die individuelle Ebene zielt, richtet der Ansatz der Interkulturellen Öffnung seinen Fokus auf eine strukturelle Veränderung der Einrichtung/Organisation.
Kultursensible Pflege
"Kultursensible Pflege trägt dazu bei, dass eine pflegebedürftige Person entsprechend ihrer individuellen Werte, kulturellen und religiösen Prägungen und Bedürfnisse leben kann", heißt es im 2002 veröffentlichten Externer Link: Memorandum für eine kultursensible Altenhilfe.
Die kultursensible Pflege setzt am biographischen Ansatz an und erweitert ihn um soziokulturelle und religiöse Dimensionen.
Der Ansatz der kultursensiblen Pflege bietet keine vorgefertigten Lösungen, sondern basiert auf einem interkulturellen Lernprozess der professionell Pflegenden, der Hilfebedürftigen und deren Angehörigen, der Einrichtung und deren Umfeld. "Interkulturelles Lernen ist ein Prozess, in den alle Beteiligten eingebunden werden müssen", damit ein wechselseitiger Anpassungsprozess sowohl auf der Ebene der Pflegebeziehung als auch auf der Ebene der Einrichtung/Organisation eingeleitet werden kann. Dieser Lernprozess ist dauerhaft angelegt, wird in eine kontinuierliche strukturelle Entwicklung der Einrichtung (Interkulturelle Öffnung) eingebettet und sollte fortwährend weiter geführt werden.
Die Erkenntnisse aus der Anwendung der skizzierten "Bausteine" fließen in einen kontinuierlichen, wechselseitigen und partnerschaftlich angelegten Lernprozess ein und speisen die Weiterentwicklung der professionell Pflegenden, der Einrichtung und der Qualität ihrer Konzepte und Leistungen. Der Lern- und Entwicklungsprozess ist nie abgeschlossen, sondern gilt als fortwährende Aufgabe. Deshalb sind regelmäßige Reflexionsräume und weitere Qualifizierung unentbehrlich. Beim Pflegemanagement muss der dafür notwendige Mehraufwand zeitlich und finanziell eingeplant werden.
Voraussetzung für eine kultursensible Pflege ist die Implementierung eines Prozesses der Interkulturellen Öffnung in der Einrichtung bzw. Organisation, die die individuelle Pflegebeziehung rahmt.
Interkulturelle Öffnung
Der Ansatz der Interkulturellen Öffnung nimmt die Vielfalt der Gesellschaft bewusst wahr und integriert sie in die Organisationsstruktur.
Damit ist der Prozess der Interkulturellen Öffnung ein Veränderungsprozess der gesamten Einrichtung: "Interkulturelle Öffnung ist KEIN Zusatzangebot, sondern betrifft die ganze Organisation und erfordert einen transparenten langfristigen Entwicklungsprozess auf allen Ebenen", heißt es in § 3 des Externer Link: Memorandums für eine kultursensible Altenhilfe. Das bedeutet, dass die Interkulturelle Öffnung im Leitbild der Organisation zu integrieren und als dauerhafter Bestandteil der Qualitätsentwicklung und -sicherung und der Organisationsentwicklung der Institution zu verankern ist. Dazu zählen die Anpassung der internen Strukturen, die Überprüfung und Weiterentwicklung des Personalkonzepts und Qualitätsmanagements, die Optimierung von Abläufen, die Differenzierung der Angebotsgestaltung und der Öffentlichkeitsarbeit sowie der Aufbau von Vernetzung und partizipativen Kooperationsstrukturen.
Es braucht entsprechende zeitliche Ressourcen für die Implementierung der Interkulturellen Öffnung, für die Umsetzung der kultursensiblen Pflege, für die Reflexion und Evaluation der neuen Erfahrungen und nicht zuletzt für die Moderation und Steuerung des Gesamtprozesses. Dazu bedarf es außerdem adäquater personeller Ressourcen, neuer Kompetenzen (von der Gewinnung neuer Mitarbeiter über Fortbildung und Einsatzplanung bis zur Supervision) sowie der Einplanung von adäquaten finanziellen Ressourcen. Die Einbeziehung einer externen Fachberatung kann besonders in der Implementierungsphase sehr hilfreich sein. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung des Interkulturellen Öffnungsprozesses ist, dass sie vom Management gewollt und mit den Mitarbeitern und allen anderen Beteiligten offen diskutiert, abgestimmt und mitgetragen wird. Abbildung 2 zeigt die Schritte auf, die bei der Umsetzung der Interkulturellen Öffnung (von Einrichtungen der Altenhilfe) berücksichtigt werden müssen.
Stand der Umsetzung der Ansätze der kultursensiblen Pflege und der Interkulturellen Öffnung in der Praxis
Trotz ethischer und gesetzlicher Verankerung und vorhandener Kenntnisse über die demografische Entwicklung ist die Umsetzung des kultursensiblen Ansatzes und die Implementierung der Interkulturellen Öffnung in den Einrichtungen noch eine punktuelle Erscheinung. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Sie sind in den Barrieren und Widerständen bei den verschiedenen Akteuren und Entscheidern zu suchen, sowohl in den Einrichtungen selbst, als auch in Kommunen, Ländern, Bundesregierung und Pflegekassen. Zudem ist ganz allgemein anzumerken, dass der Grad der Umsetzung der kultursensiblen Pflege und Interkulturellen Öffnung in den Pflegeeinrichtungen nur schwer messbar ist, denn:
Kultursensible Pflege und Interkulturelle Öffnung sind noch keine wissenschaftlich erprobten und geschützten Standards, sodass jede Einrichtung behaupten kann, kultursensibel zu arbeiten.
Es liegen keine belastbaren Daten zum Stand der Umsetzung der kultursensiblen Pflege und Interkulturellen Öffnung in deutschen Pflegeeinrichtungen vor, sondern nur einzelne Projektberichte oder lokale Untersuchungen (einzelner Kommunen: z.B. Frankfurt/Main, München oder Bundesländer: z.B. Baden-Württemberg, NRW).
Die Ergebnisse der vorhandenen Untersuchungen basieren auf Angaben aus unüberprüfterSelbsteinschätzung der Einrichtungen.
Folglich können über die Anwendung dieser Arbeitsansätze in der deutschen Altenpflegelandschaft nur Schätzungen auf der Basis von punktuellen Erfahrungswerten gemacht werden.
Das Forum kultursensible Altenhilfe beobachtet besonders in den letzten fünf Jahren ein zunehmendes Interesse an der Thematik, das sich auch in einer zunehmende Anzahl von neuen Projekten und Angeboten mit kultursensibler Ausrichtung widerspiegelt. Die Nachfrage nach Beratung, Konzepten und Fortbildungsmöglichkeiten steigt bedeutend. Gesucht wird vielfach der Austausch mit Beispieleinrichtungen. Auch in der Öffentlichkeit und in der Fachwelt wächst das Interesse: Pressartikel, Tagungen, Fachdiskussionen, Fortbildungsangebote, Informationsmaterial in verschiedenen Muttersprachen und wissenschaftliche Abhandlungen greifen das Thema auf. Begrüßenswert ist dabei auch die Auseinandersetzung mit einzelnen zentralen Themen wie Migration und Demenz sowie Sterbebegleitung bei Migranten.
Immer mehr Pflegeeinrichtungen, besonders stationäre, versuchen, in ersten Schritten, die Bausteine der Interkulturellen Öffnung umzusetzen. So wird etwa bei der Personalauswahl der Migrationshintergrund als ein Einstellungskriterium berücksichtigt. Pflegeeinrichtungen sehen in diesem Ansatz die Möglichkeit, dem Personalmangel im Pflegesektor entgegenzuwirken. Sie organisieren zudem zunehmend Fortbildungen zu den Themen kultursensible Pflege und Interkulturelle Öffnung.
In der stationären Pflege ermöglichen manche Einrichtungen z.B. die Ausübung religiöser Rituale durch die Anpassung von Pflegeabläufen und Versorgung (Speiseangebote werden an die Bedürfnisse der Bewohner anderer Herkunft angepasst) und durch die Einrichtung von Gebetsräumen. Einige große Anbieter von Pflegedienstleistungen (z.B. AWO Nürnberg oder Caritas Stuttgart) haben Kultursensibilität und Interkulturelle Öffnung als Querschnittsthema in ihren Einrichtungen eingeführt und einen Organisationsentwicklungsprozess eingeleitet. Sie erproben ihn seit mehreren Jahren mit positiven Ergebnissen. Andere setzen auf kultursensible Pflege und Interkulturelle Öffnung im Rahmen gezielter Maßnahmen vom Land oder der Kommune, beispielhaft sei hier auf die Rahmenkonzeption 2014-2020 zur Interkulturellen Öffnung der stationären Langzeitpflege in München hingewiesen. Noch gibt es jedoch nur wenige Praxisbeispiele.
Im ambulanten Bereich entstehen mehrsprachige Pflegedienste, besonders in Ballungsgebieten. Der Umsetzungsstand ist hier im Vergleich zur stationären Pflege aufgrund der größeren Unübersichtlichkeit und Fluktuation des Marktsegments jedoch noch schwieriger einzuschätzen. An dieser Stelle sei auch angemerkt, dass die Einstellung von mehrsprachigem Fachpersonal allein nicht ausreicht, um Kultursensibilität sicher zu stellen. Denn Merkmale wie Mehrsprachigkeit oder Migrationshintergrund implizieren nicht automatisch die interkulturelle Kompetenz der Mitarbeiter sowie die multikulturelle Besetzung des Personals allein nicht automatisch die interkulturelle Kompetenz des Teams und die Interkulturelle Öffnung der Einrichtung bedeutet. Dies gilt auch für andere Maßnahmen wie z.B. die Übersetzung des Informationsmaterials in verschiedene Sprachen oder der sporadische Kontakt zu Migrantenvereinen bei kulturellen Anlässen.
Es ist verständlich, dass Pflegeeinrichtungen – je nach ihren spezifischen Ausgangsbedingungen – den komplexen Veränderungsprozess der Interkulturellen Öffnung schrittweise angehen. Der häufigere, pragmatische Weg der Umsetzung sowohl in stationären als auch in ambulanten Pflegeeinrichtungen ist die Einführung von Einzelmaßnahmen und die Fokussierung auf wenige ethnonationale Gruppen, zu denen die Einrichtungen – aufgrund ideeller oder konfessioneller Affinitäten oder der vorhandenen Ressourcen (Mitarbeiter der Muttersprache der Klienten) – einen leichteren Zugang haben und einen geringen Aufwand für die Anpassung der Angebote aufbringen müssen. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass es bei den Einzelmaßnahmen bleibt und dass der eigentliche interkulturelle Veränderungsprozess nicht zustande kommt.
Verbände der Altenhilfe haben sich mit der Unterzeichnung des Externer Link: Memorandums (2004-2005) der Selbstverpflichtung für eine kultursensible Ausrichtung ihrer Einrichtungen verschrieben. Bis heute haben jedoch die wenigsten Einrichtungen die kultursensible Pflege als Standard eingeführt und die Interkulturelle Öffnung als gesamtheitlichen Organisationsprozess eingeführt. Dies liegt häufig an Zeitmangel, unzureichenden Ressourcen sowie falschen Annahmen oder Widerständen bei den Pflegeeinrichtungen selbst. Zum anderen ist der zögerliche Verbreitungs- und Umsetzungsstand durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen bedingt.
Diese umfassen z.B.:
zu enge Zeitkorridore und fehlende finanziellen Grundlagen, um den erhöhten Zeitaufwand für die Umsetzung von kultursensibler Pflege und Interkultureller Öffnung abzudecken,
niedrige Personalschlüssel,
fehlende Finanzierung der Fortbildung des Personals in interkultureller Kompetenz oder von Sprachkursen wie Deutsch für die Pflege (Die Fortbildung ist oft eine freiwillige Leistung der Einrichtungen. Die meisten Pflegeeinrichtungen verfügen aber nicht über ein ausreichendes Fortbildungs-Budget für eine durchgängige Qualifizierung des Personals.),
Kultursensibilität und Interkulturelle Öffnung sind nicht als Qualitätskriterien der Pflege anerkannt, folglich auch der zeitliche und finanzielle Aufwand nicht abgedeckt,
fehlende Finanzierung für eine Beratung und Begleitung bei der Umsetzung vor Ort,
keine Sensibilisierung und Qualifikation von Leitungs- und Führungskräften in interkultureller Kompetenz (diese Schlüsselkompetenz ist in den Curricula beruflicher Ausbildung sowohl der Fach- als auch der Leitungskräfte nicht oder kaum vorgesehen).
Auf der System- und politischen Ebene ist das Thema noch nicht wirklich angekommen. Das Thema Alter und Migration bleibt eine Randaufgabe und findet immer noch keine Lobby.
Die meisten Länder und Kommunen haben bis heute noch keinen Rahmenplan für die Umsetzung des gesetzlich verankerten Anspruchs auf die Berücksichtigung der Bedürfnisse nach einer kultursensiblen Pflege (PVG SGB XI § 1 Soziale Pflegeversicherung (4a)) entwickelt. Die verzögernde Haltung lässt einerseits Unsicherheit und Orientierungslosigkeit im Hinblick auf den Umgang mit dem Thema vermuten, andererseits die Befürchtung vor nicht einschätzbaren Auswirkungen auf die Finanzen.
Handlungsbedarf
Der Prozess der Interkulturellen Öffnung und der kultursensiblen Professionalisierung von Altenpflege und Altenarbeit erfordert für eine konsequente Umsetzung einen nicht unerheblichen Aufwand. Dieser kann nur z.T. von den Einrichtungen selbst getragen werden. Der dafür notwendige Bedarf an Zeit und personellen wie finanziellen Ressourcen müsste als Bestandteil der Weiterentwicklung des Systems anerkannt und in die Regelfinanzierung integriert werden. Extrafinanzierung oder Sonderprogramme wären nur eine temporäre und punktuelle Lösung, die der demografischen Veränderung nicht Rechnung tragen würde.
Das Forum für eine kultursensible Altenhilfe – Region Mitte-Süd – hat 2012 mit Vertretern aus Einrichtungen der Altenhilfe und anderen Fachleuten einen Externer Link: Empfehlungskatalog für eine kultursensible Pflege zusammengestellt. Dieser unterbreitet Empfehlungen sowohl für Einrichtungen der Pflege (Teil I), als auch für Politik und Kostenträger (Teil II). Im Folgenden werden aus dem zweiten Teil des Empfehlungskatalogs beispielhaft einige Empfehlungen gekürzt wiedergegeben.
Zur Qualität: Der Mehrwert von kultursensibler Pflege, Beratung und Betreuung sollte als Bestandteil der Qualität der Pflegeleistungen gesetzlich anerkannt und verankert werden. Der für die Umsetzung notwendige Mehraufwand sollte anerkannt und finanziell gesichert sein. Instrumente und Personal für die Ermittlung der Pflegebedürftigkeit sollten kultursensibel ausgerichtet werden. Erste Ansätze sind vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Schulung des Personals eingeleitet worden.
Zu den Strukturen: Das Altenhilfesystem sollte übersichtlich gestaltet (Reduzierung der Zuständigkeitsteilung) und die bürokratischen Hürden der Verfahren reduziert werden. Der interdisziplinäre fachliche Austausch und die Vernetzung und der Aufbau interkultureller Zusammenarbeitsstrukturen zwischen den verschiedenen Akteuren im Pflegesystem und Migrantenstrukturen (u.a. Interner Link: Migrantenselbstorganisationen) könnten z.B. durch eine Koordinationsstelle konsequent gefördert werden.
Zu den Angeboten/Leistungen: Beratungs- und Pflegeeinrichtungen sollten ihre Angebote flexibilisieren und differenzieren (mehr aufsuchende innovative Arbeitsansätze).
Zur Personalentwicklung: Die konsequente Qualifizierung von Personal und Führungskräften in interkultureller Kompetenz sollte nicht allein von den Einrichtungen getragen, sondern zentral (Bund/Land) gefördert werden, ebenso wie die unterstützende Beratung und Begleitung der Einrichtungen bei der Umsetzung der Interkulturellen Öffnung vor Ort. Der Mehraufwand für den Aufbau von Vernetzungs- und Kooperationsstrukturen zu den Migranten würde durch eine entsprechende Förderung von kultursensibler Sozial- und Gemeinwesenarbeit anerkannt.
Zur Datenlage: Die Kulturmerkmale (z.B. Muttersprache und Migrationshintergrund) sollten systematisch von Einrichtungen, Ämtern und Statistik integriert und nach Alterskohorten und Geschlecht differenziert ausgewiesen werden. Die Erfahrungen der Umsetzung von Interkultureller Öffnung und kultursensibler Pflege in Einrichtungen sollten durch Begleitforschung ausgewertet und die Ergebnisse anschließend als Basis für die Weiterentwicklung der Konzepte verwendet werden.
Was ist der Mehrwert der kultursensiblen Pflege und Interkulturellen Öffnung?
Kultursensible Pflege und Interkulturelle Öffnung tragen zur Erweiterung der internen und externen Ressourcen der Einrichtung (Kooperation führt zu gegenseitiger Bereicherung) sowie zur Weiterentwicklung der Kompetenzen (interkulturelle, partizipative, integrative Fähigkeiten der Mitarbeiter) bei. Beide Ansätze können eine konzeptionelle und qualitative Entwicklung der Einrichtungsarbeit und Kreativität und Motivation bei den Mitarbeitern anregen. Sie fördern die Erweiterung und Differenzierung der Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten sowohl in der Pflege wie auch in der Gestaltung der Beziehungen der Einrichtung nach außen (Vernetzungsarbeit und Kooperationsstrukturen). Sie fördern die Flexibilisierung der Strukturen und die Differenzierung der Angebote der Einrichtung und tragen damit zu ihrer Zukunftsfähigkeit bei. Sie fördern Gerechtigkeit und Beteiligung für alle und tragen damit zur Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft und der Demokratisierung bei.
Es wäre wünschenswert, wenn Bund, Länder und Kommunen einen dialogisch ausgerichteten Prozess für die Planung und Umsetzung einer kultursensiblen und interkulturellen Altenhilfe initiieren würden. Dies würde einen begrüßenswerten Schritt zur Konkretisierung von Partizipation, gegenseitiger Integration und Demokratisierung dieses gesellschaftlichen Bereichs darstellen.
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MA Phil., Soziologie, Dipl. Gerontologin, systemische Beraterin, Mitarbeiterin beim Caritasverband Frankfurt e.V. in der offenen Altenarbeit seit 1993, Mitglied des Arbeitskreises Charta für eine kultursensible Altenhilfe (1999-2005) und Mitautorin des Memorandums und der Handreichung für eine kultursensible Altenhilfe, Mitglied beim Forum für eine kultursensible Altenhilfe (2006-2015) und Kontaktstelle für die Regionen Mitte-Süd des Forums. E-Mail: E-Mail Link: Gabriella.Zanier@caritas-frankfurt.de
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