"Wir sind Christen, wir sind Muslime, wir sind Juden, wir sind Charlie!" stand auf den Transparenten der Menschen, die sich am 11. Januar 2015 zur Mahnwache vor dem Brandenburger Tor versammelt hatten, um der Opfer der Terroranschläge von Paris zu gedenken, bei denen vier Tage zuvor zwölf Menschen in und vor der Redaktion des französischen Satire-Magazins "Charlie Hebdo" sowie eine Polizistin auf der Straße und vier weitere Menschen in einem jüdischen Lebensmittelladen von radikal-islamistischen Extremisten getötet worden waren. Die Mahnwache wurde vom Zentralrat der Muslime und der Türkischen Gemeinde in Deutschland organisiert, um ein Zeichen für Toleranz, Meinungsfreiheit, Menschenrechte und gegen religiösen Fanatismus zu setzen. Und um deutlich zu machen, dass die Mörder nicht im Namen von Muslimen, sondern als Repräsentanten einer radikalen Ideologie gehandelt haben. Einer Ideologie, die sich selbst als den wahren Islam propagiert, womit sie seit Jahren auch unzählige Muslime außerhalb des Glaubens platziert und deren Tötung legitimiert. Die überwältigende Mehrheit der Opfer islamistischen Terrorismus sind Untersuchungen zufolge selbst Muslime
Parallel zu diesen deutlichen Positionen und zu den innermuslimischen Reflexionen über Reformen und Auslegungen des Koran, die verdeutlichen, dass die muslimische Welt sich mit der Spannbreite an Deutungen und dem Kampf um Deutungshoheiten auseinandersetzt, wächst die Welle islamfeindlicher, nationaler und rechtspopulistischer Aufmärsche, die sich - als Spaziergänge getarnt - mehrere Monate unter dem Namen PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung Europas) etablierte und sich aus einer heterogenen Bürgerbewegung gegen Überfremdung zusammensetzte. Selbst wenn diese Bewegung sich nicht mehr so stark auf der Straße artikuliert, so hat sie doch gezeigt, welche Dynamik islam- und fremdenfeindliche Positionen erzeugen können und wie stark sich das nationale Selbstverständnis in einem Gegenbezug zu Islam und Muslimen artikuliert, die derzeit pars pro toto für Ausländer und Migranten stehen.
Wenn wir das Integrationsverständnis in Deutschland rückblickend analysieren, so können wir erkennen, dass sich das Integrationsbemühen viel zu lange ausschließlich auf Migranten und ihre Nachkommen konzentriert hat. Dass dabei ganze Teile der Merheitsbevölkerung aus dem Fokus geraten sind und kulturell nicht mit der neuen Identität des Landes Schritt halten konnten, ist nicht unter dem Gesichtspunkt von gesellschaftlicher Desintegration wahrgenommen und debattiert worden. Die Politik hat es verpasst, diesem heterogenen neuen Deutschland ein Narrativ (für eine Definition siehe Infokasten) zu geben, das handlungsleitend wirken konnte. So hielt sich die Vorstellung von Migration als Ausnahme und Notstandssituation, obwohl längst jedes dritte Kind in Deutschland über einen solchen Hintergrund verfügt – und gleichsam deutsch ist.
Narrationen
Narrationen sind Erzählungen bzw. Erzählstrukturen, die Gemeinschaften betreffen und die über Zeit und Raum eine Reproduktion erfahren. Narrationen müssen nicht unbedingt auf empirischen Fakten beruhen, sie können auch auf Deutungen basieren, die erst im Nachhinein oder mit Blick auf ein zukünftiges Ziel interpretiert werden. Sie erhalten durch die Annahme, schon immer so gewesen zu sein, Legitimität und prägen politisches Handeln*. Ihre Funktion liegt in der Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses und somit in der Konstruktion vergangener und gegenwärtiger Wirklichkeit**. Sie sind "zentral für die Darstellung von Identität, für das individuelle Erinnern, für die kollektive Befindlichkeit von Gruppen, Regionen, Nationen, für ethnische und geschlechtliche Identität"***.
* Vgl. Foroutan (2014).
** Vgl. Klein/ Martínez (2009).
*** Müller-Funk (2008), S. 17.
Wie wollen und wie können wir in einer Gesellschaft zusammenleben, die durch Vielfalt gekennzeichnet ist? Das ist eine der zentralen Fragen, die sich angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre aufdrängt, in denen Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden ist – und zwar nicht nur empirisch, sondern auch narrativ. Daran knüpft auch die Frage an, wie der Integrationsbegriff in einer heterogenen, durch kulturelle, ethnische, religiöse und nationale Vielfalt und plurale Lebensvorstellungen geprägten Gesellschaft neu gedacht werden kann.
Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers