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Welche Folgen hat das weltweite Wachstum der Städte für die Migrationsverhältnisse? | bpb.de

Welche Folgen hat das weltweite Wachstum der Städte für die Migrationsverhältnisse?

Jochen Oltmer

/ 7 Minuten zu lesen

Skyline von Schanghai (© picture alliance/Eventpress )

Interner Link: Hier finden Sie eine aktualisierte Fassung dieses Beitrags.

Entwicklung von "Mega-" und "Metacities"

Im Jahr 2008 überstieg weltweit nach Angaben der UN erstmals die Zahl der Stadtbewohner jene der Landbewohner. 2050 werden wahrscheinlich mehr als zwei Drittel (72 Prozent, also 6,3 Milliarden) der Erdbevölkerung in Städten leben .Um 1900 lagen 9 von 10 der weltweit größten Städte in Europa bzw. in den USA. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich die Urbanisierung weltweit verstärkt, wobei vor allem die städtische Bevölkerung in den Ländern der "Dritten Welt" sprunghaft anstieg. 1950 zählten weltweit nur zwei Städte jeweils mehr als 10 Millionen Einwohner. Heute gibt es 23 solcher "Megacities", von denen sich nur 5 im "globalen Norden" und 18 in Entwicklungs- bzw. Schwellenländern befinden. Aller Voraussicht nach werden bis 2025 weitere 14 dieser Agglomerationen hinzukommen .Weit vorangeschritten ist zudem bereits die Entwicklung gigantischer "Mega-Regionen" (oder "Metacities", definiert als städtische Räume mit mehr als 20 Millionen Einwohnern). Sie entstehen, weil einzelne Megacities zusammenwachsen oder Megacities mit anderen Metropolitanregionen in der Umgebung verschmelzen. Bereits im Jahr 2015 wird voraussichtlich die japanische Mega-Region Tokio-Nagoya-Osaka-Kyoto-Kobe 60 Millionen Menschen umfassen (die Distanz Tokio-Kobe beträgt knapp 430 km; mehr als ein Viertel der japanischen Bevölkerung lebt in Tokio, knapp die Hälfte in dieser Mega-Region). In Brasilien erstreckt sich ein Gürtel von großstädtischen Agglomerationen von São Paulo bis Rio de Janeiro mit rund 43 Millionen Bewohnern, die Mega-Region Hongkong-Shenzhen-Guangzhou zählt gar eine Bevölkerung von 120 Millionen. Kennzeichen der Mega-Regionen ist vor allem ihre ökonomische Kapazität: Die 40 größten städtischen Konzentrationen umfassen weniger als 18 Prozent der Weltbevölkerung, bündeln aber zwei Drittel der weltweiten ökonomischen Aktivitäten und ragen als technologische und wissenschaftliche Innovationszentren hervor .

Tabelle 2:
Entwicklung der städtischen Agglomerationen mit mehr als 10 Millionen Einwohnern 2011
Einwohnerzahl (in Mio.)Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate (in %)
19701990201120251970-19901990-20112011-2025
Quelle: UN World Urbanization Prospects. The 2011 Revision.
AfrikaLagos (Nigeria)1,44,811,218,96,084,083,71
Kairo (Ägypten)5,69,111,214,72,421,001,98
Asien Tokio (Japan)23,332,537,238,71,670,640,27
Delhi (Indien)3,59,722,732,95,074,032,67
Shanghai (China)6,07,820,228,41,304,522,43
Mumbai (Indien)5,812,419,726,63,802,202,12
Peking (China)4,46,815,622,62,143,962,66
Dhaka (Bangladesch)1,46,615,422,97,864,022,84
Kalkutta (Indien)6,910,914,418,72,261,331,87
Karachi (Pakistan)3,17,113,920,24,153,162,68
Manila (Philippinen)3,58,011,916,34,071,892,26
Osaka – Kobe (Japan)9,411,011,512,00,800,190,33
Guangzhou (China)1,53,110,815,53,456,012,54
Shenzhen (China)0,00,910,615,518,4411,892,71
NordamerikaNew York - Newark (USA)16,216,120,423,6-0,031,121,05
Los Angeles – Long Beach – Santa Ana (USA)8,410,913,415,71,310,991,13
Lateinamerika Mexiko-Stadt (Mexiko)8,815,320,424,62,791,381,32
São Paulo (Brasilien)7,614,819,923,23,311,421,08
Buenos Aires (Argentinien)8,110,513,515,51,301,200,98
Rio de Janeiro (Brasilien)6,9,612,013,61,841,050,93
EuropaMoskau (Russ. Föderation)7,19,011,612,61,171,220,56
Istanbul (Türkei)2,86,611,314,94,302,582,00
Paris (Frankreich)8,29,310,612,20,640,620,97

Verstädterung in regionaler Perspektive

Noch wesentlich stärker als die Megacities werden allerdings die kleinen und mittelgroßen Großstädte unter 500.000 Einwohnern wachsen .Das weltweite Ansteigen des Umfangs der städtischen Bevölkerung findet bis 2030 zu vier Fünftel in Afrika und Asien statt, sie wird sich hier von 1,7 Millionen auf 3,4 Millionen verdoppeln. Der weitaus größte Teil der Stadtbevölkerung wird also auch weiterhin in weniger entwickelten Ländern leben, deren städtische Bevölkerung sich nach Schätzungen der UN von heute 2,6 auf 2050 dann 5,2 Milliarden verdoppeln soll. Wie rapide das Wachstum der Stadtbevölkerung dabei in den vergangenen Jahrzehnten verlief und zukünftig verlaufen wird, verdeutlichen einige wenige Angaben für die afrikanische Bevölkerung: 1910 soll die Zahl der afrikanischen Stadtbewohner bei nur 4 Millionen gelegen haben, 2007 lag sie bei 373 Millionen, 2030 werden es wahrscheinlich 770 Millionen sein .

Anteil der städtischen Bevölkerung nach Regionen (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Ein Großteil der Städte und urbanen Agglomerationen wuchs in Afrika, Asien oder Südamerika in den vergangenen Jahrzehnten ungeplant, die Infrastruktur (Straßen, Wasserver- und -entsorgung, Elektrizität, Müllentsorgung) entwickelte sich meist mit einer wesentlich geringeren Dynamik als der Umfang der städtischen Bevölkerung. Große soziale Probleme und die Bildung von Slums begleiteten diesen Prozess. Slums lassen sich definieren als informelle, meist übervölkerte Siedlungen, die gegenzeichnet sind durch prekäre Bausubstanz, wenig ausgebaute Infrastruktur und geringen Schutz vor Witterungseinflüssen und vor Eindringlingen. Gegenwärtig leben weltweit wahrscheinlich fast eine Milliarde Menschen in Slums, mit riesigen Unterschieden in der Verteilung über die Regionen der Welt: Vor allem im sub-saharischen Afrika zählt mit mehr als zwei Dritteln der größte Teil der Städter zu den Slum-Bewohnern, für Asien wird eine Rate von zwei Fünfteln angenommen .Dennoch bieten die Städte auch in Zukunft weiterhin für viele Menschen attraktive Zuwanderungsziele: Sie sind Zentren von Wirtschaftswachstum und Innovation, hier gibt es besonders viele und sehr differenzierte Erwerbsmöglichkeiten im formellen und informellen Sektor, die Gesundheitsversorgung ist in der Regel ebenso besser wie das Angebot an Gütern des täglichen Bedarfs oder die Bildungsmöglichkeiten . Neben dem natürlichen Bevölkerungswachstum wird deshalb auch in Zukunft das Wachstum der Städte zu einem guten Teil Ergebnis von Land-Stadt-Wanderungen sein .

Land-Stadt-Wanderungen am Beispiel Chinas

In welchem Maß die forcierte Einbeziehung einer Volkswirtschaft in den Weltmarkt im Kontext einer raschen ökonomischen Globalisierung auf das Städtewachstum, die Land-Stadt-Wanderungen bzw. überhaupt die intra- und interregionalen Migrationen rückwirken kann, zeigt das Beispiel der Volksrepublik China. Als 1976 mit Mao Zedong die Gründungsfigur der Volksrepublik starb, lebten 82 Prozent der Gesamtbevölkerung in ländlichen Distrikten. In den 1980er Jahren begann die ökonomische Umwälzung, die die schrittweise Einführung marktwirtschaftlicher Elemente mit einer Öffnung gegenüber dem Weltmarkt verband und in den 1990er Jahren immer stärker auf die Förderung des Exports als Wachstumsmotor setzte. Die rasche Industrialisierung des Landes führte zu einer rapiden Urbanisierung: 2009 hatte der Anteil der Stadtbewohner bereits über 46 Prozent erreicht, das entsprach 620 Millionen Menschen. 2011 lebte dann erstmals mehr als die Hälfte der Bevölkerung Chinas in Städten. Viele der neuen Stadtbewohner waren aber nur geduldet, weil sie zwar als Arbeitskräfte unabdingbar schienen, nicht aber über die nötigen Zuzugsgenehmigungen verfügten .46,5 Prozent aller Beschäftigten in den Städten waren 2007 Arbeitswanderer aus ländlichen Distrikten. Zumeist handelte es sich um Menschen im besten Erwerbsalter, nur ein kleiner Teil der Land-Stadt-Migranten hatte ein Alter von 40 Jahren überschritten. Im Jahr 2010 lag die Zahl der Land-Stadt-Wanderer Volkszählungsergebnissen zufolge bei 221 Millionen . Überwiegend arbeiteten sie im produzierenden Gewerbe, im Baugewerbe, im Handel- und im Gaststättengewerbe – umgekehrt bedeutete die Konzentration auf solche Gewerbe eine Monopolisierung bestimmter Erwerbsbereiche durch Land-Stadt-Arbeitswanderer: Laut den Angaben der Volkszählung des Jahres 2000 kamen 80 Prozent aller Arbeitskräfte im Baugewerbe und 68 Prozent jener im produzierenden Gewerbe aus den Reihen der interregionalen Arbeitswanderer.

Die Richtung der Migrationsbewegungen hat sich seit den 1990er Jahren nicht wesentlich verändert: Zielorte der Binnenmigranten sind die megaurbanen Regionen im Perlflussdelta, Shanghai, das Yangzi-Delta sowie die Peking/Tianjin-Region, die sich entlang der chinesischen Ostküste erstrecken. Die Provinzen, die die meisten Binnenwanderer aufnehmen, sind Guangdong, Zhejiang, Jiangsu und Shandong . Das südostchinesische Guangdong nahm im Jahr 2004 allein rund 28 Prozent aller Arbeitswanderer vom Land auf . Diese stellten fast 43 Prozent der Gesamtbevölkerung der Provinz . Über die Zusammensetzung der Land-Stadt-Zuwanderung gibt es widersprüchliche Angaben: Männer scheinen lange die interregionale Migration geprägt zu haben, seit Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts hat der Anteil der Frauen aber zugenommen. Immer noch aber soll der Männeranteil bei zwei Dritteln liegen . Weil in aller Regel Erwerbstätige wanderten, blieben die Kinder häufig in den Herkunftsgebieten in der Obhut von Verwandten. Nach neueren Schätzungen liegt die Zahl der zurückbleibenden Kinder bei 58 Millionen – ein wichtiges soziales Phänomen, das jüngst etwas an Bedeutung verloren hat, weil Arbeitswanderer zunehmend häufiger ihre Kinder mit in die Städte nehmen (können), wo sie bessere Bildungsmöglichkeiten vorfinden .

Land-Stadt-Arbeitswanderer sind auch weiterhin meist in informellen Segmenten des Arbeitsmarkts beschäftigt. Diese bleiben gekennzeichnet durch hohe gesundheitliche Belastungen, schwere körperliche Anstrengungen und schwierige Lohnbedingungen: Die interregionalen Migranten arbeiten in der Regel länger für deutlich weniger Geld als die Arbeitskräfte, die dauerhaft in den Städten leben. Die z.T. miserablen Lohn- und Arbeitsbedingungen werden von den lokalen Behörden häufig geduldet, um die Neuansiedlung von Firmen zu ermöglichen . Darüber hinaus akzeptieren auch die Arbeitswanderer, die zumeist über verwandtschaftlich-bekanntschaftliche Netzwerke vermittelt werden, diese Bedingungen, weil die Löhne jene in den Herkunftsgebieten zumeist weit übersteigen und die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft oder im ländlichen Kleingewerbe keineswegs besser sind.

Viel spricht dafür, dass der Umfang der interregionalen Wanderungen in China noch steigen wird, wenn das – regional höchst ungleich verteilte – Wachstum von Industrieproduktion und Dienstleistungen anhält. Das ökonomische Wachstum ist in den küstennahen städtischen Ballungsräumen auf die Zuwanderung vom Land bzw. aus den kleineren Städten angewiesen. Das chinesische Beispiel lässt das hohe wirtschaftliche Potenzial der interregionalen Migration deutlich werden: Sie verringerte in den vergangenen Jahren Erwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung in einigen Teilen des Landes und versorgte zugleich Regionen, die über einen hohen Arbeitskräftebedarf verfügten, der regional nicht gedeckt werden konnte, mit dringend benötigten Arbeitskräften. Vermutlich hat die interregionale Migration in den vergangenen Jahren das Wachstum des Bruttosozialprodukts Chinas zu ca. 16 Prozent getragen. Darüber hinaus schickten chinesische Land-Stadt-Wanderer allein im Jahr 2005 Lohnersparnisse im Umfang von 30 Milliarden US-Dollar an zurückbleibende Familienmitglieder. Sie haben auf diese Weise die Auswüchse ländlicher Armut vermindert und möglicherweise auch einen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung in den weniger entwickelten Gebieten Chinas geleistet . Es steht zu erwarten, dass mit der absehbaren Stagnation der chinesischen Bevölkerung und deren Rückgang ab den 2020er Jahren, dem zu beobachtenden Anstieg der Lohnkosten und der beschleunigten Hebung des Wohlstandsniveaus, das zur Entwicklung einer rasch an Umfang zunehmenden Mittelschicht führt, China zukünftig zunehmend Ziel von grenzüberschreitender Migration werden wird.

Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Globale Migration in der Zukunft".

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Birch/Wachter (2011, S. 3); United Nations Department of Economic and Social Affairs, Population Division (2012b, S. 3).

  2. United Nations Department of Economic and Social Affairs, Population Division (2012b, S. 7).

  3. United Nations Human Settlement Programme (2008, S. 8).

  4. Martine et al. (2008, S. 6f.).

  5. Fourchard (2011, S. 223).

  6. López Moreno (2011).

  7. Hanna/Hanna (2009); Saunders (2010, S. 23).

  8. Im Überblick: Zlotnik (2006); Hugo (2006); Cerrutti/Bertoncello (2006).

  9. Hierzu s. im Detail: Fan (2011); Luo (2012); Gransow (2012).

  10. Gransow (2012, S. 3).

  11. Gransow (2012, S. 3).

  12. Shen (2011).

  13. Junyong (2011, S. 145).

  14. Hussain/Wang (2010, S. 139-141f.).

  15. Opitz (2011, S. 24-30); Wing Chan (2011, S. 91-99).

  16. Fu Keung Wong et al. (2007).

  17. Luo/Yue (2010).

  18. Koser (2011, S. 167f.)

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jochen Oltmer für bpb.de

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Dr. phil. habil., geb. 1965, ist Apl. Professor für Neueste Geschichte und Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.


Der Autor dankt Vera Hanewinkel, Kristina Jäger und Martha Quis für intensive Recherchen sowie viele Hinweise und Anregungen. E-Mail: E-Mail Link: joltmer@uni-osnabrueck.de