Welche Folgen hat das weltweite Wachstum der Städte für die Migrationsverhältnisse?
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Entwicklung von "Mega-" und "Metacities"
Im Jahr 2008 überstieg weltweit nach Angaben der UN erstmals die Zahl der Stadtbewohner jene der Landbewohner. 2050 werden wahrscheinlich mehr als zwei Drittel (72 Prozent, also 6,3 Milliarden) der Erdbevölkerung in Städten leben
Tabelle 2: Entwicklung der städtischen Agglomerationen mit mehr als 10 Millionen Einwohnern 2011 | ||||||||
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Einwohnerzahl (in Mio.) | Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate (in %) | |||||||
1970 | 1990 | 2011 | 2025 | 1970-1990 | 1990-2011 | 2011-2025 | ||
Quelle: UN World Urbanization Prospects. The 2011 Revision. | ||||||||
Afrika | Lagos (Nigeria) | 1,4 | 4,8 | 11,2 | 18,9 | 6,08 | 4,08 | 3,71 |
Kairo (Ägypten) | 5,6 | 9,1 | 11,2 | 14,7 | 2,42 | 1,00 | 1,98 | |
Asien | Tokio (Japan) | 23,3 | 32,5 | 37,2 | 38,7 | 1,67 | 0,64 | 0,27 |
Delhi (Indien) | 3,5 | 9,7 | 22,7 | 32,9 | 5,07 | 4,03 | 2,67 | |
Shanghai (China) | 6,0 | 7,8 | 20,2 | 28,4 | 1,30 | 4,52 | 2,43 | |
Mumbai (Indien) | 5,8 | 12,4 | 19,7 | 26,6 | 3,80 | 2,20 | 2,12 | |
Peking (China) | 4,4 | 6,8 | 15,6 | 22,6 | 2,14 | 3,96 | 2,66 | |
Dhaka (Bangladesch) | 1,4 | 6,6 | 15,4 | 22,9 | 7,86 | 4,02 | 2,84 | |
Kalkutta (Indien) | 6,9 | 10,9 | 14,4 | 18,7 | 2,26 | 1,33 | 1,87 | |
Karachi (Pakistan) | 3,1 | 7,1 | 13,9 | 20,2 | 4,15 | 3,16 | 2,68 | |
Manila (Philippinen) | 3,5 | 8,0 | 11,9 | 16,3 | 4,07 | 1,89 | 2,26 | |
Osaka – Kobe (Japan) | 9,4 | 11,0 | 11,5 | 12,0 | 0,80 | 0,19 | 0,33 | |
Guangzhou (China) | 1,5 | 3,1 | 10,8 | 15,5 | 3,45 | 6,01 | 2,54 | |
Shenzhen (China) | 0,0 | 0,9 | 10,6 | 15,5 | 18,44 | 11,89 | 2,71 | |
Nordamerika | New York - Newark (USA) | 16,2 | 16,1 | 20,4 | 23,6 | -0,03 | 1,12 | 1,05 |
Los Angeles – Long Beach – Santa Ana (USA) | 8,4 | 10,9 | 13,4 | 15,7 | 1,31 | 0,99 | 1,13 | |
Lateinamerika | Mexiko-Stadt (Mexiko) | 8,8 | 15,3 | 20,4 | 24,6 | 2,79 | 1,38 | 1,32 |
São Paulo (Brasilien) | 7,6 | 14,8 | 19,9 | 23,2 | 3,31 | 1,42 | 1,08 | |
Buenos Aires (Argentinien) | 8,1 | 10,5 | 13,5 | 15,5 | 1,30 | 1,20 | 0,98 | |
Rio de Janeiro (Brasilien) | 6, | 9,6 | 12,0 | 13,6 | 1,84 | 1,05 | 0,93 | |
Europa | Moskau (Russ. Föderation) | 7,1 | 9,0 | 11,6 | 12,6 | 1,17 | 1,22 | 0,56 |
Istanbul (Türkei) | 2,8 | 6,6 | 11,3 | 14,9 | 4,30 | 2,58 | 2,00 | |
Paris (Frankreich) | 8,2 | 9,3 | 10,6 | 12,2 | 0,64 | 0,62 | 0,97 |
Verstädterung in regionaler Perspektive
Noch wesentlich stärker als die Megacities werden allerdings die kleinen und mittelgroßen Großstädte unter 500.000 Einwohnern wachsen
Ein Großteil der Städte und urbanen Agglomerationen wuchs in Afrika, Asien oder Südamerika in den vergangenen Jahrzehnten ungeplant, die Infrastruktur (Straßen, Wasserver- und -entsorgung, Elektrizität, Müllentsorgung) entwickelte sich meist mit einer wesentlich geringeren Dynamik als der Umfang der städtischen Bevölkerung. Große soziale Probleme und die Bildung von Slums begleiteten diesen Prozess. Slums lassen sich definieren als informelle, meist übervölkerte Siedlungen, die gegenzeichnet sind durch prekäre Bausubstanz, wenig ausgebaute Infrastruktur und geringen Schutz vor Witterungseinflüssen und vor Eindringlingen. Gegenwärtig leben weltweit wahrscheinlich fast eine Milliarde Menschen in Slums, mit riesigen Unterschieden in der Verteilung über die Regionen der Welt: Vor allem im sub-saharischen Afrika zählt mit mehr als zwei Dritteln der größte Teil der Städter zu den Slum-Bewohnern, für Asien wird eine Rate von zwei Fünfteln angenommen
Land-Stadt-Wanderungen am Beispiel Chinas
In welchem Maß die forcierte Einbeziehung einer Volkswirtschaft in den Weltmarkt im Kontext einer raschen ökonomischen Globalisierung auf das Städtewachstum, die Land-Stadt-Wanderungen bzw. überhaupt die intra- und interregionalen Migrationen rückwirken kann, zeigt das Beispiel der Volksrepublik China. Als 1976 mit Mao Zedong die Gründungsfigur der Volksrepublik starb, lebten 82 Prozent der Gesamtbevölkerung in ländlichen Distrikten. In den 1980er Jahren begann die ökonomische Umwälzung, die die schrittweise Einführung marktwirtschaftlicher Elemente mit einer Öffnung gegenüber dem Weltmarkt verband und in den 1990er Jahren immer stärker auf die Förderung des Exports als Wachstumsmotor setzte. Die rasche Industrialisierung des Landes führte zu einer rapiden Urbanisierung: 2009 hatte der Anteil der Stadtbewohner bereits über 46 Prozent erreicht, das entsprach 620 Millionen Menschen. 2011 lebte dann erstmals mehr als die Hälfte der Bevölkerung Chinas in Städten. Viele der neuen Stadtbewohner waren aber nur geduldet, weil sie zwar als Arbeitskräfte unabdingbar schienen, nicht aber über die nötigen Zuzugsgenehmigungen verfügten
Die Richtung der Migrationsbewegungen hat sich seit den 1990er Jahren nicht wesentlich verändert: Zielorte der Binnenmigranten sind die megaurbanen Regionen im Perlflussdelta, Shanghai, das Yangzi-Delta sowie die Peking/Tianjin-Region, die sich entlang der chinesischen Ostküste erstrecken. Die Provinzen, die die meisten Binnenwanderer aufnehmen, sind Guangdong, Zhejiang, Jiangsu und Shandong
Land-Stadt-Arbeitswanderer sind auch weiterhin meist in informellen Segmenten des Arbeitsmarkts beschäftigt. Diese bleiben gekennzeichnet durch hohe gesundheitliche Belastungen, schwere körperliche Anstrengungen und schwierige Lohnbedingungen: Die interregionalen Migranten arbeiten in der Regel länger für deutlich weniger Geld als die Arbeitskräfte, die dauerhaft in den Städten leben. Die z.T. miserablen Lohn- und Arbeitsbedingungen werden von den lokalen Behörden häufig geduldet, um die Neuansiedlung von Firmen zu ermöglichen
Viel spricht dafür, dass der Umfang der interregionalen Wanderungen in China noch steigen wird, wenn das – regional höchst ungleich verteilte – Wachstum von Industrieproduktion und Dienstleistungen anhält. Das ökonomische Wachstum ist in den küstennahen städtischen Ballungsräumen auf die Zuwanderung vom Land bzw. aus den kleineren Städten angewiesen. Das chinesische Beispiel lässt das hohe wirtschaftliche Potenzial der interregionalen Migration deutlich werden: Sie verringerte in den vergangenen Jahren Erwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung in einigen Teilen des Landes
Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers
Dr. phil. habil., geb. 1965, ist Apl. Professor für Neueste Geschichte und Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.
Der Autor dankt Vera Hanewinkel, Kristina Jäger und Martha Quis für intensive Recherchen sowie viele Hinweise und Anregungen. E-Mail: E-Mail Link: joltmer@uni-osnabrueck.de
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