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Folgen des Bevölkerungsanstiegs für die weltweiten Migrationsverhältnisse | bpb.de

Folgen des Bevölkerungsanstiegs für die weltweiten Migrationsverhältnisse

Jochen Oltmer

/ 12 Minuten zu lesen

Der Umfang der Weltbevölkerung wird auch in den kommenden Jahrzehnten weiter ansteigen. Aber in welchem Maße? Und was folgt daraus für die weltweiten Migrationsbewegungen? Ein Blick in die Zukunft der globalen Migrationsverhältnisse.

Menschenmassen auf der Lu Nanjing Road, größte Einkaufsstraße von Shanghai, China, Asien. (© picture-alliance, imageBROKER/bildbaendiger)

Immer mehr Menschen

Drei Milliarden Menschen bevölkerten im Jahr 1960 nach Angaben der Interner Link: Vereinten Nationen (engl. United Nations – UN) die Erde. 1974 waren es vier Milliarden und 1987 fünf Milliarden. Mit der Wende zum 21. Jahrhundert umfasste die Weltbevölkerung sechs Milliarden, im Jahr 2020 schließlich rund 7,8 Milliarden. Legt man ein mittleres Szenario zugrunde, dürfte sie nach UN-Angaben 2030 einen Umfang von 8,5 Milliarden haben. 2050 wird sie demnach wohl bei 9,7 Milliarden liegen und 2100 bei 10,9 Milliarden. Im Vergleich zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das durch ein sehr hohes Wachstum der Weltbevölkerung gekennzeichnet war, heißt das: Die Zahl der Menschen weltweit wächst im 21. Jahrhundert weiter, aber die Dynamik des Anstiegs lässt sehr deutlich nach. Andere Vorausschätzungen gehen sogar davon aus, dass 2070 bis 2080 die Weltbevölkerung ihren Höchststand erreicht haben (mit ca. 9,8 Milliarden Menschen) und danach absinken wird (auf 9,5 Milliarden im Jahr 2100).

Die Annahme, der Rückgang der Weltbevölkerung trete früher ein als in den Vorausschätzungen der UN errechnet, beruht vor allem darauf, dass andere Einflussfaktoren berücksichtigt werden: Der weltweit beschleunigte Ausbau von Bildungsmöglichkeiten und die weiterhin erheblich ansteigende Bildungsteilhabe von Mädchen und Frauen werden zu einem weitaus stärkeren Rückgang der Geburtenraten führen, als bislang vermutet worden sei. Dieser Faktor könne möglicherweise sogar dazu beitragen, dass die Weltbevölkerung bereits 2055 bis 2060 mit 8,9 Milliarden einen Höhepunkt erreichen und mit dem Ende des Jahrhunderts auf 7,8 Milliarden absinken werde. Global werde also bald nicht mehr über die politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Folgen des rapiden Bevölkerungsanstiegs diskutiert werden, Interner Link: sondern über die Bedeutung einer rasch strukturell älter und kleiner werdenden Weltbevölkerung.

Legt man die von manchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für deutlich zu hoch gehaltenen Bevölkerungsvorausschätzung der UN zugrunde, ist die Entwicklung der Weltbevölkerung gegenwärtig und voraussichtlich auch in den kommenden Jahrzehnten von zwei Trends gekennzeichnet, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Im (relativ) reichen Norden der Welt stagniert sie bereits wegen der niedrigen Geburtenrate und wird tendenziell sinken. Außerdem wird die Bevölkerung hier immer älter werden, weil der Anteil junger Menschen abnimmt und die Lebenserwartung weiter ansteigt. Im (relativ) armen Süden hingegen nimmt der Umfang der Bevölkerung erheblich zu, wenngleich der Anstieg sich deutlich verlangsamt. Dort wächst der Anteil der jungen Menschen zunächst noch weiter.

Der weitere Anstieg der Weltbevölkerung wird dementsprechend auch in der Zukunft beinahe ausschließlich durch das Wachstum in den Gesellschaften mit einer ärmeren und armen Bevölkerung hervorgerufen. Das gilt nach UN-Angaben vor allem für das Afrika südlich der Sahara, das bis ins Jahr 2100 zur bevölkerungsreichsten Region der Erde werden könnte. Die UN geht hier von einer Verdreifachung der Bevölkerungszahl aus. Insgesamt lebten 2019 etwa 6,4 Milliarden Menschen in Ländern mit einer ärmeren oder armen Bevölkerung, 2050 wohl rund 8,5 Milliarden. Die Bevölkerung der 47 am wenigsten entwickelten Staaten der Welt, von denen 33 in Afrika liegen, wird sich dabei von derzeit einer Milliarde auf 1,9 Milliarden im Jahr 2050 beinahe verdoppeln und bis 2100 auf drei Milliarden ansteigen. In Europa, Ostasien, Südamerika und der Karibik dürfte bis 2100 zugleich ein Rückgang der Bevölkerungszahl eintreten.

Die Weltbevölkerung wächst, aber langsamer

Hintergrund für die geschilderte Verlangsamung und schließlich für den Stopp des Weltbevölkerungswachstums ist die fortschreitende globale Angleichung der Geburtenraten. Durchschnittlich bringen Frauen gegenwärtig 2,5 Kinder zur Welt, wobei die Rate in den Ländern der Subsahara mit 4,6 am höchsten und in Europa und Nordamerika mit 1,7 am niedrigsten ist. Nach den Vorausberechnungen der UN wird der durchschnittliche Wert bei Annahme eines mittleren Szenarios bis 2050 auf weltweit 2,2 und bis 2100 auf 1,9 erheblich absinken. Zwar gelten Kinder in vielen Gesellschaften weiterhin als ökonomische und soziale Ressource, die einen Beitrag zum Haushaltseinkommen, zur Alterssicherung der Eltern und ihrem gesellschaftlichen Ansehen leisten. Gleichzeitig gewinnen Bildung und Ausbildung immer weiter an Bedeutung und die Aufwendungen für (insbesondere zahlreiche) Kinder steigen. Dies wird zunehmend auch als Einschränkung individueller Handlungsmöglichkeiten verstanden – vornehmlich von Frauen, denen in vielen Gesellschaften weiterhin die Familien- und Sorgearbeit hauptsächlich zugewiesen wird.

Immer mehr Migrantinnen und Migranten?

Vielfach wird behauptet, das Niveau der globalen Migrationsbewegungen sei in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vor dem Hintergrund einer beschleunigten Globalisierung deutlich angestiegen – und werde zukünftig weiter in erheblichem Maße ansteigen. Diese Annahme lässt sich bestätigen und zugleich entkräften – je nachdem, welche Angaben man nutzt und ob man auf die Zahl der je unterschiedlich definierten Interner Link: Migrantinnen und Migranten weltweit schaut oder auf ihren Anteil an der Weltbevölkerung.

Nationale und internationale statistische Behörden messen durchaus sehr Unterschiedliches, wenn sie Bewegungen von Menschen als Migration erfassen. Teilweise werden Bestandszahlen ("migration stock") erhoben, teilweise Bewegungen ("migration flows"). Bei Bestandszahlen berücksichtigen die statistischen Ämter alle im Aufenthaltsland gemeldeten Menschen, die dort nicht geboren sind oder über keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung verfügen beziehungsweise sich länger als eine bestimmte Zeit dort aufhalten. Die relevante Frist beträgt manchmal drei Monate, manchmal sechs oder zwölf Monate. Zur Messung des Bewegungsumfangs werden hingegen keine Aufenthalte, sondern Grenzübertritte auf der Basis von Angaben über den Aufenthaltszweck gezählt (also keine touristischen Reisen oder Tages- und Wochenpendler einbezogen).

Auch die Qualität der Daten ist in höchstem Maße verschieden: Die UN halten die Migrationsdaten von 45 ihrer Mitgliedsländer für verlässlich, das heißt: von weniger als einem Viertel aller Staaten weltweit. Jede Angabe über den Stand der globalen Migrationsverhältnisse bringt mithin erhebliche Unsicherheiten mit sich.

Blickt man nun aus der Warte der Angaben zum Bestand auf die globalen Migrationsverhältnisse, wuchs die Zahl der Migrantinnen und Migranten in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten mehr oder minder parallel zur Weltbevölkerung an: Nach Schätzungen der UN betrug die Zahl der Menschen, die seit mindestens zwölf Monaten in einem anderen Land als ihrem Herkunftsstaat lebten, im Jahr 2000 rund 173 Millionen, erreichte 2010 etwa 222 Millionen und 2019 ca. 272 Millionen (bei einem Männeranteil von 52 Prozent und einem Frauenanteil mit 48 Prozent). Die absolute Zahl der von der UN erfassten Migrantinnen und Migranten stieg folglich in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark an. Ihr relativer Anteil an der Weltbevölkerung vergrößerte sich wegen des allgemeinen Bevölkerungswachstums nur moderat: von 2,8 auf 3,5 Prozent. Unter den 272 Millionen Migrantinnen und Migranten des Jahres 2019 lebten 82 Millionen in Europa, 59 Millionen in Nordamerika und 49 Millionen im Raum Nordafrika/Westasien. Im Vergleich deutlich zurück blieben demgegenüber Subsahara-Afrika mit 24 Millionen, Zentral- und Südasien mit 20 Millionen, Lateinamerika mit zwölf Millionen und Ozeanien mit neun Millionen.

Diese Angaben auf der Basis von Bestandszahlen deuten bereits die erhebliche Ungleichverteilung in der weltweiten Migrationstopographie an: Im Globalen Norden zählen unter jeweils 100 Einwohnerinnen und Einwohnern zwölf zu den grenzüberschreitenden Migrantinnen und Migranten, im Globalen Süden sind es demgegenüber mit zwei unter 100 wesentlich weniger. In der Bevölkerung Subsahara-Afrikas erreichte der Anteil der Migrantinnen und Migranten 2019 nur 2,2 Prozent, lag sowohl in Zentral- und Südasien, in Ost- und Südostasien und in Lateinamerika noch darunter, jedoch in Nordafrika und Westasien (9,4 Prozent), Ozeanien (12,4 Prozent), Europa (elf Prozent) und Nordamerika (16 Prozent) erheblich höher.

Zwei Drittel aller Menschen, die nach den Kriterien der UN als Migrantinnen und Migranten gelten, fanden sich in nur 20 Ländern, darunter an erster Stelle die USA mit 51 Millionen sowie an zweiter Stelle Saudi-Arabien und die Bundesrepublik Deutschland (jeweils ca. 13 Millionen), schließlich folgen Russland (ca. zwölf Millionen) und Großbritannien (rund zehn Millionen). Unter den Geburtsländern der Migrantinnen und Migranten ragten Indien (17,5 Millionen), Mexiko (11,8 Millionen) sowie China (10,7 Millionen) und Syrien (8,2 Millionen) hervor.

Wie die relativ hohe Bedeutung des an Bewohnerinnen und Bewohnern recht kleinen Syriens als Herkunftsland bereits deutlich werden lässt, berücksichtigt die UN unter dem Begriff "Migrant" auch Menschen, die nach den Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 als "Flüchtlinge" beziehungsweise "Asylsuchende" kategorisiert worden sind. Sie machten unter den 272 Millionen grenzüberschreitend wandernden Menschen des Jahres 2019 rund 29 Millionen aus, also etwas mehr als ein Zehntel.

Entgegen verbreiteter Vorstellungen: Süd-Nord-Migration auf niedrigem Niveau

In einer aufwändigen Studie unternahm das "Vienna Institute of Demography" 2016 den Versuch, für weltweit 196 Staaten alle Zu- und Abwanderungen zu erschließen, also nicht den Bestand, sondern Bewegungen zu messen. Es fand heraus, dass für die vergangenen Jahrzehnte seit 1960 keine erheblichen Veränderungen des Anteils der Migrantinnen und Migranten an der Weltbevölkerung ausgemacht werden können. Er lag innerhalb von Fünf-Jahres-Perioden seit 1960 recht stabil bei je 0,6 Prozent. Das heißt in absoluten Zahlen beispielsweise für die Jahre von 2005 bis 2010: 41,5 Millionen grenzüberschreitende Migrationen bei einer Weltbevölkerung von rund sieben Milliarden. Nur im Zeitraum von 1990 bis 1995 erreichte der Anteil der Migrantinnen und Migranten mit 0,75 Prozent einen etwas höheren Wert, der insbesondere mit den migratorischen Folgen der Öffnung des "Interner Link: Eisernen Vorhangs" und den weitreichenden Transformationen durch den Interner Link: Zusammenbruch der Sowjetunion erklärt werden kann.

Auffällig sind an diesen Daten nicht nur das relativ niedrige und über Jahrzehnte stabile Niveau der zwischenstaatlichen Migration. Darüber hinaus zeigt sich, dass der größte Teil der Bewegungen innerhalb von Weltregionen wie Westafrika, Südamerika oder Ostasien stattfindet, während Migrationen, die die Grenzen von Weltregionen oder Kontinenten überschreiten, deutlich weniger ins Gewicht fallen. Selbst ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland, der seit Jahrzehnten relativ starke Zu- und Abwanderungen erlebt und zu den weltweit allerwichtigsten Zielländern von Migration überhaupt zählt (s. oben), verzeichnet weit überwiegend Bewegungen aus Europa: Drei Viertel aller Zugewanderten der vergangenen Jahre kamen, sieht man vom Interner Link: Sonderfall 2015 ab, aus Staaten der EU sowie aus anderen europäischen Staaten.

Festhalten lässt sich außerdem, dass der Umfang der Zuwanderungen aus dem ärmeren Süden der Welt nach Europa in den vergangenen Jahrzehnten relativ gering war und Prognosen der UN zufolge in den kommenden Jahren auch nicht signifikant ansteigen wird – eine Feststellung, die gänzlich den Vorstellungen über die vermeintliche Bedrohung "westlicher " Gesellschaften durch "Massenzuwanderungen" aus anderen Weltregionen widerspricht. Im Jahr 2017 erreichten beispielsweise nur rund 66.000 Zugewanderte aus afrikanischen Staaten die Bundesrepublik Deutschland, 38.000 Menschen wanderten zeitgleich nach Afrika ab.

Verantwortlich für das relativ niedrige Niveau globaler Süd-Nord-Migrationen sind vornehmlich drei Aspekte: Mangelnde Ressourcen, fehlende Netzwerke und restriktive Migrationspolitiken. Das Vorhandensein finanzieller Mittel bildet eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung eines individuellen Migrationsprojekts: Es gilt Reisekosten zu bezahlen, und viele (potenzielle) Migrantinnen und Migranten verfügen nicht über die nötigen Ausweisdokumente und Visa, um ihr Herkunftsland zu verlassen und Grenzen von Transit- und Zielstaaten zu passieren. Bewegen sie sich dennoch, sind sie mit deutlich erhöhten Kosten für die Migration konfrontiert, müssen beispielsweise Schlepper teuer bezahlen, Umwege in Kauf nehmen, ihre Bewegung wird verlangsamt, sie unterliegen auf ihrem Weg immer wieder einer Immobilisierung. Zudem ist die Ankunft in einem Zielland meist nicht sofort mit der Aufnahme einer bezahlten Tätigkeit verbunden. Anfangsinvestitionen sind nötig, Sparkapital wird verbraucht, Geld muss geliehen werden.

Eine umfangreiche Befragung der UN-Organisation für Entwicklung (United Nations Development Programme, UNDP) ermittelte im Herbst 2019 Folgendes: Unter jenen Afrikanerinnen und Afrikanern aus 39 Staaten, die Europa erreicht hatten, ohne im Besitz eines Visums zu sein, lag der Durchschnittsverdienst vor Verlassen ihrer Heimatländer um mehr als 60 Prozent höher als der ihrer Altersgenossinnen und -genossen in Afrika. Außerdem hatten sie im Durchschnitt eine drei bis fünf Jahre längere Schulbildung genossen, verfügten also über ein erheblich höheres Bildungskapital. Allerdings haben viele der beruflichen Qualifikationen oder Bildungstitel, über die Migrantinnen und Migranten aus dem Globalen Süden verfügen, in den Ankunftsgesellschaften oftmals einen geringen Wert für die Aufnahme einer Beschäftigung oder für die Weiterqualifikation: Sie gelten als nicht adäquat und werden folglich nicht oder nur begrenzt anerkannt.

Zahlreiche Studien belegen: Armut schränkt die Bewegungsfähigkeit massiv ein. Vor dem Hintergrund einer relativ geringen ökonomischen, politischen und migratorischen Vernetzung zwischen globalem Süden und Norden ist außerdem der Umfang der Kontinente übergreifenden verwandtschaftlich-bekanntschaftlichen Netzwerke in der ärmeren Bevölkerung und damit das verlässliche Wissen über die Chancen eines Aufenthalts im wohlhabenden globalen Norden geringer. Diese Faktoren halten die Zahl der Süd-Nord-Migrantinnen und -Migranten also ebenfalls auf einem relativ niedrigen Niveau.

Gesucht: Fachkräfte und Hochqualifizierte

Relativ offen sind die Grenzen im globalen Norden im Wesentlichen nur für Fachkräfte beziehungsweise für Hochqualifizierte, die meist ebenfalls aus dem globalen Norden kommen. Die auch in der Bundesrepublik Deutschland laufenden Diskussionen um die Zukunft alternder Gesellschaften und über die Möglichkeiten der "Fachkräfteeinwanderung" verdeutlichen, dass sich an einer solchen Orientierung auf Qualifizierte und Hochqualifizierte wohl in den kommenden Jahren und Jahrzehnten wenig ändern wird: Weder die für eine alternde Gesellschaft angenommene sinkende wirtschaftliche Produktivität und ökonomische Innovationsfähigkeit noch die Interner Link: Rekrutierung von Pflegekräften oder ärztlichem Personal für eine Bevölkerung, in der altersbedingte Erkrankungen unaufhaltsam zuzunehmen scheinen, lassen sich durch die Zuwanderung Nicht- oder Geringqualifizierter kompensieren. Häufig übersehen wird allerdings, dass vor allem in den Beschäftigungsbereichen, über die in den verschiedensten Ländern intensiv diskutiert wird, so insbesondere über den Gesundheitssektor, weltweit ein erheblicher Mangel an Fachkräften herrscht. Über die daraus resultierende hohe Konkurrenz und ihre politischen und ethischen Folgen wird nur selten diskutiert, so etwa über das "Auskaufen" von Pflegekräften sowie Ärztinnen und Ärzten aus ärmeren Gesellschaften, die mit hohem steuerlichen Aufwand die Aus- und Fortbildung finanziert haben, durch wohlhabende Gesellschaften des globalen Nordens.

Die ökonomisch führenden Staaten der Welt haben migrationspolitische Muster durchgesetzt, die auf eine weitreichende Kontrolle von Einwanderung zielen: Das sind zum einen die Visa- und Einreisebestimmungen gegenüber jenen potenziellen Zuwanderern, die keine Träger von ("Human"-)Kapital sind. Zum anderen sind es restriktive Aufenthaltsregeln, die beispielsweise in den Golfstaaten auf eine "Rotation" von Arbeitskräften zielen, um Niederlassungsprozesse zu verhindern. In diesen Zusammenhang gehören Verträge mit Herkunftsländern, die vor allem darauf ausgerichtet sind, die Rückkehr jener Zugewanderten zu garantieren, die aus ökonomischen Gründen für nur zeitweilig erforderlich erachtet werden.

Ausblick: Auch zukünftig suchen Menschen Chancen andernorts

Ein solcher Befund widerspricht nicht der Beobachtung, dass räumliche Bewegungen weiterhin für Individuen, Familien und Kollektive ein Instrument bieten, die eigenen Handlungsmöglichkeiten durch die Wahrnehmung von Chancen andernorts zu verbessern. Restriktive Regelungen können Wanderungen nicht gänzlich verhindern. Ökonomisch prosperierende Regionen ziehen weiterhin Menschen an und Zugewanderte tragen, wie zahlreiche Studien belegen, zu ihrer Prosperität bei – nicht zuletzt deshalb, weil diese Arbeits- und Lohnbedingungen in Kauf nehmen, die länger Ansässige in den Zielgesellschaften nicht akzeptieren. Zugleich ist die ökonomische Bedeutung von Migration für die Herkunftsländer im globalen Süden weiterhin hoch. 2018 lagen allein die Geldüberweisungen, die Migrantinnen und Migranten an ihre Verwandten im Globalen Süden schickten, nach Schätzungen der Weltbank bei mindestens 529 Milliarden US-Dollar. Die Beträge übertrafen damit den Umfang der staatlichen Zahlungen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit um fast das Dreifache.

Migration verspricht auch in Zukunft ein Thema intensiver gesellschaftlicher Debatten und politischer Gestaltungsperspektiven zu bleiben. Das beweist das intensive Interesse an Stellungnahmen über mögliche migratorische Effekte in Bezug auf den Klimawandel oder den Mangel an Fachkräften innerhalb zunehmend komplexerer und international eng vernetzter "Wissensgesellschaften ". Gegenwart und Zukunft Deutschlands, Europas und der Welt lassen sich mithin nur unter Berücksichtigung des Wandels der Migrationsverhältnisse zureichend beschreiben.

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Dr. phil. habil., geb. 1965, ist Apl. Professor für Neueste Geschichte und Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.