Zwei konträre Positionen
In Bezug auf die gesellschaftlichen Funktionen von MSOs gibt es in der sozialwissenschaftlichen Diskussion seit den 1980er Jahren in Deutschland zwei konträre Positionen: Entweder werden MSOs als integrationsfördernd oder als integrationshemmend verstanden. Als Bezugsrahmen gilt dabei im Wesentlichen die Frage, welche Wirkungen eine starke Einbindung von Migrantinnen und Migranten in ethnische bzw. herkunftslandbezogene Sozialbeziehungen und Gruppen für deren Teilhabe und Integration in der Ankunftslandgesellschaft hat. Einige Studien wie z.B. die Arbeit von Breton (1964)
Zu einer gegenteiligen Auffassung gelangt der Soziologe Hartmut Esser. Für ihn fördert eine gelungene ethnische Binnenintegration die Gefahr der Abschottung von der Ankunftsgesellschaft (Esser 1986). Zwar kann die Einbindung in die ethnische Eigengruppe kurzfristig erfolgversprechend sein und den Zuwanderern helfen, sich im Ankunftsland zurechtzufinden und in der schwierigen Migrationssituation die eigene Identität zu stabilisieren. Langfristig kann die Orientierung an der eigenethnischen Bezugsgruppe aber zu einer "Falle" werden, die den sozio-ökonomischen Aufstieg der Zuwanderer behindert, da eine erfolgreiche Integration in das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt des Aufnahmelandes nur dann erfolgen kann, wenn sich die Zuwanderer an den Erfordernissen des Aufnahmelandes orientieren.
Jenseits der Diskussion zwischen den beiden Polen, die eine starke Einbindung der Zuwanderer in ihre jeweilige Herkunftsgruppe entweder als integrationsfördernd oder als integrationshemmend verstehen, betonten verschiedene Migrationsforscher, dass die spezifischen Wirkungen von ethnischer Binnenintegration und MSOs viel zu wenig empirisch erforscht seien und keine pauschale Antwort möglich sei, "was insbesondere ihre Funktion als integrationsfördernde Schleuse oder als segregationsfördernde, mobilitätsbehindernde, soziokulturelle Falle betrifft" (Fijalkowski/Gillmeister 1997, S. 29).
Kein Konsens über Funktion und Wirkung von MSOs
Trotz vieler empirischer Einzelstudien zu MSOs seit den 1980er Jahren wurde bisher kein Konsens über deren vorherrschende Funktion und Wirkung erzielt. Es kann resümiert werden, "dass in der wissenschaftlichen Debatte das integrative und desintegrative Potenzial von Selbstorganisationen auf starkes Forschungsinteresse stößt. Dabei werden sie in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion kontrovers beurteilt: Der Vorwurf der Herausbildung und Verfestigung einer Parallelgesellschaft steht der Betonung ihrer Vermittlerrolle und Dienstleistungsfunktionen gegenüber" (Huth 2002, S. 4; vgl. auch Fijalkowski/Gillmeister 1997; Güngör 1999; Jungk 2000; Thränhardt 2000).
Sicherlich steht für einige MSOs die Vertretung von Interessen der Herkunftsländer bzw. -kulturen von Migrierenden im Vordergrund (z.B. bei der vom türkischen Amt für religiöse Angelegenheiten kontrollierten Türkisch Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V., kurz DITIB) oder sie arbeiten bewusst gegen die Integration ihrer Mitglieder im Ankunftsland (z.B. die unter Beobachtung durch den deutschen Verfassungsschutz stehenden Grauen Wölfe)
Charakteristika von MSOs
Migrantenorganisationen können idealtypisch entweder vorrangig als Mitgliederverbände auf das eigene Binnenleben ausgerichtet sein (z.B. ein migrantischer Kulturverein, eine Moscheegemeinde oder ein "Teehaus") oder hauptsächlich als Einflussverband auf die politische oder allgemein gesellschaftliche Geltung und Einwirkung nach außen orientiert sein (z.B. als politischer oder Flüchtlingsverband oder als Repräsentation ethnischer Minderheiten). Wenn eine Migrantenorganisation vorwiegend dadurch charakterisiert ist, dass sich in ihr "Landsleute" treffen, Menschen mit Migrationshintergrund Anerkennung finden und Gemeinsamkeiten hinsichtlich Sprache, Kultur und Interessen teilen, dann überwiegt idealtypisch ihr Bindungs- oder Bonding-Charakter. Wenn eine Migrantenorganisation vor allem auf die Kontaktsuche und Kommunikation mit anderen Verbänden (z.B. Fußballvereinen oder religiösen Verbänden) und staatlichen Einrichtungen (z.B. Integrationsräten oder Ministerien) ausgerichtet ist und durch kollektive Mobilisierung Einfluss auf ihre Umwelt im Ankunfts- und eventuell auch im Herkunftsland nehmen will, dann überwiegt idealtypisch ihr Verbindungs- oder Bridging-Charakter.
Neue Forschungsperspektiven
Seit dem Ende der 1990er Jahre nahm die Forschung zu MSOs in Deutschland wie auch international stark zu.
Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers