Nach Motiven für eine geplante Rückkehr in die Türkei wird in der Studie des Liljeberg- und des INFO-Institutes nicht explizit gefragt. Die Befragten werden lediglich um eine Stellungnahme zu folgender Aussage gebeten: "In der Türkei hätte ich gute Chancen auf einen gut bezahlten Job".
Motive
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Die nach Bildungsstand/Ausbildungsniveau der Interviewten aufgeschlüsselten Ergebnisse zeigen, dass dieser Aussage vor allem Personen zustimmen, die mindestens über das Abitur bzw. einen Hochschulabschluss verfügen. 52 Prozent dieser Personengruppe bejahten diese Aussage und sehen für sich damit gute berufliche Möglichkeiten in der Türkei.
Das Ergebnis, wonach Türkeistämmige mit einem höheren Bildungsabschluss eine ausgeprägtere Mobilitätsbereitschaft zeigen als niedrig(er)qualifizierte Personen, korreliert mit Daten aus Untersuchungen zum allgemeinen Zusammenhang von Bildung und Mobilitätsverhalten. Demnach sind Personen mit akademischem Abschluss mobiler als die Vergleichsgruppe ohne Hochschuldiplom.
Als Abwanderungsmotive nennt die TASD-Studie vor allem ein »fehlendes Heimatgefühl in Deutschland«, »berufliche Gründe« und »wirtschaftliche Gründe«.
Ergebnisse von Sievers et al. verweisen darauf, dass den erbrachten Leistungen von türkeistämmigen Bildungsaufsteigern in Deutschland nicht immer Anerkennung entgegengebracht wird. Die Autoren deuten an, dass ein Mangel an Anerkennung sowohl der Person als auch ihrer Leistungen eine Abwanderung aus Deutschland motivieren kann.
Wirtschaftliche Wanderungsmotive
Ergebnisse aus qualitativen Studien zur Abwanderung hochqualifizierter Türkeistämmiger von Aydın/Pusch (noch nicht abgeschlossen) und Hanewinkel (2010, unveröffentlicht) bestätigen die Aussage der TASD-Studie nicht, wonach unvorteilhafte berufliche Perspektiven in Deutschland für die Befragten einen entscheidenden Migrationsfaktor bilden. Die Mehrzahl der Befragten sei vielmehr vor ihrer Migration in die Türkei auf dem deutschen Arbeitsmarkt gut integriert gewesen. Berufliche bzw. wirtschaftliche (Karriere-)Überlegungen spielten bei der Abwanderung aber dennoch eine wichtige Rolle. Dies betonen vor allem Aydın/Pusch. Zu den wirtschaftlichen Wanderungsgründen zählen Aspekte wie die Aussicht auf bessere Aufstiegschancen im Zielland, ein attraktiverer Job oder eine Verbesserung der finanziellen Situation. Theoretisch werden diese Migrationsmotive vor allem in neo-klassischen Push- und Pull-Modellen aufgegriffen. Dieser Ansatz fokussiert ein gewinnmaximierendes Individuum (homo oeconomicus), das sich unter rationalen Gesichtspunkten und unter Abwägung ökonomischer Vor- und Nachteile zweier Länder für die Migration entscheidet, sofern diese eine Verbesserung der eigenen wirtschaftlichen Situation verspricht. Kritisiert werden diese Modelle insofern, als sie individuelle (emotionale) Wanderungsmotive sowie den Einfluss sozialer Netzwerke (Familie, Verwandtschaft, Freundes- und Bekanntenkreise etc.) auf Wanderungsentscheidungen vernachlässigen.
Im Fall der türkeistämmigen Hochqualifizierten zeigt sich, dass die geographische Mobilität nicht selten auf einen beruflichen und sozialen Aufstieg zielt.
Attraktiv wirkt auch das seit einigen Jahren anhaltend hohe Wirtschaftswachstum in der Türkei. Nach einem konjunkturellen Einbruch in der Wirtschaftskrise 2008/09 erholte sich das Land schnell. Bereits 2010 verzeichnete die türkische Wirtschaft wieder ein beachtliches Wachstum von 8,9 Prozent. Der Aufwärtstrend setzte sich fort. Im ersten Halbjahr 2011 erzielte die türkische Wirtschaft mit durchschnittlich 10,2 Prozent die höchste Wachstumsrate weltweit
Besonders die West-Türkei ist Gewinnerin der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Dadurch bildet sich ein starkes strukturelles Gefälle zwischen dem wirtschaftlich boomenden Westen und dem landwirtschaftlich geprägten Osten. Die Suche nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen zieht große Teile der Landbevölkerung in die Städte. Vor allem Istanbul ist seit Jahren eine der Hauptaufnahmeregionen dieser Land-Stadt-Wanderungen.
Die Westtürkei ist auch das Hauptziel der aus Deutschland abwandernden türkeistämmigen Hochqualifizierten. Die Mehrzahl verschlägt es in Städte wie Izmir oder Istanbul, die als modern, kosmopolitisch und fortschrittlich gelten, westliche Lebensstile und die Aussicht auf einen europäischen Lebensstandard versprechen. Besonders weibliche Abwanderer präferieren diese Zielorte.
"Also ich war mir hundertprozentig sicher mit meinen Qualifikationen, die ich habe, komme ich in der Türkei weiter als in Deutschland. Es gibt hier mehr Frauen an der Spitze als in Deutschland. Ich weiß nicht, ob das jeder weiß, aber es ist wirklich ein ganz wichtiger Hintergrund für mich...also was man beachten sollte einfach."
Diese Einschätzung bestätigt eine Untersuchung der internationalen Unternehmensberatung Hay Group aus dem Jahr 2010. Demnach sind in Deutschland weniger Frauen sowohl in den unteren (Frauenanteil: ca. 20 Prozent) als auch in den Top-Führungspositionen (Frauenanteil: ca. 7 Prozent) vertreten als in der Türkei (untere Führungspositionen: ca. 30 Prozent; Top-Führungspositionen ca. 12 Prozent).
Die in Deutschland erworbenen Qualifikationen finden in der Türkei Anerkennung. In Istanbul befragte türkeistämmige Hochqualifizierte geben an, dass ein an einer deutschen Universität erworbener Bildungstitel in der Türkei hoch angesehen ist. Ebenso profitierten sie von ihren dort erworbenen Fremdsprachenkenntnissen sowie Arbeitserfahrungen in einem deutschen oder internationalen Unternehmen.
Während Sievers et al., Aydın/Pusch sowie die TASD-Studie das Gewicht von wirtschaftlichen Wanderungsmotiven für die Migrationsentscheidung selbst betonen, verweisen Ergebnisse von Hanewinkel (2010) in Bezug auf weibliche türkeistämmige Migrantinnen darauf, dass diese bei der Entscheidungsfindung eine eher untergeordnete Rolle spielen. Ihre Befragten gaben an, vor allem aus emotionalen Gründen in die Türkei gekommen zu sein (s.u.). Der Wunsch, einmal ausprobieren zu wollen, wie es ist, in der Türkei zu leben, wird zu einem essentiellen Teil der eigenen Selbstverwirklichungsidee:
"Es war IMMER Türkei im Hintergrund, also dass ich mal irgendwann wieder zurück will, einfach nur mal um es auszuprobieren, ob es klappt. Also nicht, weil ich unbedingt wieder in die Türkei will, sondern nur, weil ich mich gefragt hab, ob ich mich wohl fühle in Istanbul. […] Ich hab es aber wie gesagt immer über die Jahre im Hinterkopf, also wie so eine Hintertür quasi, die hab ich mir immer offen gehalten."
Verwirklichen und in die Tat umsetzen lässt sich dieser Wunsch aber nur unter der Voraussetzung einer möglichen beruflichen Integration auf dem türkischen Arbeitsmarkt. Praktika während des Studiums – häufig absolviert in der türkischen Niederlassung eines deutschen Unternehmens – führen an den Arbeitsmarkt in der Türkei heran. Bereits die Studienwahl wird von einigen Befragten direkt an den (angenommenen) Bedürfnissen der türkischen Wirtschaft orientiert.
Während der Grund für die Abwanderung also ein emotionaler sein kann, gestaltet sich die Umsetzung des Migrationsvorhabens oft auf eine wirtschaftliche Art und Weise. Gleichzeitig ist anzumerken, dass Wanderungsentscheidungen zumeist nicht aus einem einzigen Grund getroffen werden, sondern dass verschiedene Motivlagen kumulieren, was dazu beiträgt, dass sich die Untersuchung von Migrationsentscheidungen als kompliziert erweist.
Auch wenn wirtschaftliche Faktoren vor der Migration eine durchaus untergeordnete Rolle spielen können und für die Migrationsentscheidung nicht zwangsläufig ausschlaggebend sind, gewinnen sie den Ergebnissen Hanewinkels zufolge nach der Migration an Bedeutung, denn: Die Befragten wollen auf ihren aus Deutschland gewohnten Lebensstandard nicht verzichten. Kurzfristig werden im direkten Anschluss an den Wechsel des Aufenthaltsstaates zwar finanzielle Einbußen in Kauf genommen, langfristig streben aber alle Befragten einen ihrem Leben in Deutschland ähnlichen oder höheren Lebensstandard an. Dies kann nur gelingen, indem sich die Migranten erfolgreich auf dem türkischen Arbeitsmarkt platzieren und eine ihren in Deutschland erworbenen Qualifikationen angemessene Anstellung mit entsprechender Vergütung finden. Vor allem in Städten wie Istanbul, in denen die Lebenshaltungskosten Umfragen zufolge aktuell z.T. diejenigen in deutschen Großstädten übersteigen
Emotionale Wanderungsmotive
Zu den nicht-ökonomischen Wanderungsmotiven zählen vielfältige Aspekte persönlicher "Selbstverwirklichungspläne", die hier nicht umfassend erörtert werden können. Daher werden lediglich einige Akzente gesetzt, die die Bandbreite dieser Motivlagen aufzeigen sollen. Anstoß für die Migration hochqualifizierter Türkeistämmiger geben häufig familiäre und verwandtschaftliche Beziehungen (Netzwerke) in die Türkei, die seit der Kindheit durch Familienurlaube gepflegt wurden. Dadurch entsteht auch das Gefühl, mit dem Leben in der Türkei bereits vertraut zu sein. Gefestigt wird es teilweise auch durch Studienaufenthalte in der Türkei (Auslandsemester). Damit bestätigen sich Ergebnisse der jüngeren Migrationsforschung, wonach Netzwerke, also soziale Kontakte ins Zielland sowie Vorerfahrungen im Ausland, beispielsweise in Form von Studienaufenthalten, Abwanderungsentscheidungen begünstigen.
Das Gefühl, mit dem Leben in der Türkei bereits vertraut zu sein, entsteht auch dadurch, dass viele der Abwanderer die Türkei nicht als Ausland betrachten, sondern sich diesem Land heimatlich verbunden fühlen. Im Gegensatz zur TASD-Studie, die "fehlendes Heimatgefühl in Deutschland" als einen der Hauptabwanderungsgründe ausmacht, weisen die Studien von Aydın/Pusch, Hanewinkel und Sievers et al. auf eine Doppelorientierung der hochqualifizierten Abwanderer türkischer Herkunft hin. Demnach sehen die Befragten nicht entweder Deutschland oder die Türkei als ihre Heimat an, sondern verstehen beide Länder als solche. Über soziale Netzwerke und Medien, aber auch die physische Bewegung selbst (Urlaube, Studienaufenthalte etc.) werden Beziehungen in beide Länder hinein gepflegt. Gestärkt wird ihr Bezug zur Türkei auch durch die eigenen Eltern, die oft als "Gastarbeiter" nach Deutschland kamen. Die Mehrzahl der von Hanewinkel befragten Migrantinnen türkischer Herkunft berichtet davon, in der Kindheit und Jugend durch den Wunsch der Eltern nach einer Rückkehr in die Türkei geprägt worden zu sein. Dieser sei daran sichtbar geworden, dass die Familie symbolisch immer "auf dem Sprung" gelebt habe:
"Zu Hause wurde nur türkisches Fernsehen gehört, es wurden nur türkische Zeitungen gelesen […] alle Pläne meiner Eltern bezogen sich auf die Türkei. Wir haben in Deutschland sehr spartanisch gelebt. Wir haben zum Beispiel nie neue Möbel gekauft. Immer benutzte Möbel, weil wir eh weg wollten. Das war 30 Jahre so, wir wollten 30 Jahre weg und haben keine Möbel gekauft."
Für eine Befragte symbolisiert der Erwerb eines eigenen Hauses schließlich das Eingeständnis, dass der "Traum von der Rückkehr geplatzt" sei. Sie sieht sich selbst als älteste Tochter in der Verantwortung, den Traum ihrer Eltern doch noch in die Realität umzusetzen, der mit der Zeit auch zu ihrem eigenen Wunsch gereift sei.
Ob und inwieweit die Remigration ehemaliger "Gastarbeiter", die oft im Rentenalter erfolgt
Neben familiären Bezügen in die Türkei kann auch eine Partnerschaft oder Heirat mit einer in der Türkei lebenden Person zu einer Abwanderung aus Deutschland führen, sofern sich eine Beziehung z.B. aufgrund der Berufstätigkeit des Partners in der Türkei besser realisieren zu lassen scheint als in Deutschland.
Die Attraktivität Istanbuls mit seinen vielfältigen Lebensstilen stellt einen weiteren emotionalen Grund für die Migration hochqualifizierter Türkeistämmiger in die Türkei dar. Facettenreiche Kultur- und Unterhaltungsangebote, die "kulturelle" Vielfalt der Bevölkerung, aber auch die wirtschaftliche Aufbruchstimmung in der Bosporus-Metropole wirken attrahierend.
"Istanbul war für mich immer eine Traumstadt. […] Also es war die Stadt eher, also Türkei jetzt nicht im Vordergrund unbedingt, es war erst Istanbul und DANN die Türkei vielleicht, also in Klammern die Türkei eher."
Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers
Vera Hanewinkel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück und Redakteurin bei focus Migration.
E-Mail Link: vera.hanewinkel@uni-osnabrueck.de
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