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Der liberale Wandel der deutschen Arbeitsmigrationspolitik seit 2000 | Dossier Migration | bpb.de

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Der liberale Wandel der deutschen Arbeitsmigrationspolitik seit 2000

Holger Kolb Jan Schneider Holger Kolb und Jan Schneider

/ 9 Minuten zu lesen

Das Jahr 2000 gilt vielen Beobachtern der deutschen Migrationspolitik als entscheidende Wegmarke: Mit dem neuen Jahrtausend begann ein in den 1990er Jahren noch auf Abwehr ausgerichtetes und bestenfalls "zögerliches" Einwanderungsland sich nachhaltig zu verändern.

Apotheker der Apotheke am Südstern, Berlin-Kreuzberg (© Susanne Tessa Müller)

Binnen 15 Jahren ist die Bundesrepublik in vielen Bereichen der Migrations- und Integationspolitik zu einem – so die Einschätzung des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) – 'modernen Einwanderungsland' geworden. Als entscheidendes, den Wandel markierendes Ereignis gilt dabei die 1999/2000 erfolgte Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, in deren Rahmen erstmals Grundzüge des für Einwanderungsländer charakteristischen Geburtsortsprinzips (ius soli) bei der Vergabe der Staatsangehörigkeit in das deutsche Recht aufgenommen wurden. Für die Herausbildung der rechtlichen und administrativen Instrumentarien eines über die Interner Link: Europäische Freizügigkeit hinaus arbeitsmarktorientierten Einwanderungslandes bildete allerdings eine andere politische Reform des Jahres 2000 den Ausgangspunkt: die 'Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie', ehemals besser bekannt als deutsche 'Green Card'. Den Hintergrund des hier skizzierten Wandels der deutschen Arbeitsmigrationspolitik bildet ein Bündel an Motiven, die in Kombination die Neuausrichtung der deutschen Politik in diesem Bereich erklären können.

Die Green Card: Ausgangspunkt eines seit Jahren andauernden Reform- und Liberalisierungsprozesses


Bei der sog. Green Card handelte es sich um eine auf fünf Jahre beschränkte und auf maximal 20.000 Personen quotierte Arbeitserlaubnis für Fachkräfte aus den Bereichen der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT). Die Maßnahme wurde als Teil eines Sofortprogramms der Bundesregierung zum Abbau des IKT-Fachkräftemangels per Rechtsverordnung umgesetzt. Zwar werteten Politik und Öffentlichkeit die Interner Link: Green Card weitgehend als Misserfolg, da innerhalb der Laufzeit nur knapp 15.000 Arbeitsgenehmigungen erteilt wurden. Faktisch trug die Initiative jedoch maßgeblich dazu bei, die bis dato für kleine und mittelständische Unternehmen bestehenden Hindernisse zur Beschäftigung ausländischer Fachkräfte auszugleichen. Die Green Card war aber vor allem der entscheidende Katalysator für eine Neuausrichtung der Zuwanderungs- und Integrationsdebatte. Sie führte u.a. zur Einsetzung einer hochrangigen Regierungskommission, zu dem nach langer Beratungszeit im Jahr 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz sowie weiteren Reformen im Bereich der Arbeitsmigration, sowohl auf Verordnungs- als auch auf Gesetzesebene.

Das Zuwanderungsgesetz 2005: Niederlassungserlaubnis für Hochqualifizierte



Zwei Pflegeassistentinnen aus China betreuen eine Bewohnerin im Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt (AWO). (© dpa)

Mit dem Zuwanderungsgesetz (ZuwG) wurde seitens der Bundesregierung erstmals seit dem Anwerbestopp 1973 wieder die prinzipielle Notwendigkeit der Arbeitsmigration für Deutschland anerkannt. Arbeitsmigrationspolitisch relevant war das Gesetz vor allem aufgrund der darin erfolgten Öffnung des Arbeitsmarkts für ausländische Absolventen deutscher Hochschulen und der Schaffung eines privilegierten Zugangs für höchstqualifizierte Akademiker und Selbstständige. War es zuvor für ausländische Absolventen deutscher Hochschulen quasi unmöglich gewesen, nach Studienabschluss im Land zu bleiben, so wurde durch das neue Gesetz eine im Rahmen der Green Card bereits für IKT-Absolventen eingeführte Bleibeoption generalisiert: Fächerübergreifend erhielten nun ausländische Studienabsolventen eine zeitlich befristete Aufenthaltserlaubnis zur Suche eines dem Abschluss angemessenen Arbeitsplatzes. Darüber hinaus wurde im ZuwG für 'besonders Hochqualifizierte' (§ 19 AufenthG) sowie Selbstständige (§ 21 AufenthG) über die Niederlassungserlaubnis eine dauerhafte Lebensperspektive in Deutschland eröffnet. Zwar waren die in Betracht kommenden Gruppen eng definiert (Wissenschaftler bzw. Fachkräfte mit hohem Einkommen) und die Voraussetzungen für die Erteilung der entsprechenden Aufenthaltstitel hoch (bei Selbstständigen etwa eine Mindestinvestition von einer Million Euro und die Schaffung von zehn Arbeitsplätzen), doch leitete dies eine deutliche Öffnung des Arbeitsmarktes für ausländische Fachkräfte ein.

Das Richtlinienumsetzungs- und das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz: Graduelle Weiterentwicklung des Einwanderungsrechts


Weitere Reformschritte folgten 2007 und 2009 als mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz, der Hochschulabsolventenzugangsverordnung und dem Arbeitsmigrationsteuerungsgesetz weitere Zugangsmöglichkeiten für Drittstaatsangehörige zum deutschen Arbeitsmarkt geschaffen wurden. So wurden etwa

  • die Mindestinvestitionssumme für die Zuwanderung von Selbstständigen halbiert,


  • die Mindestgehaltsgrenzen für eine Niederlassungserlaubnis noch einmal deutlich reduziert und schließlich


  • die Vorrangprüfung (die Feststellung, ob Deutsche, Unionsbürger oder andere bevorrechtigte Staatsangehörige für eine Stelle zur Verfügung stehen) für ausländische Absolventen deutscher Hochschulen bei der Jobsuche gestrichen.

Die Umsetzung der Blue Card-Richtlinie und Einführung eines Punktesystems: Vollendung des einwanderungspolitischen Paradigmenwechsels



Diese Öffnung Deutschlands für hochqualifizierte Fachkräfte aus Drittstaaten wurde im Rahmen der Umsetzung der EU-Hochqualifiziertenrichtlinie (Blue Card-Richtlinie) im Jahr 2012 fortgesetzt. Dabei sind zwei Dinge bemerkenswert: Zum einen die Art der Richtlinienumsetzung selbst, denn die Bundesregierung nutzte die in der Richtlinie den Nationalstaaten verbleibenden Spielräume – anstelle der sonst üblichen 1:1-Umsetzung – zu einer möglichst umfassenden zuwanderungsrechtlichen Öffnung des Landes. So wurde etwa auf eine im Rahmen der Blue Card-Erteilung mögliche Vorrangprüfung verzichtet und die Mindestgehaltsgrenzen so niedrig wie unionsrechtlich möglich festgesetzt. Zugleich wurde dabei eine (unionsrechtlich nicht vorgegebene) Reform 'miterledigt', die die deutsche Arbeitsmigrationspolitik nachhaltig verändert hat: die Einführung des § 18c AufenthG, der es Akademikern aus Drittstaaten ermöglicht, für bis zu sechs Monate zur Jobsuche nach Deutschland zu kommen. Damit brach Deutschland mit dem über viele Jahre unangetasteten Dogma der Existenz eines Arbeitsvertrags als Voraussetzung für eine Aufenthaltserlaubnis. De facto ist §18c AufenthG ein einfaches Punktesystem, mit dem das zuvor ausschließlich arbeitgeber- bzw. arbeitsvertragsorientierte Steuerungssystem durch die (vorsichtige) Einführung humankapitalorientierter Elemente ergänzt wurde.

Reform der Beschäftigungsverordnung und Einreiseoptionen zur Nachqualifikation: Das Ende der 'akademischen Arroganz'


Ein weiterer fundamentaler Wandel der deutschen Arbeitsmigrationspolitik wurde 2013 durch die (eher versteckte) Reform der Beschäftigungsverordnung eingeleitet, welche die Zuwanderung nicht-akademisch ausgebildeter Fachkräfte ermöglichte. Auf dieser Grundlage können Drittstaatsangehörigen in sog. Mangelberufen (dazu gehören derzeit z.B. Berufe in der Mechatronik, der Elektrotechnik oder der Kranken- und Altenpflege), deren Berufsqualifikation in Deutschland anerkannt wurde, in die Bundesrepublik zuwandern. Erstmals wurde mit dieser Regelung die u.a. vom SVR als "akademische Arroganz" kritisierte einseitige Fixierung der deutschen Arbeitsmigrationspolitik auf akademische Fachkräfte durchbrochen und das deutsche Zuwanderungsrecht systematisch auch für nicht-akademische Fachkräfte geöffnet. Mit der Einführung des § 17a AufenthG werden darüber hinaus auch Möglichkeiten zur Nachqualifikation in Deutschland geschaffen, sodass auf dieser Basis auch Personen ohne Vollanerkennung ihrer Berufsausbildung nach Deutschland kommen und im Falle einer erfolgreichen Nachqualifikation auch bleiben können.

Notwendig, aber nicht hinreichend: Das Recht und seine Grenzen



Infolge dieses Reformprozesses kann das bereits 2013 von der OECD ausgesprochene Prädikat, dass Deutschland im Bereich der Arbeitsmigrationspolitik zu einer Gruppe von Ländern "among the most open in the OECD" gehört, kaum mehr überraschen. Hinsichtlich der Zuwanderungsvoraussetzungen für qualifizierte und hochqualifizierte Arbeitnehmer, aber auch für Selbstständige, ist Deutschland nunmehr 'konkurrenzfähig' mit vielen anderen Einwanderungsländern. Dennoch hat das liberale Einwanderungsrecht bislang noch nicht die vor dem Hintergrund bereits bestehender bzw. erwarteter Fachkräfteengpässe erhoffte 'Magnetwirkung' erzielen können. Nur in beschränktem Umfang bzw. über Pilotprogramme sind bislang strategische Maßnahmen zur zielgerichteten Anwerbung bestimmter Berufsgruppen (insbesondere medizinisch-pflegerische Fachkräfte) aus dem Ausland zu verzeichnen: Im Rahmen des von der Bundesagentur für Arbeit (BA) und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) durchgeführten Projekts "Triple Win" sollen bis zu 2.000 Migranten aus Serbien, Bosnien-Herzegowina, den Philippinen und Tunesien, die in ihrem Heimatland eine Ausbildung zur Krankenpflegekraft abgeschlossen haben, an deutsche Arbeitgeber vermittelt werden und die Anerkennung als Gesundheits- und Krankenpflegekraft erlangen. Ein ähnliches Projekt wird im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi) durchgeführt und zielt auf die Gewinnung junger Menschen aus Vietnam für eine Ausbildung zur Altenpflegefachkraft in deutschen Einrichtungen.

Der Zuwanderungsboom der letzten Jahre ist vorrangig auf den Zuzug von EU-Bürgern zurückzuführen, für die das Aufenthaltsgesetz wegen der europäischen Freizügigkeit nicht gilt. Als Reaktion auf die durch die Wirtschafts- und Finanzkrise bedingte Massenarbeitslosigkeit in einigen südeuropäischen Staaten ergriff die Bundesregierung auch aktiv Maßnahmen zur Verbesserung der beruflichen Mobilität jünger Menschen innerhalb Europas, die gleichzeitig zur Sicherung des Fachkräftebedarfs in Deutschland beitragen sollten: Bereits in den ersten zwei Jahren haben über 10.000 jungen Menschen die Unterstützung des 2013 aufgelegten Programms "MobiPro-EU" in Anspruch genommen, um entweder als Fachkraft in einem Engpass- bzw. Mangelberuf zu arbeiten oder eine betriebliche Berufsausbildung in Deutschland zu beginnen. Hingegen ist die Zahl der Arbeitsmigranten aus Drittstaaten seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zwar leicht gestiegen, allerdings stagniert sie seit 2011, und der Anteil der Arbeitsmigration an der Gesamtzuwanderung ist weitgehend konstant geblieben. Erhielten laut Migrationsbericht der Bundesregierung im Jahr 2005 nur 18.415 Drittstaatsangehörige einen Aufenthaltstitel zu Erwerbszwecken, so stieg diese Zahl bereits im Folgejahr auf über 30.000, um bis einschließlich 2010 auf ähnlichem Niveau zu verharren. Ein erneuter deutlicher Anstieg war für die Jahre 2011 und 2012 zu verzeichnen, als jeweils mehr als 38.000 Personen aus Drittstaaten als Arbeitsmigranten nach Deutschland kamen. Nach einem Rückgang auf 33.648 Zuwanderer (2013) stieg die Zahl zuletzt wieder auf 38.836 an (2015). Hohe Attraktivität besitzt dabei die Blue Card: Ende 2015 lebten 26.791 Blue Card-Inhaber sowie 8.147 ausländische Staatsangehörige mit einer im Anschluss an eine Blue Card erteilte Niederlassungserlaubnis in Deutschland.

Deutliche Wirkung zeigten auch die neuen Regelungen für ausländische Studierende: So ist die jährliche Zahl der sog. Bildungsausländer, die ein Studium in Deutschland beginnen (mehr als zwei Drittel davon Drittstaatsangehörige), im zurückliegenden Jahrzehnt stark gewachsen, von 53.554 (2006) auf 99.087 (2015), sodass – bei späterem Verbleib und erfolgreichem Berufsübergang – ein großes Potenzial für den Arbeitsmarkt besteht.

Im Kontext des gesamten Wanderungsgeschehens – 2015 zogen mehr als 2,1 Mio. Ausländer nach Deutschland (rund drei Viertel EU-Bürger), während 998.000 fortzogen (Wanderungssaldo: +1.139.000) – macht die durch das Aufenthaltsgesetz geregelte Arbeitsmigration jedoch nur einen Bruchteil aus. Dies deutet darauf hin, dass allein ein liberales Arbeitsmigrationsrecht nicht hinreicht, um Einwanderung im großen Stil zu generieren. Neben strukturellen Faktoren (etwa die geringe Verbreitung der deutschen Sprache im Ausland bei hoher Bedeutung im deutschen Arbeitsleben) wird dies auch auf die zu geringe Kenntnis der im internationalen Vergleich hochgradig liberalen Zuzugsregelungen bei potenziellen Zuwanderern zurückgeführt. Zwar existieren mittlerweile durchaus gelungene und ansprechende Marketingaktivitäten (wie etwa die sich immer mehr als zentrales Informationsportal etablierende Internetseite Externer Link: make-it-in-germany.com), von einem Selbstverständnis als Einwanderungsland mit entsprechender Willkommens- und Anerkennungskultur für Einwanderer ist Deutschland aber noch deutlich entfernt.

Die Verfasser arbeiten in der Geschäftsstelle des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Der Beitrag gibt ihre persönliche Auffassung wieder.

Weitere Inhalte

Holger Kolb, Dr. phil., leitet den Arbeitsbereich Jahresgutachten in der Geschäftsstelle des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).

Jan Schneider, Dr. rer. soc., leitet den Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).