Deutschland war in seiner Geschichte meist Ein- und Auswanderungsland zugleich. Heute gilt dies in besonders starkem Maße, wobei aktuell wegen der stark steigenden Flüchtlingszuwanderung meist nur die Zuzüge öffentlich wahrgenommen werden. Die letzten statistisch genau erfassten Zahlen stammen von 2015. 2.137.000 Menschen kamen in diesem Jahr in die Bundesrepublik, 998.000 verließen sie (Statistisches Bundesamt 2016). Der Wanderungsüberschuss betrug damit 1.139.000 Personen, das war der höchste Wert seit 20 Jahren. Dabei gerät aus dem Blick, dass seit Jahren mehr deutsche Staatsbürger das Land verlassen als zurückkehren. 138.000 Deutsche verließen 2015 das Land, 121.000 zogen zurück. Die heutige Bundesrepublik wird von Wissenschaftlern als "Migrationsland" bezeichnet – als eine Gesellschaft mit einem hohen Anteil an Wanderungen, an Weg- und Zuzüglern gleichermaßen. Ein- und Auswanderung schließen einander keineswegs aus.
Es gibt allerdings Phasen, in denen ein Wanderungsphänomen im Vordergrund steht. Für große Teile des 18. und 19. Jahrhunderts war das die Auswanderung, für große Teile des 20. Jahrhunderts die
Insgesamt wanderten zwischen 1816 und 1914 rund 5,5 Millionen Deutsche in die Vereinigten Staaten aus. In der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis heute waren es noch einmal zwei Millionen. Zwischen 1847 und 1914 stellten Deutsche die stärkste Gruppe der Einwanderer in die Vereinigten Staaten. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierten als Zielland die USA: 90 Prozent der deutschen Auswanderer nach Übersee gingen in die Vereinigten Staaten, mit großem Abstand folgten Kanada, Brasilien, Argentinien und Australien. Die deutschen Häfen Bremen/Bremerhaven und Hamburg übernahmen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts ihre führende Rolle für die kontinentale Auswanderung, als sie zu Transithäfen für die millionenfache Auswanderung aus den unter russischer und habsburgischer Herrschaft stehenden Regionen Ostmitteleuropas wurden. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kamen fast 90 Prozent der Überseeauswanderer, die in deutschen Häfen ein Schiff bestiegen, aus dem Ausland. Deutsche wanderten in dieser Zeit nach 1893 kaum noch nach Übersee aus.
Nach der Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg kam die Überseewanderung ab 1919/20 nur langsam wieder in Gang, bis sie im Inflationsjahr 1923 mit 115.431 Fortzügen abrupt ein absolutes Maximum im 20. Jahrhundert erreichte, um dann bis zur Weltwirtschaftskrise abzusinken. Insgesamt verließen zwischen 1919 und 1932 noch einmal rund 603.000 Deutsche das Land. Die freiwillige Auswanderung blieb auch nach 1933 gering; doch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten kam es zu einer Fluchtbewegung, in deren Verlauf eine halbe Million Emigranten, darunter zirka die Hälfte Juden, Deutschland verlassen mussten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte vor allem die Bundesrepublik millionenfache Zuwanderungen: Acht Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße sowie den früheren deutschen Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa kamen in die Westzonen bzw. die Bundesrepublik. Weitere 3,6 Millionen Menschen siedelten zwischen 1949 und dem Mauerbau am 13. August 1961 aus der DDR in die Bundesrepublik über. In den 1950er Jahren war Westdeutschland zudem Ziel von
Die größte deutsche Auswanderungsbewegung des 20. Jahrhunderts vollzog sich in der Nachkriegszeit quasi im Schatten der weitaus größeren Zuwanderungen von Flüchtlingen, Vertriebenen und DDR-Übersiedlern. Zudem wurde sie in der Rückschau oft als Folge eben dieser Zwangswanderungen der Kriegs- und Nachkriegszeit wahrgenommen. Denn unter den Auswanderern der Nachkriegszeit aus der Bundesrepublik befanden sich mit einem Drittel im Vergleich zu ihrem Anteil an der Bevölkerung von 19 Prozent überproportional viele Flüchtlinge und Vertriebene. Daraus zu schließen, die Auswanderung dieser Zeit sei ausschließlich eine späte Kriegs- und Vertreibungsfolge, würde allerdings zu kurz greifen, zumal es auch in anderen west- und nordeuropäischen Ländern (Niederlande, Skandinavien, Großbritannien) in den 1950er Jahren beträchtliche Auswanderungen gab. Alexander Freund (2004) betrachtet die Zeit als letzte Phase des industriellen nordatlantischen Migrationssystems, das durch den wirtschaftlichen Aufschwung in Nordwesteuropa Ende der 1950er Jahre zum Erliegen kam. In den 1960er und 1970er Jahren sank die Abwanderung deutscher Staatsbürger aus der Bundesrepublik auf historische Tiefstände von teilweise nur noch 20.000 pro Jahr. Ab den 1990er Jahren aber liegt sie wieder konstant über 100.000 pro Jahr, seit 2004 sogar über 140.000 pro Jahr. Mehr als 60 Prozent der Fortziehenden aber wandern nicht mehr in überseeische Länder, sondern bleiben in den Ländern der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraumes.
Eine Auswanderungspolitik, die die Abwanderung aus Deutschland aktiv fördern würde oder zu steuern versuchte, ist im Gegensatz zur Zuwanderungspolitik für den überwiegenden Teil des 19. und 20. Jahrhunderts nicht feststellbar. Generell steht die politische Beschäftigung mit der Auswanderung in den verschiedenen Staatsformen seit 1848 unter dem "Primat der Furcht" (Sternberg, S. 35). Der Furcht davor, durch eine offene staatliche Beschäftigung mit der Migrationsthematik eine als zu hoch empfundene Auswanderung erst hervorzurufen, die volkswirtschaftlich und bevölkerungspolitisch unerwünschte Folgen nach sich ziehen würde. Befürchtet wurde, dass die Falschen das Land verlassen (also je nach zeitgenössischem Schwerpunkt der Diskussion z.B. die Kinderreichen, die Facharbeitskräfte, die Hochqualifizierten). Diese Dominanz der Furcht ist nicht ausschließlich bei der Diskussion um Auswanderung anzutreffen. Wie aus der Einwanderungsgeschichte der Bundesrepublik besonders in den 1970er bis 1990er Jahren ersichtlich ist, prägt sie ähnlich und mitunter weit stärker auch die Zuwanderungsseite des Migrationsdiskurses. Hier tritt ebenso die Furcht vor den ›Falschen‹ in den Vordergrund, in diesem Falle den ›falschen‹ Einwanderern (den Niedrigqualifizierten, ›Unintegrierbaren‹, aus kulturellen und religiösen Gründen Problematisierten). Als Folge dieser Furcht entstand ein Selbstverständnis von vor allem staatlichem Handeln, das einer Illusion von Steuer- und Verhinderbarkeit der Migration nachhängt, und diese Illusion über alle politischen Zäsuren hinweg verfolgt.
Deutsche Regierungen verzögerten gesetzliche Regelungen der Auswanderung. Auswanderungspolitik wurde größtenteils in der Negation betrieben, durch das Unterlassen staatlichen Handelns. In zwei Fällen, 1897 und 1975, wurde ein seit Jahrzehnten geplantes Auswanderungsgesetz erst dann verabschiedet, als die Abwanderung sich wieder auf historischen Tiefständen befand. Aktuell plädieren die Autoren einer empirischen Studie über die Motive von Abwanderern und Rückkehrern dafür, Auswanderung "gesellschafts- und migrationspolitisch nicht einseitig als 'Verlust' zu verstehen, sondern auch als Chance" (SVR-Forschungsbereich, S. 5). Deshalb solle "Mobilität proaktiv gestaltet werden". In der Befragung von 800 Abwanderern und 900 Rückkehrern stellten die Forscher fest, dass über 70 Prozent der heutigen Abwanderer ins Ausland gehen, um neue Erfahrungen zu machen. Rückkehrer nehmen Einbußen im Einkommen hin, um wieder näher an Familie und Partner zu sein. Viele, die einmal temporär ins Ausland gegangen sind, wanderten indes mit hoher Wahrscheinlichkeit mehrfach (SVR-Forschungsbereich, S. 4).
Literatur
Bade, Klaus J. / Oltmer, Jochen (2007): Mitteleuropa/Deutschland, in: dies./Pieter C. Emmer/Leo Lucassen (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn/München, S. 141–170.
Beer; Matthias / Dahlmann, Dittmar (Hg.) (2005): Über die trockene Grenze und über das offene Meer, Essen.
Freund, Alexander (2004): Aufbrüche nach dem Zusammenbruch, Osnabrück.
BAMF (2016): Migrationsbericht 2015 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung, Nürnberg.
Externer Link: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht-2015.pdf.
Steinert, Johannes-Dieter (1995): Migration und Politik. Westdeutschland – Europa – Übersee 1945–1961, Osnabrück.
Sternberg, Jan Philipp (2012): Auswanderungsland Bundesrepublik, Paderborn.
SVR-Forschungsbereich (2015) (Hg.): International Mobil. Motive, Rahmenbedingungen und Folgen der Aus- und Rückwanderung deutscher Staatsbürger.
Externer Link: www.bib-demografie.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Broschueren/int_mobil_2015.pdf?__blob=publicationFile&v=4