Die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seit Mitte der 1950er Jahre stieß Wanderungsprozesse an, die eine starke Eigendynamik entfalteten. Die Bundesregierungen waren über Jahrzehnte nur sehr eingeschränkt in der Lage, diese Prozesse zu steuern. Die Westdeutschen standen dabei von Beginn an skeptisch bis ablehnend einer dauerhaften Zuwanderung gegenüber. Unbeabsichtigte Nebenwirkungen der Niederlassungen von ausländischen Arbeitnehmern und ihrer Familien boten ausreichende Ansatzpunkte für journalistische und politische Skandalisierung. Die türkische Gruppe als größte unter den "Gastarbeitern" hatte sich in zahlreichen Städten eine eigenethnische Infrastruktur geschaffen und war damit die "sichtbarste" Gruppe.
Die ethnische Grenzziehung ist hier am stärksten ausgeprägt, auch im Vergleich zu anderen Zuwanderergruppen wie etwa Italienern. 17 Prozent der westdeutschen und 21 Prozent der ostdeutschen Befragten gaben 2006 in der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) an, sie sähen große kulturelle Unterschiede zu den Italienern, 70 Prozent hingegen zu den Türken.
Umgekehrt geben türkischstämmige Personen an, alltägliche Diskriminierungen und Ausländerfeindlichkeit als persönliches Problem häufiger zu erleben als andere Gruppen.
Zu Beginn der 1960er Jahre wurden Gastarbeiter zunächst in ihrer wirtschaftlichen Funktion wahrgenommen. Unterschiedslos nannte man sie "Südländer", welche die "Völkerwanderung zu Westdeutschlands Lohntüten" angetreten hatten.
Bonn, türkischer Gastarbeiter, 9. November 1970. (© Bundesarchiv, B 145 Bild-F032884-0026 / Fotograf: Lothar Schaack)
Bonn, türkischer Gastarbeiter, 9. November 1970. (© Bundesarchiv, B 145 Bild-F032884-0026 / Fotograf: Lothar Schaack)
Die ausländischen Arbeitskräfte konnten aufgrund ihrer niedrigen Qualifikationen,
Auch waren leistungssteigernde Lohnformen (wie Akkord- und Prämienlohn) bei "Gastarbeitern" wesentlich stärker verbreitet als bei deutschen Arbeitern. Das gleiche galt für Schicht- und Nachtarbeit.
Es gab vor allem in der Anfangsphase der Anwerbung von Türken häufige Klagen der deutschen Arbeitskollegen darüber, dass die Türken beim Auftauchen eines Zeitnehmers an ihrem Arbeitsplatz 'wie verrückt arbeiten´ und dadurch die Akkordsätze verderben. Unter anderem hat in den Betrieben gerade dieses Verhalten zu einer starken Abneigung gegen die Türken geführt."
Die Konfrontation mit der Wirklichkeit (wie niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen, miserable Unterkünfte) führte auch zu Arbeitskämpfen und Konflikten. Beispiele sind die Streiks im Jahr 1962 in Duisburg-Hamborn und Essen, beim Industrietraktorenwerk Deere-Lanz in Mannheim, bei den Automobilzulieferern Karmann in Osnabrück oder Hella in Lippstadt und Paderborn. Erhebliche Aufmerksamkeit fand der "Türkenstreik" bei Ford in Köln-Niehl im August 1973.
Walsum, Gastarbeiterkinder in der Schule, 29. Mai 1962. (© Bundesarchiv, B 145 Bild-F013076-0005 / Fotograf: Ludwig Wegmann)
Walsum, Gastarbeiterkinder in der Schule, 29. Mai 1962. (© Bundesarchiv, B 145 Bild-F013076-0005 / Fotograf: Ludwig Wegmann)
Dort waren inzwischen rund 12.000 türkische Arbeitnehmer beschäftigt, ein Drittel der Belegschaft. "Wie überall, wurden diese Menschen für die am schlechtesten bezahlten und am meisten gesundheitsschädlichen Arbeiten eingesetzt."
Kettenwanderungen
Die Art der Wanderung – Einzel- oder Kettenwanderung – hat wesentlichen Einfluss auf Motive und Erwartungen von Migrantinnen und Migranten und damit auf deren Integrationsverhalten. Einzelwanderer müssen sich sehr viel intensiver auf die Aufnahmegesellschaft einlassen und mit ihr auseinandersetzen als Gruppenwanderer, die darauf vertrauen können, im Aufnahmeland (zumindest für eine Übergangszeit) auf Netzwerke zurückgreifen zu können.
Als Ergebnis dieses Prozesses entstehen "ethnische Kolonien",
Besonders für die türkische Zuwanderung war die Kettenwanderung von großer Bedeutung. Dies erklärt sich einerseits aus einer spezifischen Entsendepolitik der damaligen türkischen Regierungen: Bevorzugt wurden Personen aus Regionen, die von Naturkatastrophen heimgesucht worden waren, sowie ländlichen Regionen "entsandt". Wichtiges Kriterium waren die zu erwartenden Rücküberweisungen in die jeweiligen Regionen.
Eine zweite Erklärung liegt in der überwiegend ländlichen Herkunft der türkischen "Gastarbeiter": Sie sind grundsätzlich stärker in Netzwerke und größere Familienverbünde eingebunden als Zuwanderer aus städtischen Regionen. Damit sind erstere auch höherem Erwartungsdruck ausgesetzt, für die im Herkunftsland Verbliebenen Unterstützung zu leisten (wie Aufenthalts-, Beschäftigungs-, Wohnmöglichkeiten, finanzielle Transfers).
Unter den verschiedenen "Gastarbeiter"-Gruppen hatten die Türken den größten sozialen Sprung aus ihrer heimatlichen Welt nach Westdeutschland getan. Die Lebensverhältnisse der "Gastarbeiter" und ihrer Nachkommen in Deutschland waren zwar äußerst bescheiden, im Vergleich zur Situation in der Türkei waren viele jedoch nicht dazu angetan, die einmal vollzogene Niederlassung in Deutschland aufzugeben und sich in die politisch instabilen Verhältnisse in der Heimat mit einer außer Kontrolle geratenen Inflationsrate zu reintegrieren. Auch Sozialleistungen, soziale Infrastruktur und der Standard der medizinischen Versorgung machten das "Gastland" attraktiv.
Während der Anteil der Ausländer aus den Staaten der Europäischen Gemeinschaft zwischen 1974 und 1980 nahezu gleich blieb (rund 21 Prozent), erhöhte sich der Anteil der türkischen Staatsangehörigen hingegen von 25 auf 33 Prozent. Bei den unter 15-Jährigen stieg der türkische Anteil von 31 Prozent im Jahr 1974 auf 46 Prozent im Jahr 1980.
Die Quantität schlug damit in eine neue Qualität für die Integrationspolitik um. Deutlich machte dies 1982 Wolfgang Bodenbender, damaliger Ministerialdirektor im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Die Zahl der Türken, so rechnete er vor, "erhöhte sich zwischen 1979 und 1981 allein um rund 280.000 oder 22 Prozent auf rund 1,5 Millionen. Der gesamte Zuwanderungsüberschuss in diesem Zeitraum beruht allein auf Einreisen aus der Türkei. (...) Mit einem Anteil von einem Drittel an allen hier lebenden Ausländern dominiert mit den Türken nunmehr eine Bevölkerungsgruppe, bei der die Integrationsbarrieren aus vielfältigen Gründen besonders hoch sind. (...) Diese Entwicklungstendenz macht das Ausmaß der Integrationsprobleme deutlich, vor denen unsere Gesellschaft steht."
Walsum, Wohnungen Gastarbeiter, 28. Mai 1962 (© Bundesarchiv, B 145 Bild-F013071-0003 / Fotograf: Ludwig Wegmann)
Walsum, Wohnungen Gastarbeiter, 28. Mai 1962 (© Bundesarchiv, B 145 Bild-F013071-0003 / Fotograf: Ludwig Wegmann)
Bereits 1968 verfügten knapp zwei Drittel von ihnen über privaten Wohnraum (die meisten waren vorher in Heimen und Unterkünften für "Gastarbeiter" untergebracht), 1977 waren es 97 Prozent der Ausländer in Deutschland. Der Familiennachzug hatte diese Entwicklung noch beschleunigt. Wohnungen außerhalb der betriebseigenen Unterkünfte wurden meist von Landsleuten vermittelt, kaum durch Inserate oder Makler. Bei den Wohnungen handelte es sich nicht selten um sanierungsbedürftige oder gar abbruchreife Altbauten in den Stadtkernen, die für die einheimische Bevölkerung im Zuge eines sich entspannenden Wohnungsmarktes unattraktiv geworden waren. Häufig wurden die ausländischen Arbeitnehmer in der Umgebung der sie beschäftigenden Betriebe untergebracht (wie etwa in Duisburg-Marxloh und Hamburg-Wilhelmsburg).
Für die Unternehmen war diese betriebsnahe Unterbringung von Vorteil, für die Kommunen bedeutete dies allerdings, dass sie mit den mittel- und langfristigen Problemen solcher Konzentrationen fertig werden mussten. Bereits zu Beginn der 1970er Jahre zeichnete sich daher eine räumliche Konzentration der "Gastarbeiter" in den Städten ab. Pointiert hieß das: "Je mehr schlechte und alte Wohnungen es in einem Gebiet gibt, desto höher ist die Türkenquote."
In den 1960er Jahren war die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer von politischer Seite als ein "gutes Geschäft" für die Bundesrepublik dargestellt worden. Schließlich seien die Ausbildungskosten vom Herkunftsland getragen worden und die "Gastarbeiter" zahlten Sozialversicherungsbeiträge wie ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen. Aufgrund ihres niedrigen Durchschnittsalters, ihrer Gesundheit und körperlichen Belastbarkeit (alle Arbeiterinnen und Arbeiter mussten sich vor ihrer Einreise nach Deutschland ärztlich untersuchen lassen) und der damals nicht vorstellbaren Arbeitslosigkeit waren entsprechende Auszahlungen hingegen nicht zu befürchten.
Erst gegen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre wurde die Lage der "Gastarbeiter" zunehmend problematisiert. Der Niederlassungsprozess mit seinen Auswirkungen auf die kommunale Infrastruktur (wie Wohnungsmarkt, Kindergärten, Schulen) wurde spürbarer, das "Ausländerproblem" zum Topos.
Den Konsens, der einmal in Gang gesetzte Wanderungsprozess werde unbeherrschbar und zeitige bereits schwerwiegende Folgen, artikulierte unter anderem der Chefredakteur der Zeit Theo Sommer am 6. April 1973 in dem Aufmacher "Nigger, Kulis oder Mitbürger? Unser Sozialproblem Nr. 1: die Gastarbeiter": "Allein in der Türkei warten 1,2 Millionen Menschen auf einen westdeutschen Arbeitsvertrag. Proletarier aller Länder vereinigen sich auf dem Boden der Bundesrepublik. (...) Auf der anderen Seite ist unsere Aufnahmefähigkeit in der Tat nicht uferlos. Wir müssen den weiteren Zustrom ausländischer Arbeiter drosseln, mindestens kanalisieren, wenn wir nicht sehenden Auges das Risiko eingehen wollen, daß in immer mehr Ballungsräumen, in immer mehr Altstädten, schließlich in immer mehr Dörfern fremdländische Gettos entstehen; daß ein neues Subproletariat hoffnungslos hinter dem zurückbleibt, was wir als menschenwürdig betrachten."
Die türkische Gruppe erfuhr in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die meiste Aufmerksamkeit seitens der Printmedien, obwohl sie damals noch nicht die größte Gruppe der ausländischen Arbeitnehmer bildete. Im Juli 1973, wenige Monate vor dem Anwerbestopp, titelte der Spiegel: "'Die Türken kommen, rette sich wer kann"
In den beginnenden 1970er Jahre setzte auch eine Debatte darüber ein, was geschehen solte, wenn die "Gäste" nicht gehen wollten? Im Zentrum der Debatten standen dabei bis in die 1980er Jahre hinein die Topoi von der Begrenzung, der "Rückkehrfähigkeit" und der "Integration". Die deutsche Ausländerpolitik setzte lange Jahre auf die Bewahrung der "kulturellen Identität" von Zuwanderern und ignorierte, dass sich Identitäten insbesondere in Wanderungsprozessen wandeln. Lag bei den einen eine romantisierende Vorstellung der jeweiligen Herkunftsidentitäten vor, wollten die anderen damit vor allem die Rückkehrfähigkeit der "Gastarbeiter" erhalten.
Mitgebrachte Konflikte
Auch die politische und gesellschaftliche Polarisierung in der Türkei spiegelte sich in Westdeutschland wider.
Lag der Schwerpunkt der Aktivitäten zunächst im Linksextremismus, nahmen seit Ende der 1970er Jahre rechtsextremistische und extrem nationalistische Aktivitäten zu, wobei islamistische Orientierungen (wie die Nationale Heilspartei, MSP) dazu gerechnet und noch nicht eigenständig als "Islamismus" wahrgenommen wurden.
In der ersten Hälfte der 1980er Jahre ging die Zahl türkischer Linksextremisten in Deutschland zurück, die Zahl der Rechtsextremisten stagnierte. 1983 verbot der Bundesinnenminister die Organisation Devrimci Sol (DEV SOL), "Revolutionäre Linke", die als besonders militant galt.
Mitte der 1980er Jahre trat die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) zunehmend ins öffentliche Bewusstsein, 1984 wurden im Verfassungsschutzbericht in der Rubrik "Türkische Kurden" erstmals Berichtedazu veröffentlicht.
Eine Demonstration kurdischer PKK-Anhänger in Hamburg, 19. Februar 1999. (© AP)
Eine Demonstration kurdischer PKK-Anhänger in Hamburg, 19. Februar 1999. (© AP)
Repressionen gegen Abweichler (bis hin zum Mord),
erpressungen,
Die Haltung zur PKK spaltete auch die deutsche Linke. Das brutale Vorgehen des türkischen Militärs gegen Kurden in der Türkei, die diskriminierende Politik der türkischen Regierung ließen Teile der Linken auf den Zug der Kurdistan-Solidarität aufspringen und die PKK aktiv unterstützen.
Vom Gastarbeiter zum Moslem
Waren es bis in die 1980er Jahre vorwiegend linke und rechte türkische Gruppen, die sich durch Demonstrationen und Infostände, Plakate und Parolen an Häuserwänden bemerkbar machten, so prägten seitdem religiöse Gruppen mit ihren Ausdrucksformen und Symbolen einzelne Stadtviertel. "Über die religiösen Gruppen (...) tauchen dauerhaft präsente Minarette, Moscheen, Kopftücher und der Gebetsruf auf, die den sozialen Raum symbolisch verändern und besonders von den deutschen Alteingesessenen in ihren vertrauten Orten als Herausforderung interpretiert werden."
Innenansicht der Moschee in Köln-Ehrenfeld, fotografiert am Freitag (© AP)
Innenansicht der Moschee in Köln-Ehrenfeld, fotografiert am Freitag (© AP)
Die Begegnung mit den Zuwanderern nahm eine andere Qualität an – Distanz und Fremdheit wurden auch durch diesen Strukturwandel innerhalb der türkischen Gemeinschaft verstärkt, obwohl er unübersehbar eine deutliche Hinwendung zur deutschen Gesellschaft signalisierte.
Die Ursachen für das Sichtbarwerden des Islams in Deutschland beschreibt Nina Clara Tiesler mit den Stichworten "Krisen, Kinder, Krieg der Verse".
Hinzu kamen außenpolitische Ereignisse wie die islamische Revolution im Iran 1979 oder die Rushdie-Affäre 1989 in Großbritannien, die eine Rückkehr in die Heimatländer unmöglich machten.
Verständnis von Integrationsprozessen
Mitglieder der türkischen Gemeinde demonstrieren für mehr Rechte vor dem Bundesinnenministerium in Berlin am Mittwoch, 31. Januar 2007. (© AP)
Mitglieder der türkischen Gemeinde demonstrieren für mehr Rechte vor dem Bundesinnenministerium in Berlin am Mittwoch, 31. Januar 2007. (© AP)
Gegenüber den türkischen "Gastarbeitern" wurde schon früh eine "kulturelle Distanz" behauptet und in den Vordergrund gestellt. Die öffentliche Debatte zu Fragen der Integration krankt bis heute daran, dass es an Verständnis für grundlegende Mechanismen und Abläufe von Integrationsprozessen mangelt – etwa der Rolle der Gruppengröße, der Bedeutung des Wohnungsmarktes, des negativen Zusammenhangs von ethnisch-sozialen Konzentrationen im Wohn- und Schulumfeld und des Erwerbs der Sprache des Aufnahmelandes.
Der Sozialwissenschaftler Hartmut Esser hatte bereits 1983 darauf hingewiesen, dass es keines Rückgriffs auf spezifische kulturelle Eigenschaften bedürfe, um etwa das Integrationsverhalten der türkischen Gruppe zu erklären.