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"Ich kannte doch nur mein Dorf" | 1961: Anwerbeabkommen mit der Türkei | bpb.de

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"Ich kannte doch nur mein Dorf" Lesen lernen für Deutschland: Saliha Çukur

Jeannette Goddard Jeannette Goddar

/ 18 Minuten zu lesen

Saliha Çukurs Mann arbeitet in Ankara in einem Bergwerk. Nach Deutschland ließ man ihn nicht, daher bewirbt sie sich. Doch Saliha kann nicht lesen – ein Ausschlusskriterium. Aber sie lernt es in einem Monat.

Vor dem Hintergrund der verschneiten Schlierseer Berge hängen zwei traditionelle Figuren an einem Maibaum in Hundham im oberbayerischen Landkreis Miesbach. (© AP)

Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der bpb-Publikation Auf Zeit. Für immer., Oktober 2011.

Miesbach, an einem Freitag im April. Es ist der letzte Werktag vor Beginn der Karwoche, des höchsten christlichen Festes. Überall hinter den Fassaden rund um den ganzjährig von einem weiß-blauen Maibaum überragten Marktplatz werkeln die Menschen. Backen, kochen, schrubben. Putzen ihre Instrumente. Planen ihre Aufstellung. In einer feierlichen Prozession ziehen die Menschen in der Kleinstadt am Voralpenrand am Palmsonntag durch die Stadt. Mit Weidenkätzchen in der Hand erinnern sie an die Palmzweige, die Jesus dereinst in Jerusalem begrüßten. Dazu tragen sie ihr bestes Gewand. Und das sind in Miesbach, der Wiege der oberbayerischen Tracht, natürlich keine Anzüge und langen Kleider. Sondern Lederhosen und Dirndl.

Aber noch ist ja erst Freitag, also jener Tag, an dem Muslime ihr Mittagsgebet gemeinsam verrichten. Auch in Miesbach. Im hintersten Winkel des Gewerbegebiets steht seit 2007 eine Moschee – und zwar eine, die, wenn man einmal von ihrem Standort absieht, alles andere als ein unscheinbares Gebetshaus ist. Ein repräsentatives Gebäude in osmanischem Stil, ohne Minarett zwar, aber mit einer beeindruckenden Kuppel. Der Bau wurde mithilfe von Spenden der rund 500 Muslime in der Stadt finanziert; der Imam wird von der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e. V. (DITIB) entsandt und bezahlt. Mahmut Pıçak heißt der freundliche Herr, der im April 2011 hier predigt. Prompt erscheint er, um den unerwarteten Gast zu begrüßen. Leider, entschuldigt er sich verlegen, spreche er kein Deutsch. Der Händler, der im Erdgeschoss der Moschee ein türkisches Lebensmittelgeschäft betreibt, fügt erklärend hinzu: "Er versucht, es zu lernen. Aber hier spricht er ja nur mit Türken." Und tatsächlich: Die rund hundert Menschen, die kurz darauf zum Mittagsgebet eintrudeln, stammen fast alle aus der Türkei. Und es sind fast ausschließlich Männer – obwohl die Frauen durchaus einen, wenn auch deutlich kleineren, Gebetsraum haben. Auch Saliha Çukur, von der diese Geschichte erzählen soll, ist nicht zum Freitagsgebet erschienen. Sie ist Mitglied der Gemeinde, sie hat geholfen, deren Aufbau zu finanzieren. Aber ihre Beine und ihr Rücken sind schwach, das Herz ist auch nicht mehr in Ordnung. Nur wenn eins ihrer Kinder sie fährt, kann sie kommen – und die müssen freitags arbeiten. Aber der Chef ihrer Tochter hatte sich freigenommen. "Kommen Sie mit in meine Bäckerei!", hatte er gebrummt, als man ihn nach ehemaligen Gastarbeitern fragte, "vielleicht haben Sie Glück. Viele Türken kommen dorthin." Gleich neben dem kleinen Bahnhof, an dem jede Stunde zweimal die Bayerische Oberlandbahn "Bob" hält und sonst nichts, steht das "Kevek". Verkauft wird Deutsches wie Türkisches, die Cafétische sind gut gefüllt. Allerdings: Mit Deutschen, nicht mit Türken. Aber dann kommt, in Jeansrock und knallrotem T-Shirt, Fatma Yörüsün hinter der Kasse hervor. "Ja mei!", ruft sie aus. "Meine Mama erzählt so gern aus ihrem Leben, die wird sich freuen!" Der Stolz, der da mitklingt, auf eine Mutter, die ganz alleine – "ganz aloa", sagt Fatma, die Bayerin – vom Schwarzen Meer kam, rührt einen sofort an. Und auch, was die allein reisende Mama dereinst nach Deutschland verschlagen hatte, macht neugierig: "Im Spielcasino in Bad Wiessee hat sie gearbeitet!"

Und die Tochter, in deren Auto man wenig später über eine bayerische Landstraße in einen winzigen Weiler namens Müller am Baum – und damit zu ihrer Mutter – juckelt, hat recht: Saliha Çukur ist das blühende Leben, als sie noch einmal zu dem Punkt zurückgeht, an dem ihr Leben eine so dramatische Wendung nahm. Mit verschränkten Beinen sitzt sie auf dem Sofa in ihrer Küche; in einem Haushaltskleid, ein Tuch locker um den Kopf gebunden, sieht sie genauso aus, wie man sich eine türkische Großmutter vorstellt. Sie hat für den Besuch gekocht, wie Großmütter es tun – bürgerlich, und das heißt hier: mit Köfte und Reis, gut und viel zu viel! Als sie anfängt zu erzählen, purzeln die Worte dermaßen aus ihr heraus, dass Fatma und Muhsin, ihre beiden Kinder, mit dem Übersetzen kaum nachkommen. Und unweigerlich denkt man: Sie erinnert sich, als wäre es erst gestern gewesen. Dabei beginnt die Geschichte 1969. – Saliha Çukur lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe der Stadt Ordu am Schwarzen Meer. Sie hat kurz, um nicht zu sagen, sehr kurz, die Schule besucht, geheiratet, zwei Kinder bekommen und auf dem kleinen Hof ihrer Familie mitgearbeitet. Das Leben der Familie ist von Armut geprägt. Salihas Mann arbeitet in Ankara in einem Bergwerk. Nach Deutschland hatte man ihn nicht gelassen. Und dann, eines Nachts, hat Saliha einen Traum: Sie, die noch nie woanders war als in ihrem Dorf, würde das Land verlassen. Ohne ihre Familie.

"Eigentlich wollte ja mein Mann gehen. Aber er ist an die Falschen geraten. Er hat Menschen getroffen, die ihm Dokumente besorgen sollten, die er für die Einweisung nach Deutschland brauchte. Und dass er schnell einen Termin kriegt in Istanbul. Da haben sie ihn reingelegt. Sein ganzes Geld war weg. Und Dokumente hatte er auch keine. Dann kam er nach Hause. Er war sehr niedergeschlagen. Uns stand das Wasser bis zum Hals. Er hatte Monate gearbeitet, um diese Vermittler zu bezahlen. Für nichts und wieder nichts. Und an dem Abend habe ich das wirklich geträumt: Ich würde alleine gehen, ganz weit weg, nach Deutschland. Viel geweint habe ich in dieser Nacht. Es war keine schöne Vorstellung. Aber dann habe ich entschieden: Ich gehe als Erste. Ich muss es tun, für die Kinder, für die Familie. Am nächsten Tag habe ich meinem Mann gesagt: 'Ich werde fahren, wenn du mich lässt.' Und er sagte: 'Gut. Aber du gehst nicht alleine.' Dann haben seine Schwester, zwei Freundinnen und ich uns zusammen beworben. Es hat lange gedauert. Jeder wollte nach Deutschland. Aber nach einigen Monaten kam ein Brief mit einem Termin in Istanbul." Die erste Prüfung ihrer Unterlagen durch die türkischen Arbeitsämter war überstanden. Schon die Bewerberinnen und Bewerber, die in die Räume der Deutschen Verbindungsstelle in Istanbul eingeladen werden, müssen eine Reihe von Kriterien erfüllen – auch wenn diese in der Praxis nicht immer so streng gehandhabt werden wie auf dem Papier. Frauen über 45 und Männer über 40 haben keine Chance, Unqualifizierte dürfen nicht älter als 30 Jahre alt sein. Auch ohne Schulabschluss ist eine Bewerbung, jedenfalls offiziell, zwecklos. Bevorzugt behandelt werden im Gegenzug Ehepartner, die gemeinsam nach Deutschland wollen, Opfer von Naturkatastrophen, Leute, die ihre Arbeit verloren haben. Wer ausreisen will, wird zudem aufgefordert, "Türkentum und Nationalgefühl" hochzuhalten.

Die Ausgewählten bekommen eine "Einladung zur Arbeitsvermittlung" der Istanbuler Außenstelle der Bundesanstalt für Arbeit, der heutigen Bundesagentur für Arbeit. Die listet eine ganze Reihe weiterer Ausschlussgründe auf. "Sollten Sie mehr als vier Kinder unter 18 Jahren haben, brauchen Sie nicht zu erscheinen", steht da geschrieben; und zwar Männer ebenso wenig wie Frauen. Auch schwangere Frauen und Eltern von Kindern, die jünger als ein Jahr alt sind, werden sogleich wieder ausgeladen. Wer zu diesem Zeitpunkt noch nicht durchs Raster gefallen ist, muss einen Schwung Dokumente mitbringen: Personalausweis, Männer benötigen außerdem eine Bestätigung des Militärs über Musterung oder Reservistenstatus, Führungszeugnis der Staatsanwaltschaft, Schul- und Arbeitszeugnisse, Bestätigung des Einwohnermeldeamtes. Verheiratete Frauen müssen noch ein weiteres Schreiben vorlegen: eine notariell beglaubigte Bescheinigung ihres Ehemannes über die Erlaubnis zur Ausreise.

Saliha Çukur hatte in ihrem Leben nie einen Notar gesehen. Vielleicht war das aber auch nicht nötig: Ihr Ehemann ließ es sich nicht nehmen, mit ihr nach Istanbul zu reisen. Einen anderen Ausschlussgrund hatte die Familie aber ganz offensichtlich überlesen. "Sollten Sie des Lesens und Schreibens unkundig sein, brauchen Sie nicht zu erscheinen", so stand es ebenfalls in dem Schreiben. Saliha Çukur kann nicht lesen. Aber sie wird es lernen. Einen sehr langen Monat lang. "Ich komme also in das Büro und soll etwas vorlesen. Das kann ich aber nicht. Sie sagen, nur wer schreiben und lesen kann, kann nach Deutschland. Ich sage: Ich lerne es! Dann geben sie mir 15 Tage später einen neuen Termin. Mein Mann und ich haben dann ein kleines Zimmer gemietet in Istanbul. Ein ganz billiges, wir hatten ja kein Geld. Es war schrecklich. Wir hatten Mäuse und Schnecken. Aber wir hatten Bekannte in Istanbul. Alle, alle wollten, dass ich nach Deutschland gehen kann. Immer wieder kamen sie und haben Zeitungen gebracht. Sie wollten mir beim Lesen lernen helfen und sind mit mir die einzelnen Artikel durchgegangen. Die meisten jedenfalls! Einmal hat sich auch einer einfach über mein Essen hergemacht, als ich mit seiner Zeitung lernte. Das kleine Abc hatte ich in der Schule noch gelernt, ein bisschen etwas konnte ich also. Nach und nach ging es besser mit dem Lesen." Nach 15 Tagen war Saliha Çukur sich sicher: Jetzt schaffe ich es! Wieder geht sie mit ihrem Mann zur Deutschen Verbindungsstelle. Weil er keinen Termin hat, wartet er draußen. Wieder nimmt die Frau, die sehr selten einen Weg alleine tut, all ihren Mut zusammen und klopft an die Tür. Aufgeregt, aber zuversichtlich! "Herein", heißt es. Und sie öffnet die Tür.

"Beim ersten Mal hatten dort Frauen gesessen. Und nun stand ich drei Männern gegenüber! Ich war jung und schlank. Sie haben mich angestarrt. 'Komm her, lies vor!', haben sie gesagt. Ich habe mich so geschämt und war so aufgeregt, dass ich es wieder nicht geschafft habe. Sie haben mir noch mal 15 Tage gegeben. Dann hat es geklappt. Dann saßen zwei Frauen im Büro, die ich einfach gar nicht beachtet habe. Ich habe meine drei Zeilen vorgelesen, dann haben sie gesagt: 'Du kannst gehen. Du bekommst die Papiere. Warte draußen.' Ich konnte mein Glück nicht fassen. Nach Deutschland – ich! Herrje, ich war so jung! Und so unerfahren. Ich kannte doch nur mein Dorf. Mein Mann hat sich auch so gefreut. Er hat alle eingeladen auf ein Getränk. So hat er sich gefreut." Dabei ist der Deutschland-Test noch nicht beendet. Am nächsten Tag wird Saliha Çukur wieder in die Verbindungsstelle bestellt: zum Medizin-Check. Der lässt in den Jahren der Anwerbung aus der Türkei erst jeden zehnten (1962), später gar jeden fünften Bewerber (1972) noch kurz vor dem Ziel scheitern. Der Check hat es in sich: Deutsche Ärzte nehmen, meist im Team mit türkischen Kollegen, Blut- und Urinproben, erstellen Röntgenbilder, überprüfen Augen, Ohren und Zähne. Jede Narbe, jede Fehlhaltung wird registriert. Bis auf die Unterhose müssen die Menschen sich ausziehen und sich an Stellen betrachten lassen, die außerhalb der Familie möglichst nie jemand zu sehen bekommen sollte. Viele Migrantinnen und Migranten erinnern diese ärztlichen Untersuchungen als das Entwürdigendste, was sie je erlebt haben. Für Saliha Çukur kommt es nicht mehr so recht darauf an – nach dem Horror der vergangenen Wochen übersteht sie die penible Begutachtung klaglos. Noch am selben Abend erhält sie das endgültige Okay zur Ausreise – in einer Woche soll ihr Zug nach Deutschland gehen. Sie schlägt ihrem Mann vor, noch einmal nach Hause zu fahren. Doch der sagt: "Wenn du die Kinder noch einmal siehst, dann wirst du nicht fahren." Also wartet sie gemeinsam mit ihrem Gatten noch eine weitere Woche in Istanbul auf den Start in ihr neues Leben. Ihre Informationen darüber, was sie in der neuen Welt erwarten wird, sind dürftig: Sie wird in einer Küche arbeiten – das ist alles, was sie weiß, als sie auf dem Bahnhof in Istanbul in den Zug steigt.

"Die Zugfahrt war endlos. Drei Tage und zwei Nächte waren wir unterwegs. An Schlaf war nicht zu denken. Es war viel zu eng. Und dann, mitten auf der Fahrt, bleiben wir plötzlich stehen. Die hinteren Waggons hatten irgendeinen Schaden. Dann kamen all die Männer, die dort saßen, auch noch zu uns. Wir sollten ja in getrennten Waggons reisen. So war das damals auch in der Türkei üblich. Aber dann wurden wir alle in einen Wagen gepfercht. Es war viel zu voll und auch viel zu stickig. Und auch, all die fremden Männer in unmittelbarer Nähe zu haben, war uns Frauen sehr unangenehm. Wir haben die Stunden gezählt, bis wir ankommen. Es waren sehr viele Stunden." In den 60er-Jahren schaffen die Sonderzüge die Reise von Istanbul-Sirkeci bis München-Hauptbahnhof in rund 50 Stunden, laut Fahrplan. Dass die Reise quer durch Griechenland, Jugoslawien und Österreich viel länger dauert, ist aber keine Seltenheit. Immer wieder stoppen die Züge außerplanmäßig oder bleiben liegen. Licht und Toiletten versagen oft ihren Dienst. In Deutschland gehen bei der Bundesanstalt für Arbeit immer wieder Berichte über diese unhaltbaren Zustände ein. Eine Tortur ist die Fahrt dabei schon deshalb, weil die Bundesbahn damals für die lange Reise Nahverkehrswaggons einsetzt, die weder über abgeschlossene Abteile noch über Kopfstützen verfügen. Bis zu Beginn der 70er-Jahre setzt die Bundesbahn weder Liegewagen und auch nur selten Speisewagen ein.

Als Saliha Çukur und ihre Freundinnen endlich in München ankommen, verläuft auch das letzte Stück der Reise nicht nach Plan. Ihr neuer Chef würde sie abholen, hatte es geheißen. Das tat er aber nicht. Es war Feiertag in Deutschland. Und ihr Chef hatte sie schlicht vergessen.

"Nur die Schwester meines Mannes wurde abgeholt. Sie hatte einen anderen Arbeitgeber. Meine Freundinnen und ich sind vor den Bahnhof gegangen und wussten überhaupt nicht, wohin. Wir bekamen ein bisschen etwas zu essen – das war es dann aber auch. Ich war so wütend und so traurig! Das Brot, das ich noch von der Fahrt hatte und den Kanister Wasser habe ich auf den Boden geschleudert. Dann habe ich geweint. Was sollten wir nur tun? Irgendwann sprach uns dann zum Glück ein türkischer Student an. Ob er bei dem Bahnhof angestellt war, um uns zu helfen, weiß ich nicht. Vorher hatte uns jedenfalls eine ganze Weile niemand geholfen. Er guckte dann auf unsere Papiere und brachte uns an das andere Ende des Bahnhofs. Dort setzte er uns wieder in einen Zug. In Holzkirchen blieb der Zug stehen. Die Leute haben uns alle angestarrt. 'Raus, raus', haben sie gesagt – aber das haben wir natürlich nicht verstanden. Woher hätten wir wissen sollen, dass da Endstation ist? Sie mussten uns regelrecht aus dem Zug scheuchen. Und dann standen wir wieder auf einem Bahnhof! Auch da hat uns dann wieder jemand geholfen und ein Taxi gemietet. Das brachte uns dann endlich dahin, wo wir hinwollten: Nach Bad Wiessee, in die Tiefgarage vom Casino."

Nicht nur die mittelständischen Unternehmen florieren im Bayern der 60er-Jahre. Auch der Fremdenverkehr und die Gastronomie erleben ihren ersten Boom in der Nachkriegsära. Und der Gesundheitstourismus, von dem das schon in den Zwanzigerjahren dank einer Jodquelle zum Heilbad erhobene Wiessee besonders profitiert. Mit Blick auf den Tegernsee erholen sich die Gäste von den Leiden, die das Wirtschaftswunderland so mit sich bringt. Und wie in den meisten Bädern, rollt auch in Bad Wiessee abends bei Roulette und Black Jack der Rubel. Wer nicht spielt, leistet sich gern ein Dinner in dem großen Restaurant, das zu der Spielbank gehört. Und weil so viele Leute kommen, dass man mit dem Essen gar nicht hinterherkommt, bestellt der Chef drei Gastarbeiterinnen für die Küche. Als Saliha Çukur ihn zum ersten Mal sieht, erschrickt sie fast zu Tode. Der Mann entschuldigt sich zwar wortreich dafür, sie in München einfach stehengelassen zu haben. Er wirft sich sogar auf die Knie, damit die Frauen das verstehen. Aber leider trägt er eine blutverschmierte Schürze – für einen Küchenchef nichts Ungewöhnliches, aber für die völlig erschöpften Frauen dennoch ein Schock. Nach der Begrüßung bekommen die drei Frauen sogleich ihre Zimmer – ein Zweibett- und ein Einzelzimmer – zugewiesen. Sie sollen sich "ein bisschen" ausruhen. Was, wie sich herausstellen wird, wörtlich gemeint ist: Noch am selben Tag treten die Frauen ihre erste Schicht in der Küche an.

Die werden sie in den kommenden eineinhalb Jahren nur noch zum Schlafen verlassen. Saliha Çukurs Traum hat sie in einen Job geführt, der härter nicht sein könnte. Um ein Uhr mittags beginnt die Arbeit der Gastarbeiterinnen, nachts zwischen zwei und drei Uhr ist sie zu Ende. Erst wenn das letzte Glas poliert und die letzte Arbeitsfläche picobello gereinigt ist, machen sie sich auf den Heimweg: Zu Fuß, auch bei Schnee und Eis, in ihre zwei Kilometer entfernte Unterkunft. Sieben Tage in der Woche geht das so, für 300 D-Mark im Monat. Auf die Idee, dass sie ausgenutzt würde, sagt sie, wäre sie gar nicht gekommen. Mit wessen Lohn hätte sie ihren auch vergleichen sollen?, fragt sie. Mit dem der Deutschen? Das kam ihr nicht in den Sinn. Und zu Hause in der Türkei sind 300 D-Mark damals viel Geld. Zwei Kälber kann ihr Ehemann von jedem Monatslohn kaufen. Nach einer Weile gibt der Chef ihr 50 D-Mark mehr im Monat. Auch ihre Kinder schütteln heute den Kopf darüber, wie es damals zuging: "Dass sie so hart arbeiten musste", sagt Salihas Tochter Fatma, "das wusste ich auch nicht."

Nach eineinhalb Jahren in der Großküche wird das Leben für Saliha etwas einfacher. Beim zweiten Anlauf gelingt auch ihrem Ehemann die Einreise nach Deutschland. Anfangs bleiben ihre Kinder Fatma und Muhsin noch in der Türkei bei der Tante. Doch als auch die nach Deutschland geht, ist in der Türkei niemand mehr, der sich um die beiden kümmern kann. Als Salihas Ehemann seinem Arbeitgeber die Lage schildert, ist das der Anfang einer deutschen Familiengeschichte. Der Papierfabrikant setzt sich bei der Ausländerbehörde dafür ein, dass die Kinder einreisen dürfen. Und er gibt auch Saliha einen Job. So hat er gleich zwei neue Arbeitskräfte – und die können ihren Schichtdienst so einrichten, dass immer einer bei den Kindern ist. Er stellt der Familie eine Betriebswohnung auf dem Gelände der Fabrik zur Verfügung, die groß genug für alle ist. Es ist dieselbe Wohnung, in der Saliha Çukur noch heute lebt: In Müller am Baum, an der Straße von Miesbach nach Bad Tölz, einem winzigen Weiler aus ein paar Häusern – und einem Fabrikgelände dahinter.

Nicht nur die Mutter ist überglücklich, ihre Kinder wieder in die Arme schließen zu dürfen. Auch Fatma, inzwischen sechs Jahre alt, und ihr ein Jahr jüngerer Bruder Muhsin fühlen sich sofort in Deutschland zu Hause. Die Welt, in die sie kommen, ist übersichtlich: Müller am Baum, das ist nicht mehr als ein Gelände, auf dem einst eine Mühle stand. Der Name, das kann Muhsin Çukur sogar beweisen, er hat die Geschichte bei dem Treffen mit seiner Mutter als Büchlein parat, beschreibt dabei nichts anderes als den tragischen Tod des Mühlenchefs: In Müller am Baum hat sich dereinst der Müller am Baum erhängt. Heute gibt es hier nicht nur keine Mühle mehr, sondern auch nur noch einige, wenig taufrisch aussehende Wohnhäuser. Aber als die Kinder in den 70er-Jahren zuziehen, ist das noch ein bisschen anders: Sie finden unten im Hof noch ein Wirtshaus vor. Die Wirtsleute und ihre Kinder Toni und Fonsi schließen den Jungen sofort ins Herz. "Zwei Söhne hatten sie schon, ich war dann der dritte", erzählt Muhsin. Beim Spielen mit den Jungs und beim Mittagessen mit der ganzen Familie lernte er nicht nur die bayerische Lebensweise kennen –, sondern auch die deutsche Sprache wie im Flug. Damit sie auch helfen können, wenn es in der Schule einmal hakt, sorgen sie dafür, dass Toni und Muhsin in die gleiche Klasse kommen. Statt einem helfen sie eben zwei Jungen bei den Hausaufgaben. Für Muhsins Schwester Fatma läuft es zuerst nicht ganz so gut: Ohne Vorschulklasse, ohne Deutschkurs, steckt man sie gleich nach der Ankunft in die Grundschule. Prompt bleibt sie gleich zu Beginn ihrer Schullaufbahn erst einmal sitzen. Aber sie holt schnell auf. "Schon in der dritten Klasse wollten meine Lehrer meine Aussprache gar nicht glauben", strahlt sie. "Ich hatte in Deutsch auch immer eine Zwei – besser als viele Einheimische", fügt Muhsin hinzu. Und wie aus einem Mund sagen beide: "Wir waren nur mit deutschen Kindern zusammen. Deswegen sind wir auch so deutsch."

Und was für bayerische Gewächse die beiden sind! Fatma, die man mit ihren dunkelblonden Haaren und blauen Augen beim besten Willen nicht für eine Türkin halten würde. Die nicht nur kräftig genug ausschaut, als könne sie ebenso gut in einem bayerischen Wirtshaus arbeiten. Das hat sie auch schon getan, im Dirndl, mit bis zu acht Maßkrügen gleichzeitig in ihren muskulösen Armen. Da haben sie aber gestaunt, die bayerischen Herren, wenn einer das fröhliche Mädchen mit dem flotten Mundwerk nach ihrem Namen fragte: Fatma?! Und Muhsin, der charmante Mittvierziger in Jeans und Kapuzenpulli, Ring im Ohr, den seine Kumpel nur "Speedy" nennen. Der, wie sein Vater, als Papiermacher arbeitet, am Wochenende Bergsteigen geht und in seinem Leben noch kein türkisches Café betreten hat. "Ich kann mit der Mentalität der Männer da nichts anfangen", sagt er, "ich will auch nicht in die Moschee. Wenn´s nach der Mama ginge, wäre ich schon zweimal in Mekka gewesen. War ich aber nicht." Und als die Mutter anfangen will zu schimpfen, legt die Tochter ihr beruhigend die Hand auf den Arm: "Ja, ja, Mama, schon gut, wir wissen ja: Es gibt ja immer Streit deswegen."

So schlimm kann der allerdings nicht sein. Würde Fatma sonst jeden Tag einmal bei ihrer Mama vorbeischauen? Muhsin kommt zwar auch mal einen oder sogar zwei Tage nicht – was prompt kommentiert wird und in einem aufgeregten Wortschwall in türkischer Sprache endet. Aber in jedem Sommer fährt er seine Mutter an die Schwarzmeerküste in ihre alte Heimat. "Ich weiß immer gar nicht, wie ich das machen soll", sagt der Sohn, "sie mag keine lange Strecken im Auto. Fliegen mag sie noch weniger. Aber dass sie die Türkei nicht sieht, geht auch nicht. Die Fatma und ich, wir sind hier zu Hause. Aber die Heimat der Mama wird doch immer die Türkei bleiben."

Und ein Zuhause im Wortsinne hat Saliha dort schließlich auch noch. Ein Haus mit drei Stockwerken hat ihr Mann von dem Geld, das die beiden in der Papierfabrik verdienten, gebaut. Dass seine Frau und er, notfalls ohne die Kinder, dort ihren Lebensabend verbringen würden, stand für die Familie immer fest. Auch eine Haselnussplantage, mit der sie ihre Rente etwas aufbessern wollten, hatte er dort gekauft. Doch dann wurde er krank, so krank, dass er nur einen Monat nach Beginn seiner Rentenzeit starb. Außer seinen Kindern hinterließ er eine tieftraurige Ehefrau, die ihr Leben neu ausrichten musste: auf einen Altersruhesitz in Deutschland. "Alleine kann ich in dem Haus doch nicht sein", klagt Saliha, "ich habe Angst. Und ich bin krank. Meine Kinder sind in Deutschland, meine Enkel sind in Deutschland. Was sollte ich dort tun?"

Dass sie heute so offen plaudern in der Familie, kann aber über eines nicht hinwegtäuschen: Es wurde auch gekämpft im Hause Çukur, vor allem um die Einhaltung der Traditionen, die, dem Vater vielleicht noch mehr als der Mutter, wichtig waren. Mal gewann die eine, mal die andere Seite – wobei die Chancen, sich durchzusetzen, für den Sohn Muhsin immer besser standen als für die Tochter Fatma. Gegen den Koran-Unterricht des Hodschas, der mit dem Vater in der Papierfabrik arbeitete, wehrten sich die beiden Geschwister ebenso erfolgreich wie gegen den Türkisch-Unterricht an ihrer Schule. "Uns hat das nicht so interessiert", sagt Muhsin, "wir waren froh, dass wir so gut Deutsch konnten. Wozu hätten wir denn auch Türkisch lernen sollen?" Fatmas Weg allerdings wurde ihr nach der Schule vom eigenen Vater verbaut. "Das kann ich dir sagen, warum ich keine Ausbildung gemacht habe", sagt sie, und für einen Moment verlässt die für sie so typische Fröhlichkeit ihre Stimme: "Ich durfte nicht. Ich habe eine Lehrstelle gefunden als Verkäuferin, in Miesbach. Aber das Geschäft machte zwei Stunden Pause über Mittag. Dass ich allein auf der Straße herumlief, wollte mein Vater aber nicht. 'Raus aus dem Beruf!', hat er gesagt. So war das!" Bei seinem Sohn hat ihn das nie gestört, wenn der alleine auf der Straße unterwegs war. "Sogar wenn ich abends mal spät nach Hause kam, war das nicht so schlimm", erinnert sich Muhsin, "natürlich ist das ungerecht. Aber so war das damals."

Der Hintergrund war ein ganz simpler: Das türkische Mädchen sollte sich nicht mit deutschen Männern einlassen. "So einfach ist das", sagt Fatma, "dabei wäre ich nicht einmal auf die Idee gekommen. Wirklich nicht. So etwas hätte es bei uns einfach nicht gegeben." Muhsin hingegen hielt es immer für sein gutes Recht, mit deutschen Mädchen auszugehen. Auch heute hat er eine deutsche Freundin – anders als Fatma, die mit einem Miesbacher Türken verheiratet ist.

Ihr Sohn mit einer Deutschen, das ist das Allerschlimmste für Saliha Çukur. Dreimal sagt sie das an diesem Nachmittag – und beantwortet auch jede Frage danach, ob sie denn nach all den Jahren froh sei über die nach ihrem schweren Traum getroffene Entscheidung, mit dem Verweis auf die potenzielle Schwiegertochter mit der falschen Herkunft. Und was genau ist das Problem? "Deutsche sind einfach anders", sagt sie da, "sie denken zu viel an ihre Freiheit, zu wenig an die Familie. Erst heiraten sie, dann lassen sie sich scheiden. Wo bleibt da die Zukunft?"

Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der bpb-Publikation Auf Zeit. Für immer., Oktober 2011.

Fussnoten

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Jeannette Goddard ist freie Publizistin und Journalistin in Berlin und hat laengere Zeit in den Niederlanden gelebt.