Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der bpb-Publikation
Dunedin, Neuseeland, 18. Februar 2011
Kia Ora, liebe Frau Goddar,
"ia Ora", das ist Maori und bedeutet so viel wie "Mögest du gesund sein". Aus Neuseeland sende ich Ihnen frische Sommerluft mit Ozeanduftgrüßen aus unserem Lieblingsland. Eigentlich wollten wir am 21. März wieder in München sein. Aber nun haben wir ein wunderbares Angebot von der Tante unseres Schwiegersohns aus Sydney bekommen, sie zu besuchen. Es ist für uns natürlich ein Riesenglück, und dann auch noch so günstig, in Australien herumreisen zu können. Und irgendwann würden wir die Tante auch gern in München begrüßen und ihr unser wunderschönes Bayernland zeigen können. Uns geht es sehr gut, wir unternehmen vieles. Wandern, Kanu, Rudern, Fischen, Enkelinnen betreuen, Gartenarbeit, Konzerte besuchen, nette Menschen aus allen Ländern der Welt kennenlernen. Und auch die wunderbare Luft ist für meine Gattin und mich wie Balsam auf unseren Seelen!
Herzliche Grüße,
Selahattin Biner
Seine Familie hat es immer geahnt: Schon als er von den Anzeigen am Schwarzen Brett seiner Schule erzählt, schärfen Vater und Bruder ihm ein: "Guter Junge, wir wissen ja, wie gerne du reist. Aber wenn du nach Deutschland gehst, dann musst du dort Geld verdienen. Und sparen, dass du dir ein schönes Haus auf einem schönen Grundstück in der Türkei leisten kannst!"
"Ja, ja", erwiderte der Abenteuerlustige da, "wenn es sein muss, spare ich natürlich auch. Aber ich möchte auch das Land, Europa und am besten noch viel mehr kennenlernen!" Nach Deutschland gehen, als Gastarbeiter – um die Welt zu sehen? Seine Familie fand das völlig verrückt.
Dabei war es genau das, was er wollte, 1964, als er mit 20 Jahren an seinem Staatlichen Institut zur Ausbildung von Handwerkern die Aushänge deutscher Firmen studierte: Der junge Selahattin Biner war gut ausgebildet, mobil, unternehmungslustig. Vor allem aber fühlte er sich als Europäer, als einer, dem das Leben im Westen schon deswegen nicht schwerfallen würde, weil seine ganze Umgebung immer schon dorthin geschaut hatte. In seiner Schule waren nicht nur Englisch und Französisch oder Deutsch Pf lichtfächer; die Lehrer lasen mit den Schülern auch die Sage des Rattenfängers von Hameln und das Märchen der Bremer Stadtmusikanten. Und natürlich hatten sie ihnen auch schon vom Ruhrgebiet als der Herzschlagader des deutschen Wirtschaftswunders erzählt. In Kırklareli war das, einer kleinen Stadt in der Nähe von Edirne, im europäischen Teil der Türkei, nahe dem griechisch-bulgarisch-türkischen Dreiländereck. Und der junge Modellschreiner, der er war, dachte sich: "Das ist meine Welt! Da muss ich hin!"
Heute, beinahe ein halbes Jahrhundert später, blickt Selahattin Biner nicht nur auf ein Leben in Duisburg und München zurück. Er kennt auch Polen und Ungarn, die Toskana und Andalusien, den Sinai und Marokko. Und vor allem: Das Land der Schafe und Berge – Neuseeland. Am anderen Ende der Welt haben seine Frau und er nach der zweiten in Deutschland noch eine dritte Heimat gefunden. Ihre ältere Tochter hat es, der Liebe wegen, dorthin verschlagen – und die Biners, die inzwischen auch Großeltern zweier neuseeländischer Enkelinnen sind, lassen keine Gelegenheit aus, sie zu besuchen. Und alles nur, weil er damals, mit 20 Jahren, zusammen mit zwei Freunden beschloss: Wir gehen nach Deutschland! Drei Monate dauerte es nur, dann durften sie weg. "Das war natürlich ein Abenteuer! Wir hatten noch nicht einmal unseren Militärdienst absolviert. Normalerweise hätten wir die Türkei gar nicht verlassen dürfen. Das war verboten. Nur über die Anwerbung aus Deutschland konnten wir überhaupt weg. Wir haben uns riesig gefreut. Unser Arbeitgeber war ein Hersteller von Sitz- und Liegemöbeln, so hieß das damals, in Duisburg. Vier Mark und 16 Pfennig in der Stunde haben wir bekommen, das war ein guter Stundenlohn. Aber wir hatten ja auch einen guten Beruf, man hat uns gebraucht. Leider blieben davon nach Abzug der Kosten für Wohnheim und Essen am Ende jeder Woche dann aber doch nur 15 oder 20 Mark übrig, das war nicht so viel. Also haben wir angefangen, am Wochenende und abends zusätzlich zu arbeiten. Unser Meister, der ja gesehen hat, wie gut wir unseren Job machen, hat da manches vermittelt. So haben wir noch ein bisschen hinzuverdient, sagen wir einmal: unter der Hand. Ansonsten aber war ich natürlich vom ersten Tag kranken- und rentenversichert. Deswegen bekomme ich heute eine ganz zufriedenstellende Rente, mit unseren Bausparanlagen aus dieser Zeit konnten wir es uns dann auch leisten, meinem Betrieb diese Wohnung abzukaufen. Und unsere Reisen müssen auch bezahlt werden!
Aber auch wenn ich gut und gern gearbeitet habe: Ich wollte immer mehr vom Leben; Freunde haben, Sport treiben, meine neue Umgebung erobern. Ich war neugierig auf die deutsche Kultur, die deutsche Sprache, die deutsche Lebensart. Da war es ein Glück, dass ich sofort Kontakt bekommen habe. Im Lohnbüro habe ich den Franz kennengelernt. Wir haben uns gleich angefreundet. Er hat mir Deutsch beigebracht und ich ihm Türkisch. Wann immer wir Zeit hatten, sind der Franz und ich mit den Rädern los, den Rhein hinauf oder bis nach Belgien und Holland. Es war eine wunderbare Zeit; ich habe so viel Neues gesehen! Und obwohl in Duisburg die Luft damals nicht sehr gut war und jedes weiße Hemd von all dem Ruß in einem halben Tag grau wurde – auch dort konnte man viel unternehmen. Ich bin gerudert, und ich habe Basketball gespielt. Beim Meidericher SV, heute heißt er MSV Duisburg, war ich in der Mannschaft. Am Wochenende sind wir bis zu Hannover 96 oder zum HSV nach Hamburg zu unseren Spielen gefahren. Ich war zwar ein kleiner, aber ein sehr zielstrebiger Basketballspieler, darauf bin ich heute noch ein wenig stolz! Ach, dieses erste Jahr in Deutschland – es war eins der schönsten meines Lebens!
Nach einem Jahr lief mein Vertrag aus – aber in die Türkei zurückzugehen hatte ich nie vor. Und ich hatte ein neues und sogar besseres Angebot bekommen: Von einem Campingwagen-Hersteller, der Weltbummler hieß. Für eine Mark mehr in der Stunde als zuvor habe ich dort Modelle für die Inneneinrichtung der Wohnwagen gefertigt: für die Tische oder Bänke oder Betten. Immer größere und schönere Modelle haben wir gebaut. Es war ja die Zeit des Wirtschaftswunders, die Menschen fingen an, Geld auszugeben und anzulegen. Und auch sie wollten einmal etwas anderes machen als arbeiten. An Fernreisen war dennoch für die allermeisten überhaupt noch nicht zu denken. Also haben immer mehr Menschen sich einen Wohnwagen zugelegt und damit am Wochenende und in den Sommerferien Urlaub im grünen Nordrhein-Westfalen gemacht."
Nur kurze Zeit nach dem Wechsel in das Wohnwagen-Geschäft bekommt die Freude über das neue Leben einen gewaltigen Dämpfer. Der junge Gastarbeiter wünscht sich nichts sehnlicher, als in Deutschland zu bleiben, die Sprache besser zu lernen und eine Technische Universität zu besuchen. Erst bezahlt er aus eigener Tasche seine ersten Sprachkurse, dann nimmt er Kontakt zur Carl-Duisberg-Gesellschaft auf. Die, 1949 von Bund und Ländern zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses gegründet, unterstützt nicht nur Deutsche bei ihren Auslandsaufenthalten. Sie hilft auch Ausländern in Deutschland. Auch den ehrgeizigen Türken nimmt sie in ihr Programm auf, bietet ihm Schulungen und eine Studienreise nach Berlin an. Die Hoffnung auf das deutsche Studentendasein macht ihm das türkische Generalkonsulat in Köln allerdings gründlich zunichte: Es verlängert seinen Pass nicht, und ohne gültigen Pass kann er nicht bleiben. Schweren Herzens packt er seine Sachen und fährt zurück in die Heimat, und das von ebenjenem Gleis 11 im Münchner Hauptbahnhof, von dem er damals in sein Leben im Ruhrgebiet fuhr. Das Ende eines Abenteuers. Als er in den Zug nach Istanbul einsteigt, laufen ihm die Tränen übers Gesicht.
Wenige Tage später folgt er dem Ruf der türkischen Armee: Erst in Izmir, dann in der Region um den Berg Ararat im äußersten Nordosten des Landes absolviert er seinen Militärdienst. Selbst dort, erzählt er stolz, habe man seine Deutschkenntnisse zu schätzen gewusst – und ihn in einem warmen Büro statt draußen im kalten Freien beschäftigt. Damit er in Deutschland nicht vergessen wird, schreibt er immer wieder Briefe an seinen Arbeitgeber: "Wenn ich hier fertig bin, komme ich gerne wieder!" Als das Militär ihn nach zwei langen Jahren 1967 in die Freiheit entlässt, erhält er aus Duisburg ein entmutigendes Schreiben: "Herr Biner, wir werden Sie gerne holen, sobald wir können." Er möge sich noch ein wenig gedulden, momentan habe man ihn in Deutschland mit einer Rezession zu kämpfen. Und während tausende Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter zurück in die Heimat geschickt werden und dort arbeitslos sind, findet der Modellschreiner auch in der Türkei wieder Arbeit. Er fängt als Kassierer bei einer Bank an. Der Traum von Deutschland ist damit aber keineswegs ausgeträumt – er versucht es über einen anderen Weg: Sein Bruder lebt inzwischen in München – ob der nicht etwas organisieren könne? Als der bei seinem Arbeitgeber Krauss-Maffei anfragt, ob ein Modellschreiner gebraucht wird, erwidert man ihm: "Spricht er so gut Deutsch wie Sie? Schicken Sie ihn her!" Mitte 1968 kommt der inzwischen 24-jährige Selahattin zum zweiten Mal in München an, dieses Mal nicht auf der Durchreise ins Ruhrgebiet. Und schon bald will er nie wieder weg.
"In München kam ich wieder in ein Firmenwohnheim. Und wieder dachte ich sofort: Du musst die Gegend erkunden, neue Freunde finden! Also habe ich mir ein Rennrad besorgt und bin los, zusammen mit Hans, einem Arbeitskollegen. Eine unserer ersten Touren werde ich nie vergessen: Plötzlich stand ich am Tegernsee und schaute auf die Berge! Ich habe mich sofort verliebt in die Gegend! Und als mein alter Chef aus Duisburg schrieb 'Herr Biner, es ist Zeit, bitte kommen Sie!', musste ich den netten Kollegen leider erwidern: 'Es tut mir leid – aber ich möchte Bayern nicht mehr verlassen!' Die Alpen zu sehen, das hat mich begeistert wie kaum zuvor etwas in meinem Leben. Inzwischen gehe ich seit Jahrzehnten in die Berge. Immer noch, wenn ich auf einem Gipfel stehe, kann ich mein Glück kaum fassen. Immer wieder spreche ich Leute an und frage sie: 'Sind Sie auch so begeistert?' Und die sind oft ganz überrascht: Türken findet man nicht viele dort droben.
Noch etwas trieb mich um: Ich war 24 und reifer geworden. Und ich dachte: Du willst eine Familie gründen! Eine deutsche Frau zu heiraten hätte ich mir damals nicht vorstellen können. Außerdem gab es in der Türkei jemanden, der mir über die Jahre nicht aus dem Kopf gegangen war: die Tochter meines Schuldirektors. Immer wieder hatte ich sie auf den Sommerfesten in der Schule gesehen, und immer wieder dachte ich: Die ist aber nett. Und was ich zumindest wusste, war, dass ihr Vater mich leidenschaftlich gern mochte, er war ein sehr europäisch orientierter Mensch. Als ich von einem Freund hörte, dass die Tochter noch nicht vergeben war, habe ich mich hingesetzt und geschrieben – erst einen Brief an ihre Mutter, dann eine Postkarte an sie selbst, ich wusste ja, was sich gehört! Die Postkarte hatte ich mit viel Sorgfalt ausgewählt: Das Schloss Neuschwanstein war darauf abgebildet, ich dachte, das Motiv gefällt ihr hoffentlich so gut, dass sie sich vorstellen kann, in Deutschland zu leben! Über Monate haben wir uns dann geschrieben, viele, viele Briefe. Dass wir zusammenpassen, wurde immer deutlicher – und eigentlich hatte ich es mir auch zuvor schon gedacht: Unsere Familien kannten sich, unsere Brüder waren Freunde. In meinem nächsten Urlaub sind wir dann zusammen ausgegangen und haben uns über unsere Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben unterhalten. Dann haben wir sehr schnell entschieden: Wir heiraten!
Die Hochzeit fand in der Türkei statt. Und ich war in deutscher Begleitung. In München hatte ich einen deutschen Theologen getroffen. Er hatte uns, ohne etwas dafür zu nehmen, Deutsch beigebracht. Jeden Aussprachefehler hat er verbessert! Und er hat alles daran gesetzt, zwischen dem islamischen und dem katholischen Glauben zu vermitteln und auch zwischen den Menschen aus der Türkei und denen aus Deutschland. Mehrmals war ich mit ihm in die Türkei gereist und habe ihm bei archäologischen Reisen assistiert. Wir sind richtige Freunde geworden. Ich hoffe, ich darf das so sagen – der Oberstudienrat ist leider, leider schon verstorben! Als ich ihm erzählte, dass ich heiraten würde, sagte er jedenfalls sofort: Ich komme mit, ich bringe dich hin! Bis in die Türkei hat er mich mit seinem Wagen gefahren, die ganze Strecke, über Österreich und Rumänien. Ich bin ihm so dankbar, dem Oberstudienrat! Auch dafür übrigens, dass ich von ihm gelernt habe, wie viele Gemeinsamkeiten es zwischen dem Christentum und dem Islam gibt, und dass es gar nicht so schwer ist, ohne Streit zusammenzuleben!"
Auf der Rückreise aus der Türkei sitzen sie zu dritt im Auto: Der Theologe, der Modellschreiner und seine junge Ehefrau Güzin. In München lernt Güzin ebenfalls fleißig die Sprache, besichtigt die Stadt. Zu den Highlights ihres ersten Jahres gehört der Besuch im Olympiastadion. Ihr Mann hatte sich einen Job als Platzanweiser verschafft – denn natürlich wollten sie bei dem sportlichen Großereignis, den Olympischen Spielen 1972, dabei sein. Für einen Stundenlohn von fünf Mark kann er Freunde und seine Familie ins Stadion lotsen! Von seiner Firma wird er für die Zeit freigestellt. Die Biners haben inzwischen eine Firmenwohnung im Münchner Norden bezogen – angesichts des desolaten Wohnungsmarktes für die inzwischen 250.000 Gastarbeiter in der Stadt ein echter Glücksfall. Und: ein guter Platz für eine Familie. Ende 1972 kommt ihre erste Tochter zur Welt. Mit vier Jahren fällt das kleine Mädchen seinen Erzieherinnen als außergewöhnlich auf: Die kleine Göknil singt, wie schon lange kein Kind in der Untermenzinger Kita mehr gesungen hat! Als eine Erzieherin den Eltern rät, das erstaunliche Talent zu fördern, fragen die begeistert: "Wie? Was können wir tun?" Wenig später erhält Göknil Gesangs- und Instrumentalunterricht; auch das erste Klavier in der Familie wird angeschafft. Als ihre Tochter eingeschult wird, treffen die Eltern eine Entscheidung: "An dem Tag, als Göknil in die erste Klasse kam, haben wir gesagt: Jetzt müssen wir entscheiden, was wir wollen: Nach Hause? Oder hier bleiben? Wir mochten ja die Türkei, keiner von uns hatte je daran gedacht, ein ganzes Leben hier zu verbringen. Aber plötzlich lagen die Dinge anders. Die Älteste kam zur Schule, die Jüngere war gerade geboren. Und als wir auf dem Sofa saßen und überlegten, wurden wir uns schnell einig, dass eine Rückkehr nicht mehr infrage kommt. Die schulische und pädagogische Ausbildung, die unseren Töchtern hier bevorstand, hätte ihnen die Türkei nie geboten, als Mädchen schon gar nicht. Für Kinder und besonders für Mädchen ist die Zukunft in Deutschland einfach eine bessere! Also haben wir entschieden: Wir bleiben. Noch am selben Tag sind wir in den Keller und haben aufgeräumt: All die Kartons, in die wir den Kühlschrank oder den Fernseher wieder einpacken wollten, flogen in den Müll. Alles, worin man etwas verpacken konnte, haben wir weggeschmissen. Und wir haben es nie bereut." Als Göknil Biner eingeschult wird, ist die Presse voll von Berichten über die "hoffnungslose Zukunftssituation" der Gastarbeiterkinder. Mehr als zwei von drei Kindern der zweiten Generation erreichen bereits Mitte der 70er-Jahre nicht den Hauptschulabschluss; als wesentliche Ursache wird die mangelnde Sprachkompetenz ausgemacht. Dass mit den Gastarbeitern auch deren Kinder nach Deutschland ziehen, war bereits zehn Jahre zuvor – also lange vor dem Anwerbestopp, der zum Signal für den Familiennachzug wurde – bekannt. Bereits 1965 forderte die Caritas, die vor allem in den westdeutschen Großstädten Ausländer betreute, die Einrichtung spezieller "Förderinternate" für die Kinder ausländischer Arbeitnehmer im Land. Und ein Jahr zuvor, 1964, hatten die Kultusminister die allgemeine Schulpf licht für Gastarbeiterkinder in einem Beschluss verankert; das damit verbundene erklärte ministeriale Ziel war, auch ihnen gleiche Bildungschancen zu verschaffen.
Wie es aber gelingen sollte, diese zu verwirklichen, dafür fehlte von Beginn an und von Jahr zu Jahr mit immer dramatischeren Auswirkungen ein schlüssiges Konzept. In einem waren sich Bund und Länder in Deutschland mit der Mehrheit der Regierungen der Anwerbestaaten lange einig: Nationale Sonderschulen – wie sie etwa die Griechen in den Folgejahren einrichteten und bis heute gründen – sollte es nicht geben, die Bindung an die Heimat allerdings wegen der geplanten und politisch gewollten Rückkehr dennoch gewahrt bleiben. Das Resultat ist ein Zwittersystem aus deutschen und ausländischen Bildungsinstitutionen. In ganz Deutschland organisieren die türkischen Konsulate muttersprachlichen Ergänzungsunterricht. Dass türkische Lehrer in Deutschland nach türkischen Lehrplänen unterrichten, wird von deutschen Bildungspolitikern und Gewerkschaften über Jahre massiv kritisiert. Viele türkische Familien sehen den Zusatzunterricht allerdings häufig als einzige Chance, den Kindern die Heimat auch in Büchern nahezubringen. Nicht alle allerdings – die Biners lehnen das Modell rundweg ab. "Während der gesamten Schulzeit unserer Kinder war ich im Elternbeirat, erst in der Schule, später auch im Gemeinsamen Elternbeirat der Stadt München. Und dazu muss ich wirklich sagen: Was man damals mit den Kindern veranstaltet hat – von deutscher wie von türkischer Seite – habe ich überhaupt nicht verstanden. Eine Zeit lang hat man in München türkische Klassen gebildet – da wurden nur türkische Kinder unterrichtet. Einen großen Teil der Zeit haben sie von türkischen Lehrern Türkischunterricht bekommen – anstatt, wie es in Deutschland geboten wäre, vernünftig Deutsch zu lernen. Meiner Beobachtung nach haben sich diese zweisprachigen Klassen, fernab von den Kindern der deutschen Regelklassen, überhaupt nicht bewährt. Sowohl als Vater wie auch als Mitglied des Berufsbildungsausschusses bei Krauss-Maffei – dem ich als Betriebsrat angehörte – habe ich immer wieder festgestellt: Die Schüler aus diesen Klassen konnten am Ende weder richtig Türkisch noch Deutsch! Und obwohl ich mich immer wieder dafür eingesetzt habe, mehr ausländische Jugendliche einzustellen, habe ich auch gesehen: Sie hatten eben nicht die gleichen Sprachkenntnisse; im Vergleich zu deutschen Kandidaten waren sie schlichtweg schlechter. Sie waren immer im Nachteil. Besonders geärgert hat mich, dass die Türkei diesen Unsinn jahrzehntelang forciert hat. Anstatt die Kinder ihrer im Ausland lebenden Bürger dabei zu unterstützen, möglichst gut in der neuen Heimat anzukommen, hat sie immer wieder den Daumen drauf gehalten, nach dem Motto: Ihr gehört zu uns! Entfremdet euch nicht. Bewahrt bloß euer Türkentum! Mir hat die Haltung dahinter nie gefallen. Und als ich mich dafür eingesetzt habe, dass unsere Kinder vom deutschen Staat unterrichtet werden und sonst von niemandem, musste ich mich von dem Münchner Konsulat dafür schief anschauen lassen. Dabei waren die türkischen Lehrer im Vergleich zu den deutschen auch noch viel schlechter ausgebildet. Sie konnten auch kein Deutsch; sie haben sich auch gar nicht bemüht, es zu lernen. Für uns kam nie infrage, unsere Töchter in eine solche Klasse zu geben. 'Nicht mit uns', haben wir gesagt – 'was diese Lehrer können, können wir schon lange. Türkisch lehren wir zu Hause und sonst nirgends.'"
Beide Töchter meistern die Schule mit Bravour. Beide machen Abitur, beide starten eine musikalische Laufbahn: Göknil absolviert am Münchner Konservatorium eine Ausbildung zur Sopranistin, die sechs Jahre jüngere Gülbin studiert Musik- und Erziehungswissenschaften an der Ludwig- Maximilians-Universität. Göknil, die Ältere, steht schon bald nach Beginn ihrer Ausbildung nicht nur als Papagena in Mozarts "Zauberflöte" auf der Bühne – in Münchens berühmtestem Gotteshaus, der Frauenkirche, singt sie, in Anwesenheit des Kardinals, das Weihnachtsoratorium. Dass ihre Tochter christlichen Festen huldigt, ist für die liberalen Eltern, die sich durchaus immer noch als Muslime verstehen, kein Thema. Ist es für den Kardinal eins? Als der die hübsche junge Frau mit der schönen Stimme kennenlernt, kann er ihren Namen so wenig glauben, dass er ihre Hand loslässt. 'Vielleicht', sagen ihre Eltern damals, 'ist er einfach nur erstaunt, dass ein muslimisches Mädchen zu Weihnachten auftritt.'
Die junge Nachwuchs-Sopranistin macht weiter ihren Weg. Auf dem Konservatorium lernt Göknil einen Pianisten aus Neuseeland kennen; gemeinsam präsentieren sie dem bayerischen Publikum wenig später eine musikalische Reise um den Globus: "In 40 Minuten um die Welt" heißt das Programm. Es dauert nicht lange, da nimmt der junge Neuseeländer seine Freundin mit in seine Heimat. Nach ihrer Rückkehr eröffnet Göknil ihren Eltern: "Papa, ich habe mich in Tom verliebt. Und in das Land. Wir möchten heiraten und auswandern." Den Eltern, die selbst Jahrzehnte zuvor ebenfalls ihre Heimat verlassen hatten, um in dem Land ihrer Träume zu leben, fällt es nicht schwer, die Tochter ziehen zu lassen: "Mach, was Du für richtig hältst", erwidern sie und besuchen sie, wann immer sie können.
Reisen in die Türkei stehen bei den Biners dagegen nur noch selten auf dem Programm. Aber das schon, seit Anfang der 90er-Jahre ihre Eltern dort verstorben sind. Dass sie sich, wie manche in ihrem Umfeld finden, von Heimat und Herkunft entfremdet hätten, wollen Selahattin und Güzin Biner aber nun keineswegs gelten lassen. » Die eigene Identität vergisst man nie, glauben Sie mir! Wenn Sie unsere Älteste in Neuseeland sähen, würden Sie feststellen: Sogar sie ist noch ganz stark türkisch geprägt. Sie spricht mit ihren Kindern türkisch, sie veranstaltet Feste mit der türkischen Community dort. Und wenn meine Frau und ich deutsch sprechen, weil uns das in Neuseeland mit den drei Sprachen zu kompliziert wird, sagt sie: 'Papi, jetzt lass uns aber wieder türkisch reden!' Verrückt ist das. Und trotzdem ist sie auch Neuseeländerin: Voll integriert, in einem Land, in dem jeder jeden akzeptiert.
Und wir, meine Frau und ich, wir sind auch noch Türken. Was uns aber immer von vielen anderen Türken unterschieden hat, ist unsere Haltung. Wir haben nie gesagt: 'Das ist eine andere Kultur. Die lehnen wir ab. So wie die Menschen hier wollen wir nicht werden.' Ich finde das auch unnatürlich, die Umgebung prägt einen doch. Wenn du in Rom lebst, benimmst du dich eben auch, wie die Römer sich benehmen, und dann wirst du auch ein bisschen Römer, das geht doch gar nicht anders! Wir sind eben ein bisschen wie die Deutschen geworden, das ging ganz von selbst. Wir haben gesehen, dass sie ihre Wäsche am Sonntag nicht nach draußen hängen; also haben wir uns auch angewöhnt, freitags zu waschen. Wir haben gesehen, dass deutsche Kinder nicht bis abends um elf auf der Straße rumlaufen, also haben wir unsere auch zur Tagesschau ins Bett geschickt. Und wenn ich heute in der Türkei bin, irritiert mich eine Wäscheleine am Sonntag ebenso wie Kinder, die nachts herumtoben.
Ich möchte auch Menschen, die sich anders entschieden haben und um jeden Preis an ihrem Türkentum festhalten, nicht verurteilen. Es kann ja jeder leben, wie er möchte, zum Glück. Aber zwei Dinge möchte ich einigen Menschen doch manchmal gern sagen. Erstens: Die Freiheit, die ihr hier habt, gerade die religiöse, die hättet ihr, wenn ihr zum Beispiel Katholiken wärt, in der Türkei nicht! Und zweitens: Bitte, meine Herrschaften, wenn ihr hier nicht weggehen wollt oder könnt: Steht dazu – und gebt euren Kindern die Möglichkeit, so zu leben und sich so zu bilden, wie es Deutsche tun. Denn die Möglichkeiten, die Deutschland bietet, die können einen begeistern! Und wer sie nutzt, verliert deswegen auch überhaupt nicht seine Identität!"