November 1961: im zweiten Zug aus Istanbul nach München sitzt Ali Başar. Ohne Ausbildung, ohne Sprachkenntnisse, ohne Geld kommt der heute 79-Jährige ins Ruhrgebiet. Seine Heimat Tunceli (kurdisch: Dersim) in Ostanatolien hatte er schon als 13-Jähriger verlassen, um den Unterhalt für die Familie zu verdienen. Er landete in Istanbul, schlief auf Parkbänken, schlug sich als Tagelöhner durch. Ein Anwerbevertrag bringt ihn nach Deutschland, hier arbeitet er viele Jahre im Bergwerk und als Schweißer. 1969 wird er Gewerkschaftsmitglied der IG Metall und als Vertrauensmann gewählt.
Die Anfänge in Deutschland
"In den Pausen saß ich meist alleine da, auf einem Stein. Ich fühlte mich so einsam wie nie zuvor. Ich konnte mit niemandem reden, die Deutschen haben mich nicht beachtet. Bis Lorenz kam, der war anders. Er setzte sich neben mich, sprach mit mir. 'Ich: Lorenz, du: ?' – 'Ich: Ali.' So begann unsere Freundschaft. Am nächsten Tag brachte Lorenz mir von der Trinkhalle eine Sinalco mit, die er von seinem eigenen Geld für mich gekauft hatte! Ich gab ihm von meinem Brot, machte Tee für ihn. Irgendwann luden er und seine Frau Edith mich auch zu sich nach Hause ein. Die beiden haben mich aus meiner Einsamkeit befreit, sie haben mir sehr geholfen, so liebe Menschen. Wenn ich sehr traurig war, hat Lorenz mir den Arm um die Schulter gelegt und mich aufgemuntert. In Dortmund gab es damals außer Ahmet, Şükrü und mir überhaupt keine Türken."
Ein Rückblick
"In Deutschland lebten wir allerdings viele Jahre mit einem schlechten Gewissen, weil es uns hier so gut ging, wir ein friedliches Leben führen konnten. Wir konnten unseren Verwandten zwar Geld und andere Dinge schicken, aber was ist das schon, wenn dort Bomben gelegt werden? Die Armut, die ich in der Türkei erlebt habe, hat mich zur Dankbarkeit erzogen. Mit den Peitschenstriemen der Armut kam ich hierher nach Deutschland, das Gefühl habe ich nie verloren. In Deutschland habe ich meinen Beruf erlernt, Geld verdient, ein Auto gekauft, eine Familie gegründet. Das ist für mich ein großes Geschenk. Die Wohnung, in der ich heute lebe, ist für mich ein Paradies. Wenn etwas zu essen auf dem Tisch steht, ist das für mich immer noch wunderbar, jeden Tag. Wir sind Deutschland in einer Art Dankbarkeit verbunden, und ich verstehe nicht, wie das jemand anders sehen kann. Wir hätten in der Türkei wahrscheinlich nicht überlebt. Deutschland hat mir das Leben gerettet, so würde ich das sagen, und es ist eine Heimat für uns geworden."