Menschen bleiben im Laufe ihres Lebens häufig nicht an einem Ort, sondern ziehen herum. Sie verlassen ihre Heimat, durchqueren fremde Länder und erreichen schließlich einen anderen Ort. Wenn sie bleiben, verändert das die Gesellschaft, in der sie sich ansiedeln. Wenn sie weiterziehen, beeinflussen sie zumindest die Debatten, die rechts und links ihrer Migrationsroute geführt werden. In Deutschland schlagen sich die Fluchtbewegungen der letzten Jahre in hitzigen Diskussionen über Asylrecht, Leitkultur und Demografie nieder. Spätestens seit dem "Sommer der Migration" 2015 ist eine rein theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Zuwanderung kaum noch möglich.
Im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten sind in der aktuellen Einwanderungsdebatte die Einzelschicksale Geflüchteter stärker in den Fokus gerückt. Ihre Geschichten werden jedoch fast ausschließlich aus der Perspektive von Einheimischen erzählt. Immer geht es um die Flucht, um das Losziehen und Weiterlaufen. Vom Ankommen ist relativ selten die Rede. Wenn es doch einmal vorkommt, so wird es in Begriffen wie Aufenthaltsstatus, Arbeitserlaubnis und Integrationskurs gedacht. Dabei braucht es viel mehr als solche juristischen Vokabeln, um in einem fremden Land wirklich anzukommen. Mindestens ebenso wichtig sind das richtige Kaffeepulver, neue Freunde und das Talent, sich in einer fremden Sprache zurechtzufinden.
Alltagssituationen Geflüchteter im Fokus
Um diese menschliche Dimension der Migration stärker in den Fokus zu rücken, hat der Deutsche Comicverein im Frühjahr 2017 das Projekt "Alphabet des Ankommens" aufgelegt. Dieses zielte explizit auf Aspekte des Privat- und Alltagslebens ab: Wie lange beeinflusst die Erfahrung politischer Verfolgung die Psyche? Kann man sich von den Geschmäckern der Kindheit je ganz verabschieden? Wie kommuniziert man mit Menschen, deren Sprache man noch nicht beherrscht und deren Umgangsformen man nicht kennt? Viele dieser Aspekte lassen sich in kurze Schlagworte fassen, die in der Summe einen guten Eindruck davon vermitteln, auf wie viele Lebensbereiche sich Migration auswirken kann. Aus dieser formalen Überlegung entstand der Name des Projekts: Die Orientierung am Alphabet der deutschen Sprache machte eine einfache Gliederung der Schlagworte möglich. Außerdem veranschaulicht es auf sehr eindringliche Weise, wie häufig sich Zuwanderinnen und Zuwanderer in den ersten Jahren in ihre Kindheit zurückversetzt fühlen. Im Integrationskurs müssen sie wieder die Schulbank drücken, bürokratische oder administrative Prozesse sind undurchsichtig, die Regeln der sozialen Interaktion müssen erst erlernt werden. Das Neue an dem Konzept des Projekts war jedoch nicht nur die Themensetzung, sondern auch die Wahl des Formats: Keine literarischen oder autobiografischen, sondern journalistische Comics sollten für das "Alphabet des Ankommens" gezeichnet werden.
Fusion von Comic und Journalismus
Das Projekt "Alphabet des Ankommens" wurde im Rahmen eines Workshops durchgeführt, der von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gefördert wurde. Das Ankommen in einem fremden Land sollte dabei nicht nur Thema der Comicreportagen sein, sondern auch im Miteinander der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops Ausdruck finden, der vom 6. bis 12. März 2017 an der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg stattfand. Bewerben konnte sich ungeachtet von Nationalität oder Aufenthaltsstatus jeder, der in Deutschland lebt und professionell als Zeichner oder Journalist arbeitet. Ausgewählt wurden 24 Teilnehmende, die mit Deutschland, Polen, Frankreich, Eritrea, Italien, Syrien, Tunesien, Brasilien, Israel und der Türkei insgesamt zehn Herkunftsländer abdeckten. Kaum verwunderlich also, dass sich schon an den ersten Workshoptagen immer öfter arabische und französische Satzfetzen in die meist auf Englisch, manchmal auf Deutsch geführten Diskussionen mischten. Die Themenvorschläge der Journalistinnen und Journalisten – teils schon vorrecherchiert, teils noch im Entwurfsstadium – wurden in der Gruppe besprochen und je nach Interessenlage einzelnen Zeichnerinnen und Zeichnern zugeschlagen. So bildeten sich aus den 24 Teilnehmenden zwölf Teams heraus, die mit je einem Journalisten und einem Zeichner ein comicjournalistisches Tandem bildeten.
Die Entstehung der Reportagen war sehr unterschiedlich, wie hier anhand von zwei Beiträgen beispielhaft gezeigt werden soll: Jens Wiesner hat die Story des indonesischen Studenten E. Sukarno, der sich durch den Dschungel des deutschen Aufenthalts- und Arbeitsrechts schlagen muss, vorrecherchiert und in den Workshop mitgebracht. An journalistischem Material – zum Großteil Interviewausschnitte, Hintergrundinformationen, Zahlen, Fakten und Fotos aller Beteiligten – mangelte es nicht. Wiesner und sein Teampartner, der Zeichner Markus Köninger, standen zuerst vor der Aufgabe, das vorhandene Material zu sichten, zu entschlacken und auf eine funktionierende Storyline zu reduzieren. Post-its, auf die erste Bildideen notiert wurden, waren die Rettung der beiden. Wiesner schrieb anschließend ein ausführliches Script, das von Köninger in Bilderfolgen umgesetzt wurde. Letzterer entschied sich für eine Computerspiel-Optik, um die verschiedenen Levels grafisch darzustellen, die auf dem Weg zur Niederlassungsserlaubnis für Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger in Deutschland überwunden werden müssen. Auf dem Papier wurde schnell klar, welche Panels funktionierten und wo die Bleiwüsten der peniblen journalistischen Recherche durch grafische Elemente, wie z.B. Ansichten der Handlungsorte oder Pacman-Figuren, aufgelockert werden mussten. Die Comicreportage
Erlebte Recherche
Einen anderen Weg haben die italienische Zeichnerin Alice Socal und der eritreische Journalist Ahmed Mohammed Omer gewählt. Letzterer wollte eine Reportage über die unterschiedlichen Verhaltenskonventionen im öffentlichen Raum in Eritrea und Deutschland machen. Um das ganze anschaulich zu gestalten, schlug er vor, seinen Bekannten Merhawi Baire, der wie Omer aus Eritrea stammt, bei seinen täglichen U-Bahn-Fahrten durch Hamburg zu begleiten. Außer einem kurzen Script gab es noch nicht viel Material. Deshalb setzten sich Socal und Omer kurzerhand mit Baire in die U-Bahn, um die nötigen atmosphärischen Elemente und konkreten Situationen einzufangen. Aus diesen Skizzen und einzelnen Interviews mit Baire schrieb Omer einen längeren Fließtext, den Socal in Szenen umwandelte: Kurze Momente zwischen Zug und Bahnsteinkante wechseln sich mit Erinnerungen an Baires Heimatstadt Keren, seine Familie und die Flucht durch den Sudan und Libyen ab. Den teils lustigen Situationen in der U-Bahn wird die politische Situation in Eritrea, verbunden mit anderen Gründen für die Flucht aus Ostafrika, gegenübergestellt. Um die Szenen, die in Keren und der Sahara spielen, zwar nicht fotorealistisch, aber doch in Anlehnung an die Realität darzustellen, arbeitete Socal mit Fotos, die sie online recherchierte und mit Omer abstimmte. Die Comicreportage "Across the Sahara and onto the Metro" ist jedoch zum Großteil aus einem auf unmittelbarer, erlebter Recherche basierenden Arbeitsprozess hervorgegangen.
Beide Ansätze – das Recherchieren von Quellen und Fakten auf Papier oder online sowie das konkrete Erleben von Orten, Situationen und Personen – gehören zum journalistischen Handwerkszeug. Auch Comiczeichnerinnen und Comiczeichner bedienen sich dieser Arbeitsmethoden, wenn ihre Geschichten nicht fiktional sind, sondern auf realen Geschehnissen oder Personen basieren. Die Schwierigkeit beim Erarbeiten der Comicreportagen ergab sich daher nicht unbedingt aus unterschiedlichen Arbeitsprozessen, sondern aus unterschiedlichen Vorstellungswelten: Während die meisten teilnehmenden Journalistinnen und Journalisten ihre Storys ausschließlich in Worten und Sätzen konzipierten, dachten die Zeichnerinnen und Zeichner in Bildern. Diese beiden Ausdrucksmedien in Einklang zu bringen, stellte eine der größten Herausforderungen des Workshops dar. Schließlich funktioniert ein Comicpanel nicht so wie ein Text mit begleitendem Foto oder Illustration. Auch darf man in einem journalistischen Werk der schöneren Optik wegen nicht einfach beliebig Text streichen: Informationen, die eine Story in der Realität verankern, wie beispielsweise Personendaten, Handlungsorte, Situationsabläufe und Zitate, können manchmal direkt in die Zeichnung integriert werden, müssen in anderen Fällen aber als Texte in den Comic integriert werden. Ein gelungenes Zusammenspiel von Text und Bild zu schaffen, ist eine der größten Herausforderungen, vor der die Autorinnen und Autoren von Comicreportagen stehen.
Jede Geschichte ist anders
Dieser ständige Balanceakt zeigte sich in den meisten Fällen als große Chance: Da das Medium Comicreportage noch relativ jung ist, gibt es kaum Regeln, was das Zusammenspiel von Text und Bild betrifft. Die fehlende Kodierung eines Genres kann zu kreativeren Arbeitsansätzen und Problemlösungen führen, was sich an den Comicreportagen des "Alphabet des Ankommens" sehr schön zeigt: Keine von ihnen gleicht der anderen, weder optisch noch inhaltlich. Auch wenn sich ein deutlicher Fokus auf das Thema Flucht aus Syrien erkennen lässt, decken die Reportagen ganz unterschiedliche Aspekte des Ankommens ab. Insgesamt sind mehr als 13 Herkunftsländer in den Geschichten präsent. Sechs der Comicreportagen wurden auf Deutsch, drei auf Englisch, zwei auf Französisch und eine auf Arabisch verfasst.
In englischer und deutscher Übersetzung können alle zwölf Comicreportagen nun hier gelesen werden. Die Bewegung, die in dem Begriff "Ankommen" steckt, schlägt sich auch optisch nieder, denn jede Comicreportage sieht anders aus: Manche sind in schwarz-weiß gezeichnet, andere in Farbe. Einige verfolgen eine realistischere Darstellung, andere abstrahieren sehr stark. Manche erzählen in klassischen Panelsequenzen, andere nutzen die Vorteile von Infografiken. So unterschiedlich die einzelnen Zeichner und Zeichnerinnen, Journalistinnen und Journalisten arbeiten, so unterschiedlich sind die Reportagen. Auch diese Einsicht will das "Alphabet des Ankommens" vermitteln: Hinter dem Begriff Migration stehen Menschen. Ein jeder von ihnen hat eine andere Geschichte.