Mehrere tausend Flüchtlinge warten im Flüchtlingslager von Calais seit Monaten darauf, mit dem Schiff oder Zug von Frankreich nach Großbritannien weiter zu reisen. Doch dort will man sie nicht. Um illegale Einreisen zu verhindern, hat die britische Regierung Mitte September mit dem Bau einer vier Meter hohen und einen Kilometer langen Betonmauer auf der französischen Seite des Ärmelkanals begonnen. Sie soll die bereits existierenden Metallbarrieren verstärken und den Hafen von Calais sowie die Zufahrt zum Eurotunnel für Flüchtlinge unerreichbar machen. Die Mauer wird Großbritannien rund 2,7 Millionen Euro kosten und soll bis Ende des Jahres fertiggestellt sein. Die britische Tageszeitung The Daily Mail verteidigte die umstrittene Maßnahme: "Überall auf dem europäischen Kontinent werden Grenzen errichtet – von der griechisch-mazedonischen Grenze, entlang der gesamten, von Flüchtlingen früher genutzten Balkanroute bis nach Nordeuropa. ... Die Massenmigration, die Europa in den vergangenen Jahren gefördert hat, wird spürbar. Und eine der politischen Konsequenzen ist die Wiedererrichtung von Grenzen."
Von einem "Armutszeugnis" sprach hingegen die italienische Zeitung Il Sole 24 Ore: "Jede Barriere, die im Norden errichtet wird, wälzt die Bürde unvermeidbar auf den Süden ab. Und schuld daran ist die Unfähigkeit der EU, gemeinschaftliche Lösungen für ein Problem zu finden, das die gesamte gemeinschaftliche Konstruktion zu sprengen droht." Die britische Regierung hat sich verpflichtet, bis 2020 rund 20.000 syrische Flüchtlinge aus UN-Lagern in der Krisenregion aufzunehmen sowie 3.000 unbegleitete Minderjährige, die sich bereits in anderen EU-Ländern aufhalten. Zum Vergleich: Nach Deutschland sind allein im Jahr 2015 rund 900.000 Flüchtlinge eingereist. Britische Hilfsorganisationen und religiöse Führer forderten deshalb die britische Regierung in den vergangenen Monaten immer wieder dazu auf, mehr zur Bewältigung der europäischen Flüchtlingskrise beizutragen.
In der britischen Presse fand das jedoch kaum Zustimmung. Die "Willkommenskultur" von Angela Merkel sei ein schwerer Fehler gewesen, bilanzierte etwa The Daily Telegraph: Merkel habe die Sorgen ihrer Unterstützer in Deutschland "ignoriert" und "sollte bald anfangen, auf ihr Volk zu hören". Die konservative Zeitung The Times warnte ebenfalls vor einer Politik der offenen Grenzen: "Es geht darum, die Push- und Pull-Effekte für Migration zu reduzieren und dabei der Verantwortung gegenüber den wirklich Verzweifelten gerecht zu werden."
Ähnlich argumentierte Premierministerin Theresa May beim UN-Flüchtlingsgipfel in New York Mitte September. Es müsse stärker zwischen Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen unterschieden werden. Das Thema Zuwanderung spielte auch im Vorfeld des Brexit-Referendums im Juni eine entscheidende Rolle in der innerbritischen Debatte. Das Land müsse endlich die Kontrolle über seine Grenzen wiedererlangen, forderten die Austrittsbefürworter. Und konnten damit bei großen Teilen der Bevölkerung punkten, bestätigten Meinungsforscher.
Großbritannien steht mit seiner "Nicht-Willkommenskultur", wie es in einigen Medien hieß, in Nordeuropa nicht alleine da. Schweden, das viele Jahre lang ein liberales und offenes Land für Flüchtlinge war, machte Ende vergangenen Jahres eine Kehrtwende: Die Asylgesetze wurden deutlich verschärft, Aufenthaltsgenehmigungen gibt es, wenn überhaupt, nur noch befristet, der Familiennachzug wurde deutlich erschwert. An der Grenze zu Dänemark wurden strenge Kontrollen wiedereingeführt. Die Zahl der Asylbewerber ging in der Folge stark zurück. 2015 waren noch 163.000 Flüchtlinge ins Land gekommen und Schweden war gemessen an der Bevölkerungszahl das Land mit der größten Aufnahmebereitschaft in Europa. Von Januar bis August 2016 reisten dann nur noch rund 20.000 Flüchtlinge ein. Knapp 11.000 haben das Land wieder verlassen. Sie haben eine Ausreiseprämie in der Höhe von 3.000 Euro angenommen und sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt.
Der Umschwung in der Asylpolitik wurde von einer sozialdemokratisch-grünen Regierungskoalition vollzogen, die zuvor für eine liberale und offene Politik gestanden hatte. Doch überfüllte Flüchtlingsheime und Probleme bei der Integration führten zu einem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung, wie Umfragen zeigten. Die rechtsnationale und zuwanderungskritische Partei Schwedendemokraten legte in der Wählergunst zu.
Dass Zuwanderer womöglich einer anderen Kultur oder Religion angehören, wurde medial heftig diskutiert. Die schwedische Tageszeitung Göteborgs-Posten sah darin die Ursache für Übergriffe von Asylbewerbern auf Frauen: "Wie erklärt man, dass die Situation von Frauen etwa in Afghanistan oder Ägypten so erbärmlich schlechter ist als in anderen Ländern? Wirtschaft, Stabilität, Ausbildung und Staatsform erklären das teilweise. Aber man kann nicht Kultur, Werte und die Rolle der Religion außer Acht lassen." Mit seiner neuen Politik befindet sich Schweden nun auf einer Linie mit Dänemark, dessen restriktive Politik in Stockholm vorher lange heftig kritisiert worden war. Der dänische Regierungschef Lars Løkke Rasmussen brüstete sich Ende August damit, dass in diesem Jahr nur halb so viele Flüchtlinge ins Land kommen würden wie 2015. Damals waren es rund 20.000. "Wir haben die Aufenthaltsbedingungen verschärft, die EU ordentlich unter Druck gesetzt, und jetzt zeigt diese Politik zum Glück Wirkung", erklärte Rasmussen. Seine liberal-konservative Minderheitsregierung ist auf die Unterstützung der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei angewiesen. Das ist aus Sicht vieler Beobachter ein Grund für Rasmussens strenge Asylpolitik.
Diese sei angesichts der verfehlten Asylpolitik der deutschen Kanzlerin Angela Merkel alternativlos, argumentierte das dänische Blatt Kristeligt Dagblad: "Merkels humanitärer Alleingang hat einen nie dagewesenen und chaotischen Massenzustrom ausgelöst. ... Dem Jubel vor einem Jahr folgten die Übergriffe in Köln in der Silvesternacht und die islamistischen Angriffe in Würzburg und Ansbach." Merkel habe es "versäumt, konkrete Antworten auf die Frage zu geben, wie Deutschland und Europa diese Herausforderungen bewältigen sollen".
Keine Freude an der strengen Zuwanderungspolitik hatte hingegen die dänische Tageszeitung Der Nordschleswiger: "Es ist erschütternd, wie sich im Kampf um die kurzfristige Macht auf dem Regierungssitz Christiansborg, im Wettlauf um die Gunst des Pöbels, eine ganze Politikergeneration schuldig macht, das weltpolitische Erbe Dänemarks – ein kleiner, aber inspirierender Beitrag zum Guten in der Welt – so leichtfertig über Bord zu werfen."
In Finnland sind die Asylgesetze ähnlich wie in Schweden auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise verschärft worden. Die finnische Tageszeitung Aamulehti klagte, dass das Schicksal von Kriegsflüchtlingen Europa kalt lasse: "Die Not der Syrer kümmert uns weniger als die Frage, wie unsere Gesellschaft mit den Zuwanderern zurechtkommt. Die Ankunft der Flüchtlinge hat Europa in einen moralischen Konkurs mit politischen Folgen getrieben."
Norwegen schottet sich ähnlich wie Großbritannien mit dem Bau einer Barriere von Zuwanderern ab: Am einzigen Grenzübergang zu Russland im hohen Norden wird eine 200 Meter lange Sperranlage errichtet. Sie soll die Route schließen, über die bisher Flüchtlinge oft mit dem Fahrrad eingereist waren. Einwanderungsministerin Sylvi Listhaug rechtfertigte die Maßnahme mit dem Abschreckungseffekt: "Wir haben gesehen, dass andere sehr liberale Länder wie Deutschland und Schweden enorme Probleme bekommen haben. ... Geben wir ein Signal, dass wir eine strenge Asylpolitik verfolgen, dann macht das schnell die Runde."
Vergleichsweise wenig werden diese Fragen in Irland diskutiert. Die Flüchtlingskrise existiert auf der Grünen Insel nicht – schon allein deshalb, weil es in den vergangenen zwei Jahren nur wenige aus Syrien und Nordafrika bis nach Irland geschafft haben. Ihre geografische Lage macht die Insel schwer erreichbar. Die Regierung in Dublin erklärte sich 2015 bereit, bis September nächsten Jahres 4.000 Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten aufzunehmen, die sich zum Teil bereits in südlichen EU-Ländern wie Italien und Griechenland befinden. Bisher sind nur etwas mehr als 300 eingereist. Laut den irischen Behörden liegt das vor allem an bürokratischen Hürden in den Aufnahmezentren in Südeuropa.
Rechtspopulistische und fremdenfeindliche Parteien wie in vielen anderen Ländern Europas gibt es in Irland nicht. Einer Umfrage des International Rescue Committee (IRC) vom September unter zwölf EU-Staaten zufolge bringen die Iren syrischen Flüchtlingen mehr Sympathie entgegen, als die Bewohner der anderen elf Länder. Ein Leserbriefschreiber in der Tageszeitung The Irish Times sieht das anders: "Es scheint so, als hätte unsere tiefe Anteilnahme ihre Grenzen. Denn wenn es uns ernst wäre, würden wir auf die Straßen gehen und von unserer Regierung mehr direkte Hilfe für diese bedauernswerten Mitmenschen fordern."