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Arabische Gemeinschaften in den sozialen Medien in Deutschland Auf dem Weg zu nuancierten Perspektiven für ein Cultural Citizenship

Prof. Dr. Hanan Badr

/ 12 Minuten zu lesen

Obwohl der freie Personenverkehr über territoriale Grenzen so alt wie die menschliche Existenz ist, verleihen Globalisierung und digitale Transformation einem alten Phänomen neue Intensität. Informationen, Medien und Diskurse fließen zunehmend frei durch die digitale Räume und tragen das Zugehörigkeitsgefühl von Migrant*innen – sowohl in ihren Herkunfts- als auch in ihren Gastländern – mit sich.

Illustration: www.leitwerk.com

In den vergangenen 70 Jahren hat Europa, einschließlich Deutschland, einen intensiven demografischen Wandel erlebt. Über Jahrzehnte hinweg wurde die arabische Migration – aus dicht besiedelten und sozioökonomisch schwächeren Staaten in Nordafrika und dem östlichen Mittelmeerraum in ein inzwischen alterndes Europa mit Arbeitskräftebedarf gelenkt. Die Richtung dieser Migration war v.a. durch ökonomische Kräfte aber auch politische Faktoren bestimmt und damit hochgradig asymmetrisch. Heute ist ein weiterer demografischer Wandel in der arabischen Migration nach Deutschland sichtbar, mit einer steigenden Anzahl arabischer intellektueller Eliten, politischer Exilant*innen und Studierender, die im letzten Jahrzehnt angekommen sind.

Eine breitere, nuanciertere Perspektive auf arabische Migrant*innen in Deutschland ist erforderlich – und deren Mediennutzung, sowohl traditionelle als auch soziale, können einen entscheidenden Beitrag leisten, ein Zugehörigkeitsgefühl der arabischen Migrant*innen zur Gesellschaft in Deutschland und Europa zu stärken.

Es gibt nicht die eine arabische Diaspora. Arabische Migrant*innen bringen vielfältige politische Realitäten, Wirtschaftssysteme, lokale Sprachen und Dialekte sowie unterschiedliche und reiche Kulturen in ihre Gastländer ein. Die arabische Diaspora ist eine politisch, ethnisch und religiös heterogene transnationale Gruppe mit unterschiedlichen sozioökonomischen Status und Klassen, sprachlichen Kompetenzen, Lebensstilen und Weltanschauungen, Hintergründe und Formen der Migration sowie unterschiedlichen Integrationsgraden und Sicherheits- oder Prekaritätsempfindungen innerhalb der Gastgesellschaft. Diese Unterschiede – und die Schnittstellen zwischen ihnen sowie die entstehenden Machtstrukturen – erschweren es, allgemeine einheitliche Aussagen über die Medienrepräsentation, -teilhabe oder -nutzung arabischer Migrant*innen zu treffen.

Diese demografische Diversifizierung hat Fragen über sozialen Zusammenhalt und Koexistenz aufgeworfen, den deutschen öffentlichen Diskurs polarisiert und das politische Leben sowie Wahlkämpfe und -ergebnisse beeinflusst. Sie hat auch die strukturellen sozialen Ungleichheiten und Herausforderungen offengelegt, die den Zugang von Migrant*innen zu kulturellen und politischen Ressourcen behindern. Es ist wichtig, die Machtungleichgewichte in einer von einer hegemonialen Kultur und einem dominanten Diskurs geprägten Öffentlichkeit anzuerkennen und daran zu arbeiten, alternative Stimmen einzubeziehen und neue Handlungsräume zu schaffen. Die in Studien als ausgrenzend und diskriminierend beschriebenen Diskurse in den deutschen Mainstream-Medien und öffentlichen Debatten über Migrant*innen diskriminieren aufgrund von Herkunft, Sprache, Namen und Aussehen. Die berüchtigte Frage „Woher kommen Sie?“ impliziert, dass die Migrant*innen nicht zu ihrem Gastland gehören.

Medien und Migrant*innen: Paradoxien und Wege

Eine hegemoniale Öffentlichkeit

Die Darstellung arabischer Migrant*innen in den Medien – sowohl vor als auch hinter den Kulissen – hat einen tiefgreifenden Einfluss darauf, wie diese vielfältige Diaspora wahrgenommen wird, und prägt somit den öffentlichen Diskurs.

Migrant*innen arabischer und muslimischer Herkunft wurden im Westen lange Zeit als ununterscheidbare Vermischung muslimischer (religiöser) und arabischer (geo-kultureller und sprachlicher) Identitäten präsentiert. Die Berichterstattung konzentriert sich dabei auf politisierte, konfliktreiche und negative Ereignisse im Zusammenhang mit Terrorismus, Krieg und politischer Unruhe und verbindet arabische Migrant*innen oft mit Kriminalisierung, Opferrolle, ungerechtfertigter Inanspruchnahme sozialer Leistungen oder mangelnder Bildung und Integration. Positive Darstellungen hingegen halten das außergewöhnliche Ideal des Mustermigranten aufrecht und verknüpfen den Wert der Migrant*innen mit wirtschaftlichen Vorteilen.

Dieser Mangel an nuancierter Repräsentation in den Medien spiegelt die Unterrepräsentation arabischer Migrant*innen in der Medienproduktion wider. Obwohl Migrant*innen mittlerweile fast ein Drittel der unter 40-Jährigen in Deutschland ausmachen und ihre Zahl weiter steigt, bleiben sie in den Redaktionsräumen unterrepräsentiert und marginalisiert. Forschungsergebnisse zeigen, dass von Journalist*innen, Redakteur*innen und Medienproduzent*innen mit Migrationshintergrund oft erwartet wird, entweder vollständig in die hegemoniale Kultur des Gastlandes zu assimilieren oder als symbolische Vertreter*innen, Tokenization, ihrer gesamten Gemeinschaft zu dienen. Eine Diversifizierung oder gar Dekolonisierung der Redaktionsräume scheint notwendig, um nicht nur unterschiedliche Stimmen in Redaktionsteams, Medienaufsichtsorgane und Medieninhalte einzubringen, sondern auch um Strukturen und Denkweisen zu überwinden, die voraussetzen, dass "der Westen es am besten weiß". Die Forschung zeigt, dass Mainstream-Medieninstitutionen bei der Umsetzung transparenter und nachhaltiger Anti-Diskriminierungs- und Anti-Rassismus-Strategien langsam und zögerlich vorgehen. Von der migrantischen Community geführte Medien bleiben daher wichtige Orte des kulturellen und medialen Ausdrucks, sind jedoch oft Nischenmedien mit überschaubarer Sichtbarkeit. Die Unsichtbarkeit und Unterrepräsentation tragen dazu bei, dass viele Migrant*innen sich auf die Suche nach transnationalen Verbindungen begeben.

Geschichtlich betrachtet, ermöglichte das Satellitenfernsehen Migrant*innen in den 1990er Jahren, mit ihren Herkunftsländern verbunden zu bleiben. Dank der fortschreitenden Transnationalisierung der Technologie und Globalisierung der Medien bietet die heutige Vielfalt an Social-Media-Plattformen Migrant*innen nicht nur die Möglichkeit, Medien zu konsumieren, sondern auch selbst zu erstellen. Sie nutzen diese soziotechnologischen Werkzeuge für Vernetzung und Selbstrepräsentation, bleiben in den öffentlichen Diskursen ihrer Herkunftsländer engagiert und bringen Heimatdiskurse in ihre Gastländer ein.

Transnationale Subjektivität, das Gefühl des Nicht-Dazugehörens und Handlungsfähigkeit: Werden Migrant*innen zurückgelassen oder schreiten sie voran?

Eine Möglichkeit, die Bedeutung sozialer Medien für Migrant*innen zu untersuchen, besteht darin, die Funktionen zu betrachten, die sie für sie erfüllen – etwa die Ermöglichung von Vernetzung und Engagement. Eine andere Herangehensweise wäre zu analysieren, wie Mediennutzung die soziale Integration fördern oder behindern kann, indem man beispielsweise die Mediennutzung von Migrant*innen entlang eines klassischen linearen Spektrums von Nähe oder Entfremdung gegenüber den Medien des Gastlandes bewertet. Doch beide Ansätze erfassen nicht die Fluidität und Hybridität der transnationalen und lokalen Social-Media-Nutzung vieler Migrant*innen, weshalb ein dritter Ansatz erforderlich ist.

Dieser dritte Ansatz erkennt die „transnationale Subjektivität“ vieler arabischer Migrant*innen an, die versuchen, sich innerhalb und zwischen ihren Heimat- und Gastländern zu orientieren und zu positionieren. Transnationale Subjektivität bedeutet, einen internationalen Horizont zu haben, mehrere Sprachen zu sprechen und Lebenserfahrungen zu besitzen, die über die der Mehrheitsgesellschaft im Gastland hinausgehen und auch subtile oder offene Formen von Rassismus einschließen können. Der amerikanisch-palästinensische Wissenschaftler Edward Said brachte dies mit seiner Metapher des „am falschen Ort“ („Out of Place“) auf den Punkt: ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit, geprägt von geografischer und emotionaler Entfremdung. „Am falschen Ort“ zeigt auf, wie Migrant*innen sich auf struktureller, kultureller und rechtlicher Ebene ausgeschlossen fühlen, was ihre Fähigkeit einschränkt, zur hegemonialen öffentlichen Sphäre beizutragen oder sie mitzugestalten. Im deutschen Kontext verdeutlicht die öffentliche Debatte über die Leitkultur, wie die Unterschiede zwischen Araber*innen und Muslim*innen und der deutschen Identität und Lebensweise betont werden. Dieser Diskurs schafft Spannungen zwischen der dominanten und vermeintlich statischen nationalen Identität und den fluiden, hybriden, transnationalen und intersektionalen Identitäten der Migrant*innen.

2024 wurde in Frankfurt erstmals eine städtische Ramadan-Festbeleuchtung in der Innenstadt angebracht. Viele Menschen dokumentierten dies mit ihren Smartphones. (© picture-alliance/AP, Michael Probst)

Die Nutzung sozialer Medien durch arabische Migrant*innen in Deutschland

Kulturelle Hybridität und strukturelle Stagnation

Angesichts solch nuancierter transnationaler Subjektivitäten ist es wenig überraschend, dass viele in der hochmobilen, hybriden und dynamischen arabischen Diasporagemeinschaft feststellen, dass die national orientierten deutschen Medien ihre Bedürfnisse nicht erfüllen. Es besteht ein struktureller Rückstand in Bezug auf Repräsentation, Nachrichtenagenda und Framing, der dazu führt, dass sich arabische Migrant*innen sozial ausgegrenzt fühlen. Dieser strukturelle Rückstand ist nicht nur spezifisch für arabische Gemeinschaften; die digitale Transformation hat die traditionellen Medien, ihre Relevanz und das Vertrauen der Öffentlichkeit in sie über das gesamte demografische Spektrum hinweg gestört, insbesondere bei Jugendlichen ohne Migrationserfahrung.

Viele Araber*innen äußern Unzufriedenheit und Verärgerung über die dekontextualisierte Berichterstattung zu arabischen Angelegenheiten und Minderheiten in Deutschland. Als besonders problematisch wird das Framing des israelisch-palästinensischen Konflikts wahrgenommen; die deutschen Mainstream-Medien würden – insbesondere während des Krieges im Gazastreifen – das Leid der Palästinenser*innen nicht angemessen darstellen. Weitere Beispiele für eine dekontextualisierte Medienberichterstattung in den Mainstream-Medien umfassen das Herunterspielen von Hassverbrechen und rechter Gewalt gegen Araber*innen in Deutschland, die Reproduktion stereotyper Bilder im Zusammenhang mit Kriminalität und Terrorismus und das Vernachlässigen der europäischen Verantwortung für Konflikte im Nahen Osten sowie deren koloniale Ursprünge. Kulturell und religiös bedeutende Ereignisse wie der heilige Monat Ramadan bleiben in den Medien unterrepräsentiert, während wiederkehrende Debatten über das muslimische Leben in Europa – wie das Verbot von Kopftüchern – weiterhin ausschließende Grenzen zwischen dem deutschen Mainstream und seinen muslimischen Minderheiten ziehen.

Studien zeigen, dass arabische Migrant*innen auf soziale Medien zurückgreifen, wenn und weil sie in der hegemonialen Öffentlichkeit keine relevanten Diskurse und Inhalte finden, um ihre eigene Realität zu verstehen und mit Online-Peers über Themen zu interagieren, die für ihr Leben in Deutschland relevant sind. Während viele arabische Migrant*innen deutsche öffentliche Medien für Informationen oder gesellschaftliche Orientierung nutzen, führt die Sprachbarriere dazu, dass insbesondere Neuankömmlinge darauf angewiesen sind, dass diese wichtigen Inhalte von anderen Migrant*innen in ihrer Sprache repostet werden. Solche Beiträge und Gruppen waren während der Pandemie von entscheidender Bedeutung, als alle Bewohner*innen Deutschlands aktuelle und genaue Informationen über Lockdowns, Tests, Impfprogramme usw. benötigten.

Soziale Medienpraktiken: Gegenöffentlichkeiten der Selbstermächtigung oder ghettoisierter Enklaven?

Soziale Medien helfen der arabischen Diaspora dabei, die ausgrenzenden Mediendiskurse in einer hegemonialen Öffentlichkeit zu überwinden und Medieninhalte zu produzieren und zu nutzen, die ihren Werten und Realitäten entsprechen. Arabische Inhalte auf sozialen Medien, die sich auf Deutschland oder das Leben hier beziehen, haben in den letzten zehn Jahren exponentiell zugenommen – mit Facebook-Seiten, Instagram-Accounts und YouTube-Kanälen, die sich einer Vielzahl von Themen widmen, die in den deutschen Mainstream-Medien unsichtbar sind.

Im Gegensatz zu den oft berichteten arabischen Hassreden, die in den deutschsprachigen Medien zirkulieren, behandeln viele arabische Seiten in sozialen Medien alltägliche Themen und praktische Informationen wie Ankunftsverfahren, Unterkunftsmöglichkeiten, Deutschkurse, Visa-Fragen, Aufenthalts- oder Einbürgerungsprozesse und rechtliche Beratung. Sie decken auch Lifestyle und Alltagsleben ab, einschließlich Kultur, Mode, Essen und Standorte von arabischen Geschäften oder Moscheen. Kommerzielle und unternehmerische Accounts zeigen Werbung für importierte Waren, hausgemachtes arabisches Essen und Modeartikel. Durch diesen interaktiven Austausch von Erfahrungen entstehen alternative Räume für Unterstützung und Empowerment.

Satire und Comedy über das Leben in Deutschland nehmen ebenfalls rasant zu, besonders durch Influencer*innen, die kurze Videos nutzen. Typische Themen sind Begegnungen mit den deutschen Behörden und dem Bildungssystem, das Spiel mit interkulturellen Missverständnissen, Witze über Stereotype wie die deutsche Strenge oder die schwierige Sprache, oder der Kontrast unterschiedlicher kultureller Werte in Bezug auf Großzügigkeit und Esskultur.

Die Beteiligung in sozialen Medien drücken Handlungsfähigkeit, kulturelle Teilhabe und Mitgestaltung von aus. Es geht hier also um eine Form der Teilhabe, die den Bedürfnissen einer marginalisierten Gemeinschaft außerhalb der hegemonialen Öffentlichkeit gerecht wird.

Die Nutzung von sozialen Medien durch arabische Migrant*innen ist nicht homogen und spiegelt keine einheitliche Gemeinschaft wider. Die Diaspora weist Intersektionalitäten wie die Kategorien sozio-ökonomische Schicht, Bildung, Geschlecht usw. auf. Ihre Social-Media-Nutzung ist dieser Unterschiedlichkeit folgend ebenso vielfältig – von erfolgreichen Unternehmer*innen, die nach Antworten auf komplexe Fragen zur Einkommenssteuer suchen, bis hin zu Asylsuchenden, die Informationen zu Mobilitäts- und Freizügigkeitsregelungen benötigen. Solche Posts reflektieren die unterschiedlichen Grade der Prekarität in den Lebensbedingungen von Migrant*innen. Das Zerrbild des in den deutschen Medien häufig stilisierten „Mustermigranten“ wird durch diesen Abgleich mit der Realität konterkariert, wodurch Raum für eine Vielfalt eigenständiger Lebensentwürfe entsteht.

Anders als in den deutschen Medien fehlen auf social Media die eindimensionalen Erfolgsgeschichten über arabische Muster-Migrant*innen, wodurch die Erzählung über den traditionellen Mustermigranten durchbrochen wird.

Viele arabischsprachige Social-Media-Accounts sind regional um bestimmte deutsche Städte oder Bundesländer verankert, wie zum Beispiel "Araber*innen in Berlin" oder "Araber*innen in Nordrhein-Westfalen", und konzentrieren sich auf lokale Nachrichten und Veranstaltungen. Auch wenn sie oft auf bestimmte nationale Gruppen abzielen (zum Beispiel Migrant*innen syrischer oder irakischer Herkunft), ziehen diese Gruppen Nutzerinnen aus anderen arabischen Nationalitäten aufgrund der ähnlichen Themen und Sprache an.

Während all diese gemeinschaftsorientierten Inhalte eine schnelle und organische Entwicklung als Reaktion auf die Bedürfnisse der Araberinnen darstellen, sind sie nicht immer faktisch überprüft, angemessen moderiert oder auf genaue Informationen gestützt. Social-Media-Beiträge zeigen ambivalente und widersprüchliche Bilder vom Leben in Deutschland – von der Romantisierung Europas bis hin zur Selbstdarstellung als Opfer. Es gibt aber professionelle migrantische Journalist*innen, die diese Probleme angehen, indem sie professionell verwaltete und faktengeprüfte Medieninitiativen erstellen – wie Amal, Berlin!, Amal, Hamburg! und Amal, Frankfurt! – um verlässliche Informationen auf Arabisch anzubieten.

Die von diesen Gruppen und Seiten behandelten Themen haben sich im Laufe der Zeit verändert und zeigen eine zunehmende Präsenz von Migrant*innen in Deutschland, die in unterschiedlichem Maße Orientierung, Anpassung und Integration aufweisen. Da sich die Bedürfnisse und Lebenswege je nach rechtlichem Aufenthaltsstatus der Migrant*innen unterscheiden (zum Beispiel zwischen Personen mit Arbeitserlaubnis und Geflüchteten), zeigen die online Beiträge einen intergenerationellen und Erfahrungsaustausch zwischen Neuankömmlingen und bereits ansässigen Migrant*innen.

Darüber hinaus existieren auch englische und deutsche Social-Media-Beiträge, die sich an arabische Migrant*innen richten, doch sie sind weniger verbreitet und zeigen andere Diskursarten – oft globalisierter und politisierter, da sie offen für eine breitere, nicht-arabische Migrant*innengruppe sind. Forschungen zeigen, dass Migrant*innen ein Recht und Bedürfnis ausdrücken, in ihrer bevorzugten Sprache zu kommunizieren, was ihnen ein Gefühl von Komfort und Verstandenwerden gibt und es ihnen ermöglicht, sich mit ihren Peers auszutauschen. Daher ist die Verwendung der Muttersprache ein Ausdruck kultureller Teilhabe jenseits des deutschsprachigen Mainstreams. Es wäre daher ein Fehler die Sprachkompetenz mit Integration bzw. Integrationsbereitschaft gleichsetzen: „Ist Meinungsfreiheit nicht ein Menschenrecht? Bedeutet die Nutzung meiner Muttersprache Arabisch mit Freundinnen in der täglichen Kommunikation mangelnde Integration oder dass ich weniger wert bin?“, fragte eine kürzlich befragter Forschungsteilnehmerin. Das Sprechen in ihrer Muttersprache könnte als Versuch von Migrant*innen interpretiert werden, in einem kulturell sicheren Raum zu partizipieren und Gewissheit über Bedeutungen zu haben, wenn sie sich an alternativen Diskursen beteiligen – selbst in einer nicht-deutschen Sprache.

Ausblick: Wir sind hier!

Letztendlich sollten wir anmerken, dass die hier beschriebene Nutzung sozialer Medien durch Araber*innen nicht bedeutet, dass sie die deutsche Gesellschaft ablehnen oder sich von ihr abschotten. Arabische Migrant*innen schaffen sich neue Räume in der Social-Media-Landschaft, um sich auszudrücken und auszutauschen, genauso wie viele andere Minderheiten. Zweitens gibt es nicht die eine einheitliche arabische Gemeinschaft mit homogenen Kommunikationspraktiken. So wie es keine einheitliche deutsche Gesellschaft und Kultur gibt, sind arabische Migrant*innen entlang nationaler, politischer, religiöser, sozioökonomischer und sprachlicher Linien fragmentiert, die sich auf unterschiedliche Weise überschneiden und verbinden.

Es ist nicht einfach über arabische Migrant*innen zu schreiben, in Zeiten, in denen divergierenden Ansichten über wahrgenommene Ungerechtigkeiten in globalen Konflikten die Debatte beherrschen. Das Ringen um empathische Zugänge wird dabei zu schnell über eine rassifizierte Darstellung der arabischen Minderheit und ihre fehlende Integration in die deutsche Gesellschaft beendet. Arabische Social-Media-Accounts präsentieren eine andere Realität von Marginalisierung und Unterdrückung, während aktuelle öffentliche Debatten Araber*innen und Muslim*innen ständig ausschließen und stereotype Narrative von Araber*innen als kriminell und problematisch vorantreiben. Dies wirft Fragen auf, wie diasporische Gemeinschaften ihre Anliegen artikulieren, zu Aktivist*innen werden und politische sowie kulturelle Bürgerschaft praktizieren können, wenn kein gemeinsames kollektives Gedächtnis existiert.

Unangenehme Gespräche in dynamischen und unsicheren Zeiten sind nicht wegzudenken, um eine soziale und politische Transformation für ein lebendiges und kein stagnierendes Europa zu ermöglichen. Wie Charlotte Wiedemann in ihrem Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen“ können wir nur durch die gegenseitige Anerkennung globalen Leidens neue Perspektiven einbeziehen. Sie spricht von der selektiven „Landschaft des kollektiven globalen Gedächtnisses“, in der Hierarchien noch existieren – nicht nur in der Anerkennung vergangenen Leidens, sondern auch in der Anerkennung des Rechts jeder Person, in der Gegenwart nicht mehr leiden zu müssen. Ein Monopol eines moralischen Anspruches auf nur eine Realität blendet die legitime die Vielfalt an Perspektiven aus.

Diskurse über Vielfalt sollten die Machtungleichgewichte in europäischen Gesellschaften nicht verschleiern. Radikale Vielfalt benötigt eine gerechte Antwort und inklusive Politik, die die vielfältigen Perspektiven und kulturellen Hintergründe akzeptiert, die Migration mit sich bringt. Wie die Journalistinnen von Amal, Berlin! sagen: Arabische Migrant*innen bringen neue Stimmen, wollen beitragen und gehört werden. „Wir sind hier!“.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Hanan Badr studierte Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Journalistik und internationale Kommunikation an der Universität Kairo. Anschließend promovierte sie mit einem DAAD-Stipendium an der Universität Erfurt am Lehrstuhl Internationale Kommunikation und vergleichende Mediensysteme und ist seit 2022 Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Paris Lodron Universität Salzburg.