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Soziale (Un-)Gleichheit auf Social Media

Prof. Dr. Tanja Thomas Dr. Giuliana Sorce

/ 15 Minuten zu lesen

„Her mit dem schönen Leben“ - Social Media Aktivismus zu Klasse und Klassismus als neue Ausdrucksform für solidarischen und intersektionalen Aktivismus.

Illustration: www.leitwerk.com

Über Hashtags wie #classmatters_immernoch auf Kanälen wie @klassenfragen oder @klasse.für.sich posten Einzelne und Kollektive auf Instagram. Diese Nutzer*innen fordern eine Reflexion von Klassenprivilegien, laden etwa ein zu einer öffentlichen Debatte über die Kriminalisierung von Armut, diskutieren über Klassenkämpfe und Solidarität oder verweisen auf Podcastfolgen mit dem Titel „Her mit dem schönen Leben“. Auf diese Weise platzieren sie Gesellschaftskritiken mit Bezug auf Klassismus auf Instagram und veranschaulichen das Potential digitaler Medien, Themen zu mehr Öffentlichkeit zu verhelfen. Diese digitalen Angebote wollen zum Nachdenken über die eigenen Privilegien anregen und zeitgleich aufzeigen, wie Klasse den Zugang zu Gütern, Bildung, Dienstleistungen oder Gleichberechtigung beeinflusst. Durch Social Media können neue Räume für die Artikulation von sozialer Ungleichheit geöffnet, neue Adressat*innen erschlossen und technische Affordanzen genutzt werden, um aktivistische Inhalte neu aufzubereiten.

Das Konzept Klassismus

Klassismus wird verstanden als eine gesellschaftliche Unterdrückungsform: Als Klassismus werden Diskriminierungen aufgrund einer Zugehörigkeit zu einer Klasse bezeichnet, oder auch aufgrund von Zuschreibungen, die eine Person wegen eines (teils nur vermuteten) sozialen Status oder sozialer Herkunft in eine Klasse einordnen. Kritik am Klassismus setzt an den Folgen von Kapitalismus und Leistungsideologie und damit verbundenen Ungerechtigkeiten an. Sie wendet sich gegen ein System der Zuschreibung von Werten und Fähigkeiten, das mit einer Praxis der Inwertsetzung von Personen einer Klasse einhergeht – und tritt ein gegen Stigmatisierungen, Stereotypen und Vorurteile.

Wie politische Auseinandersetzungen mit sozialer Ungleichheit in einer digitalisierten Welt aussehen können, umfasst auch die Frage danach, welche Handlungsfähigkeit die Subjekte im alltäglichen Gebrauch digitaler Medien entfalten können. Für den Umgang mit Social Media spielen Klassenposition und Klassenbewusstsein – wie wir in diesem Text zeigen werden – eine zentrale Rolle. Forschende diskutieren seit Jahrzehnten, auf welche Weisen die Einzelnen in digitalen Medienumgebungen sich selbst und ihre Erfahrungen aushandeln, inwiefern die Verständigung über gesellschaftliche Normen und soziale Ungleichheit unter neue Bedingungen gestellt ist und wie Nutzer*innen durch einen kompetenten Umgang mit Social Media neue Handlungsräume schaffen können. Hierbei geht es nicht nur darum, soziale Ungleichheiten in Frage zu stellen, sondern auch um das Ziel, die Gesellschaft gerechter zu gestalten.

Dieser Beitrag führt ein in die wissenschaftliche Einschätzung von Digitalisierungsprozessen und Diagnosen über den Wandel unserer Gesellschaft durch das Internet und Social Media. Dies beinhaltet die Vorstellung über Subjekte, also einzelne Menschen, die nun online handeln und ihre Lebenswelten gestalten. Der zweite Abschnitt definiert den Begriff ‚Social Media‘ und beschreibt, wie sich Nutzer*innen selbst digital entwerfen und sich zeitgleich in ihren Interaktionen und Auftritten anpassen müssen an soziale, ökonomische und technische Ordnungen, die auf digitalen Plattformen existieren. Im dritten Abschnitt werden die Möglichkeiten vorgestellt, soziale Ungleichheit auf Social Media anzusprechen und soziale Ordnungen infrage zu stellen. Wir stellen digitale Initiativen auf Instagram vor, die Klassismus ansprechen, ihre Perspektiven teilen und anregen zu mehr Gerechtigkeit und Solidarität. Der Beitrag endet mit einigen Hinweisen zu Herausforderungen und Potenzialen der Nutzung von Social Media für eine gerechte(re) Gesellschaft.

Gesellschaftsdiagnosen: Digitale Gesellschaft, Subjektivität und Sozialität

Die Bandbreite der Diagnosen über die digitalisierte Gesellschaft ist groß und widersprüchlich. Mal liegt der Fokus auf Veränderungen der Gesellschaft als Ganzes oder die Diskussion richtet sich auf ökonomische Prozesse und gar eine neue Phase des Kapitalismus. Wenn digitales Handeln von Gruppen betrachtet wird, wird einerseits eine neue Vielstimmigkeit im Netz und die Bildung von Kollektiven durch Vernetzung konstatiert; andererseits Hasskommunikation und Polarisierung beschrieben. Auch Auswirkungen der Digitalisierung auf Individuen – etwa mit Blick auf Einschränkungen oder Erweiterungen der Kompetenzen in verschiedenen Lebensphasen – wird diskutiert. Diese Diagnosen können wir auch danach einordnen, ob technischer Wandel optimistisch oder pessimistisch eingeschätzt wird. Die unterschiedlichen Begründungen für die Positionen können wir nicht ausarbeiten; doch nutzen wir die vereinfachende Gegenüberstellung, um zu fragen: Welche Rolle schreiben sie den einzelnen Subjekten in digitalen Medienumgebungen zu – sind sie der Digitalisierung ausgeliefert oder können sie diese gestalten?

Frühe theoretische Ansätze zur Popularisierung des Internets sahen digitale Technologie als offen, demokratisch und unreguliert, als „globales Dorf”, in dem neue partizipatorische Formen der Öffentlichkeit praktiziert werden können. Einige zentrale Vertreter des Cyberoptimismus fokussierten eine chancenorientierte, gesellschaftliche Transformation; man hoffte, Technologien könnten Gesellschaften befrieden, Zivilgesellschaft in Entscheidungsprozesse stärker beteiligen und vernetzen. Es bestand die Hoffnung, dass Technologien als Werkzeuge zur Überwindung von Klassen-, Geschlechter- und rassistischen Unterdrückungen dienen können. Manuel Castells entwarf das Bild von der „Netzwerkgesellschaft“, in der alle miteinander vernetzt sein könnten. Autor*innen begrüßten Veränderungen zeitgenössischer Gesellschaften durch Digitalisierung; im Buch Here Comes Everybody stand beispielsweise die Möglichkeiten der Teilhabe und Artikulation von politischen Forderungen durch die Nutzung von Social Media im Mittelpunkt – insbesondere, weil sich Einzelpersonen zu ‚digitalen Schwärmen‘ zusammenschließen könnten.

Der Begriff Klasse

Der Klassenbegriff wurde im 19. Jahrhundert vornehmlich von Karl Marx entlang des Kriteriums Verfügbarkeit über die Produktionsmittel (herrschende Klasse) versus Notwendigkeit zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft zur Existenzsicherung (ausgebeutete Klasse) geprägt. Aktuell wird Klasse einerseits zur Beschreibung einer sozialen Position verwendet, die durch den Zugang zu ökonomischen Ressourcen und politischer Macht bestimmt wird. Andererseits wird Klasse auch auf klassenspezifische Bewusstseinsformen wie Geschmack mit Blick etwa auf Essgewohnheiten, Wohnungseinrichtung, Kleidungsstil oder Musikvorlieben bezogen, die sich durch die Klassenzugehörigkeit und damit verbundene Lebensrealitäten ausprägen.

Cyberskeptische und -pessimistische Ansätze rücken die Gefahren bzw. ‚Schattenseiten‘ digitaler Technologien ins Zentrum. Auf der Makro-Ebene entwickelten einige Autor*innen eine dystopische Vision, in der alle Formen des kulturellen Lebens der Technik unterworfen sind. Feministische Forschung lieferte mit der Figur des „Cyborgs“ den Versuch, gesellschaftlichen Wandel mit technologischem Wandel zusammen zu denken und die Auflösung der Grenzen zwischen Mensch und Maschine zu analysieren – ohne diese Entwicklungen pauschal zu dämonisieren. Wie sich etwa Formen der Geselligkeit und Praktiken des Umgangs mit sich selbst und anderen im Gebrauch von ‚smarten‘ Technologien verändern, betrachtet das bekannte Buch Alone together. Im Verlust der Fähigkeit des Alleinseins angesichts permanenter Kommunikation schwindet aus einer solchen Sicht die Möglichkeit, zu sich selbst und anderen in Beziehung zu treten. Für die Einzelnen entstehen durch diese Durchdringung digitaler Technologien unserer Lebenswelten eine Reihe von Herausforderungen, beispielsweise können Ungleichheitsverhältnisse in und durch digitale Kommunikation reproduziert oder verstärkt werden. Auch können neue Angriffsflächen und Verletzbarkeiten entstehen, etwa durch unregulierte oder anonymisierte Hassrede.

Neuere Forschung beschreibt vor allem die zentrale Rolle von Plattformen im Alltag. Ganze Lebensbereiche werden durch die Nutzung app-basierter Technologien strukturiert. Immer mehr Menschen suchen Rezepte für ihr Abendessen in einer App, erstellen Einkaufslisten in einer anderen App, posten Bilder vom Essen mit Freund*innen in einer weiteren App. Währenddessen werden stets Daten gesammelt und verarbeitet. Für die Organisation einer Gesellschaft bedeutet dies, dass sich ihre grundlegende Form wandelt: Es entstehen sogenannte „datafizierte Gesellschaften“, in denen Daten als wichtigste Währung verstanden werden. Social Media und digitale Technologien ermöglichen neue Formen der Überwachung, die direkte soziale Konsequenzen mit sich bringen.

Mit den Diagnosen erkennbar verknüpft sind Vorstellungen zur Handlungsfähigkeit von Menschen in digitalisierten Lebenswelten – von der passiveren Konsumentin von digitalen Medieninhalten zur aktiveren Prosumerin, die selbst Inhalte online stellt, bis hin zum Entwurf von Nutzer*innen als ‚Data Doubles‘ . Manche Autor*innen beschreiben nun User*innen als reine Datenpunkte, die nur noch durch ihre digitalen Handlungen klassifiziert werden. Diese Beschreibungen gipfeln in der Zuspitzung, dass das menschliche Subjekt keine herausgehobene Position mehr beanspruchen kann. Es existiert nur noch eingefügt in eine technische Umwelt. Und doch sehen andere Autor*innen zeitgenössische Social Media auch als neue Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe. Beispielsweise könnten Individuen ihre politischen Positionen artikulieren, Forderungen schnell verbreiten und sich mit anderen austauschen oder vernetzen. Gezeigt haben dies virale Hashtag-Kampagnen wie #MeToo oder app-basierte Nachbarschaftshilfen während der Corona-Pandemie.

In der Zusammenschau lässt sich erkennen, dass sich die Einschätzung von gesellschaftlichen Herausforderungen und Chancen von Digitalisierung als ambivalent beschreiben lässt – dies betrifft eben auch die Herausforderungen an die Einzelnen.

Subjektivierung und Social Media: Zwischen Normierung und Handlungsfähigkeit

Die Nutzung von Social Media ist für die Mehrheit der Menschen mittlerweile seit der ersten Lebensphase alltäglich. Social Media kann man verstehen „als Sammelbegriff für Angebote auf Grundlage digital vernetzter Technologien, die es Menschen ermöglichen, Informationen aller Art zugänglich zu machen und davon ausgehend soziale Beziehungen zu knüpfen und/oder zu pflegen“. Social Media umfassen verschiedene Gattungen: Plattformen, Personal-Publishing-Dienste, Instant Messaging/Chat und Wikis, wobei Instagram oder TikTok den (sozialen) Netzwerkplattformen zugeordnet sind. Auch digitale Nachrichtenportale werden immer mehr zu sozialen Medien, etwa durch Kommentierungsfunktionen oder Cross-Media-Marketing.

Social Media werden also schon lange nicht mehr nur als ‚soziale Netzwerke‘ aufgefasst, die es individuellen Nutzer*innen erlauben, Inhalte einzustellen und Verbindungen zu anderen Nutzer*innen herzustellen. Als Plattformen sind es programmierbare Architekturen, die Interaktionen zwischen Nutzer*innen strukturieren – hierzu gehören Praktiken wie Kommentieren, Suchen, Kaufen, Musik hören, Videos ansehen, aber auch die Integration von Dienstleistungen wie die Vermittlung von Partnerschaften (z. B. Tinder) oder etwa Personenbeförderung mit app-basierten Taxidiensten wie Uber oder Lyft. Subjekte werden darin permanent zur Selbstvermessung aktiviert, verdatet, hierarchisiert, überwacht.

In digitalen Medienumgebungen machen sich Einzelne sichtbar – man denke an die beliebten Selfies und den Like-Button. Diese Sichtbarkeit ist verknüpft mit der Verleihung und dem Entzug von Aufmerksamkeit, Anerkennung oder Zugehörigkeit, bezogen auch auf Körper- bzw. Fähigkeitsnormen. Tiefgreifende Orientierungen über unsere Lebenswelten werden digital verhandelt und sind dabei freilich nicht losgelöst von bestehenden Hierarchien, etwa entlang von Geschlecht, Klasse oder (zugewiesenem) Migrationsstatus. Subjektivierung in digitalen Medien bedeutet, dass Nutzer*innen ihr Verständnis über sich selbst und über ihre digitalen Umgebungen im Zuge ihrer eigenen digitalen Praktiken erlangen. Dabei können sie Normen und Ungleichheitsverhältnisse jedoch auch verhandeln und kritisieren – optimistisch betrachtet, heißt das auch, dass Menschen gesellschaftlichen Konventionen auch widersprechen oder ihnen schlicht keine Beachtung schenken können. Social Media bieten individuellen Nutzer*innen zudem die Möglichkeit, auf Netzwerke zuzugreifen, sich zu so genannten Netzwerkpublika zusammen zu schließen und Wissen ‚von unten‘ in digitale Netzwerke zurücktragen. So ermöglichen sie die Gestaltung kollektiven Handelns und Formen sozialer Kooperation und individuelle Nutzer*innen signalisieren durch diese gemeinschaftlichen Medienpraktiken eine ,Community‘.

In der Praxis lässt sich dies gut beobachten: Täglich werden Einsprüche in öffentlichen Diskursen geteilt, Gehör für Ausgrenzungserfahrungen oder auch politische Transformationen eingefordert. Wir wollen unterstreichen, dass Nutzende durchaus handlungsmächtig sind; zugleich sollte der Rahmen der sozialen Medien, in dem sich diese Nutzenden bewegen, nicht aus dem Blick geraten. Welche Möglichkeiten bereits erprobt werden, Klassismuskritik in digitalen Öffentlichkeiten zu artikulieren und politische Transformationen anzuregen, zeigen wir exemplarisch im folgenden Abschnitt.

Ein Graffiti: "Her mit dem schönen Leben" ist am 12.07.2017 an die Fassade des autonomen Zentrums KTS in Freiburg geschrieben. (© picture-alliance/dpa, Winfried Rothermel)

Artikulationen Sozialer (Un)Gleichheit auf Social Media

Die ARD/ZDF-Onlinestudie ist eine der Studien, die jährlich u.a. die Nutzung von Social Media erhebt und die im Jahr 2023 aufzeigt, dass in der Gesamtbevölkerung in Deutschland Instagram mit 35 Prozent täglicher oder wöchentlicher Nutzung Facebook (32%) von der Spitze abgelöst hat; mit deutlichem Abstand werden die nächsten Plätze in der Rangfolge von TikTok (15%), Snapchat (13%) und Pinterest (11%) belegt. Altersunterschiede in der Nutzung(sdauer) werden in dieser und ähnlichen Erhebungen regelmäßig ausgewiesen; Ungleichheiten wurden und werden in diesen Studien vorrangig mit Blick auf den Zugang zu Medien/zum Internet berücksichtigt (eine Ausnahme bildet eine Studie mit Daten von 2013). Mit dem Zugang zu Informationen und Dienstleistungen entlang Klassenpositionen beschäftigen sich bislang wenige Studien; immerhin plädieren unterdessen Forscher*innen der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft, klassentheoretische Ansätze wieder aufzugreifen. Bislang lässt sich erkennen, dass etwa journalistische Berichterstattung meist ereignisbezogen über Armut berichtet und Stereotype wiederholt werden. Wenn das digitale Suchverhalten verschiedener Bevölkerungsgruppen analysiert wird, zeigt sich Klasse – aufgeschlüsselt entlang der Kategorien Bildung, Einkommen und Wohnort – als besonders relevant und wirkt sich aus auf den Zugriff von Onlinegütern- und Dienstleistungen. Nutzer*innen prekarisierter Gruppen (z. B. Erwerbslose) sind deutlich weniger auf Social Media aktiv und artikulieren nur in 11% ihrer Posts ihre eigenen Positionen. In Bezug auf den Arbeitsmarkt und Zugang zu Chancengleichheit zeigt sich, dass Klasse die Fähigkeiten beeinflusst, Berufsportale nach Stellen zu durchforsten und auch Social Media zu nutzen, um sich selbst beruflich gut zu positionieren. Mit Blick auf digitale Unterhaltungsangebote wird deutlich, wie etwa mediale Vorlieben, beispielsweise bestimmte Musikformen, Interpreten oder Genres so kuratiert werden, dass sie Zuhörer*innen vermeintlich ‚klassenspezifisch‘ adressieren: So entfalten sich Vorurteile über ‚Hochkultur‘ (Klassische Musik von und für die Oberschicht) und ‚guten Geschmack‘ auch digital, z.B. beim Streamen von Musik auf App-basierten Plattformen wie Spotify.

Für die Frage, wie Social Media genutzt werden kann, um Klassismus zu adressieren und zu kritisieren, liefern internationale Wissenschaftler*innen Impulse: Eine Studie aus Indonesien zeigt etwa, wie sich Hijab-tragende Frauen aus der indonesischen Mittelschicht auf Instagram zeigen, über gesellschaftlich kontroverse Themen sprechen und mittels ihrer digitalen Praktiken ihre Klassenzugehörigkeiten neu aushandeln. In Pakistan werden Frauen aus der Arbeiterklasse, die sich auf TikTok zeigen, zwar mit einer ‚low-class‘ Weiblichkeit assoziiert und doch sind sie durch ihre Social Media Videos zu unerwarteten Protagonistinnen der frühen TikTok-Kulturen geworden.

Umso bedeutsamer ist das Agieren Einzelner auf Social Media, die auf Klassenverhältnisse und deren Folgen aufmerksam machen. Mit dem Begriff ‚Klasse‘ ist eben nicht nur eine Position in einer gesellschaftlichen Hierarchie beschrieben. Kritisch wird eine Verwendung des Klassenbegriffs, indem er „die Grundprinzipien und Wirkungsmechanismen im Kapitalismus aufgreift und klassenspezifische Bewusstseinsformen benennt, die sich durch die Klassenzugehörigkeit und damit verbundene Lebensrealitäten ausprägen“. Auch von den Social Media Nutzer*innen, deren Praktiken wir zu Beginn des Beitrags aufgegriffen haben, werden Klassenpositionen teilweise eingenommen, zugleich kritisieren sie die Formen der Inwertsetzung entlang von Klasse. Wie diese Nutzer*innen verwenden wir den Begriff Klassismus , auch wenn dieser wissenschaftlich umstritten ist. Klassismuskritik wendet sich eben gegen ein System der Zuschreibung von Werten und Fähigkeiten, das mit einer Praxis der Inwertsetzung, Herabsetzung, Diskriminierung und Unterdrückung einhergeht. Dabei werden die Zuschreibungen aus dem (teils nur vermuteten) sozialen Status von Menschen oder aus deren sozialer Herkunft abgeleitet.

Darüber, inwieweit Social-Media-Praktiken ebenso an ‚soziale Klasse‘ gebunden sind wie andere Praktiken, wissen wir bis heute zu wenig. Klasse beeinflusst den grundlegenden Zugang zu medialen Infrastrukturen. Dies wird unter dem Fachbegriff der ,digitalen Spaltung’ verhandelt (first level digital divide). Grundsätzlich jedoch könnten Journalist*innen die öffentliche Auseinandersetzung darüber anregen und Bildungspolitiker*innen die grundlegende Tatsache aufgreifen, dass Klasse schon den Zugang zu medialen Infrastrukturen reguliert. Damit wird digitale Ungleichheit reproduziert, da die Klassenposition auch die Chancen auf Teilhabe im Sinne einer Artikulation und Partizipation im und durch das Internet beeinflusst (second level digital divide oder ‚voice divide‘). Wird der konkrete individuelle Nutzen des Internets untersucht, lässt sich erkennen, wie auf Social Media Ungleichheiten verfestigt werden (third level digital divide): Insbesondere für Kinder und Jugendliche in Armutslagen wird „der Mangel an diskursiver Teilhabe [...] zu einer bedeutenden Hürde“, denn fehlende oder ungehörte Artikulation kann zu einem Ausschlussmechanismus werden, wenn Anerkennung wesentlich durch Teilhabe an digitalen Netzwerken vermittelt wird. Diese Erkenntnis ist ein wichtiger Impuls für das Fachpersonal unseres deutschen Bildungssystems, vom Schulwesen bis zur fachlichen Weiterbildung und für Angebote des sogenannten ,Lifelong Learning‘. Politische Bildungsarbeit sollte Angebote, die Digitalisierung umfassen, auch entlang sozialer Positionen behandeln. Damit bieten sie digitale Räume zum Austausch etwa über Erfahrungen mit systemischem Klassismus in der Kulturbranche und machen mit (digitalen) Initiativen aufmerksam auf Diskriminierungsdimensionen wie Armut, soziale Mobilität oder Arbeitsbedingungen.

Sichtbarkeit von Klassismus auf Social Media

  • Anregungen finden sich unter dem Hashtag #classmatters auf Instagram; hier finden sich über 3000 verlinkte Beiträge:

  • So werden beispielsweise Bilder geteilt, die Szenen aus der bekannten US-amerikanischen Serie ‚California High School‘ (1989-1992) meme-artig mit Aufrufen gegen Klassismus in den Handlungsabläufen der Serie versehen. Somit wird anschaulich, dass Klassismus eine wichtige Unterdrückungsform darstellt, die in analogen und digitalen Gesellschaftsordnungen zum Tragen kommt. Wie Unterdrückungsformen affektiv und ästhetisch artikuliert werden, und wie Einzelne oder Kollektive adressiert werden, kann in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen ausgehend von solchen Beispielen diskutiert werden.

  • Die Bundeszentrale sammelt auch auf ihrem Instagram-Account @werkstatt.bpb.de Materialien und Tipps zum Thema ‚Klassismus im Klassenzimmer‘ für schulische und außerschulische Lehrkräfte.

  • Accounts wie @klassismus_stinkt liefern mit Lesetipps zum Thema Klassismus und Bildern von Büchern wie „Arbeitertöchter beißen sich durch“ Impulse. Digitale Meetups, die „Anonyme Arbeiter*innenkinder“ adressieren, vernetzen Nutzer*innen über Hashtags wie #classmatters_immernoch, #Klassismus und #Empowerment.

Klassismuskritik via Social Media kann Ungleichheitsverhältnisse aufzeigen, soziale Platzzuweisung in Frage stellen, veränderte Selbstauffassungen anbieten und einfordern, Teilhabe und Partizipation erlebbar machen – und dafür Öffentlichkeit herstellen. Unter dem eingangs erwähnten Titel Her mit dem schönen Leben behandeln Klasse für Sich und Kali Feminists die Marginalisierung von Frauen durch Sorgearbeit, sie widmen sich migrantischen Erfahrungen in der (deutschen) Diaspora und zeigen Möglichkeiten einer intersektionalen Klassismuskritik auf. Individuelle und kollektive Erfahrungen werden verbunden mit dem (digitalen) Praktizieren von Handlungsfähigkeit in solidarischer Vernetzung. Die Hinweise auf die Bedeutsamkeit der Handlungsfähigkeit von Subjekten oder Kollektiven darf dabei Forderungen nach der Notwendigkeit politischer Regulierungen keineswegs übersehen lassen: Medienhandeln der Einzelnen im Digitalen braucht also demokratische Strukturen, transnationale Regulierung und Bildungskonzepte – und eine politische Kultur, die zivilgesellschaftliches kollektives Engagement aktiv mit Ressourcen befördert und wertschätzt, um eine gerechtere Gesellschaft wirklich(er) werden zu lassen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Affordanzen sind eingebaut in die Strukturen von Onlinediensten und regeln somit die Art der Kommunikation und das Handeln von Nutzer*innen: der „Gefällt mir“-Button auf Facebook, die Verwendung von Hashtags auf X oder ein Link zu einem YouTube-Video auf der Homepage eines Nachrichtenanbieters regeln, wie Nutzer*innen untereinander und mit der Plattform in Kontakt treten können.

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Weitere Inhalte

Tanja Thomas, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Medienwissenschaft mit Schwerpunkt ‚Transformationen der Medienkultur‘ an der Universität Tübingen. Sie forscht u.a. zu Diversität und Ungleichheit in (digitalen) Medienkulturen.

Giuliana Sorce, Dr. phil., ist Akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl ‚Transformationen der Medienkultur‘ des Instituts für Medienwissenschaft der Universität Tübingen. Sie forscht zu digitaler Medienkommunikation mit Schwerpunkt Aktivismus und soziale Bewegungen.