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Das vergessene Versprechen: Wie die Idee der Sozialen Medien scheitert

Tarek Barkouni

/ 12 Minuten zu lesen

Als sich in den 2000ern die ersten sozialen Netzwerke entwickeln, wie wir sie heute kennen, war das Versprechen nichts weniger als eine Revolution der Kommunikation. Heute stehen viele soziale Netzwerke für eine Verbreitung von Falschinformationen und die Verbreitung von Hass und Hetze. Wie konnte es so weit kommen?

Illustration: www.leitwerk.com

Als der Gründer des Technologie-Unternehmens Apple am neunten Januar 2007 auf einer Bühne in San Francisco steht, stellt er das erste iPhone vor – ein Gerät, das dafür sorgen wird, dass heute in Deutschland über 90 Prozent der 14- bis 19-jährigen Menschen ein Smartphone in der Tasche haben. Der große Bildschirm war eine Revolution für den Handymarkt und brachte auch die sozialen Medien vom Computerbildschirm zuhause auf die Straße, in den Bus oder die Klassenzimmer. Plattformen wie Instagram, TikTok, Facebook, Snapchat oder X (ehemals Twitter) sind heute nicht mehr aus dem Leben von Millionen Menschen wegzudenken. Fast zwei Drittel der jüngeren Menschen zwischen 14 und 29 Jahren benutzen die sozialen Medien heute mindestens einmal die Woche. Das klassische lineare Fernsehen und die Zeitungen hingegen sind immer weniger beliebt.

Aber nicht nur im Privaten geben soziale Medien längst den Ton an: Politiker*innen haben sie als Sprachrohr für ihre Ideen entdeckt und erreichen dort riesige Zielgruppen, ohne jemals mit einer Zeitung oder einem Fernsehsender gesprochen zu haben.

Kurz: Die sozialen Medien haben eine beispiellose Rolle im täglichen Leben eingenommen. Die Plattformen prägen nicht nur, wie wir Freundschaften pflegen oder Meinungen und Wissen entwickeln, sie beeinflussen auch politische Wahlen. Wie konnte es so weit kommen? Und wie sozial sind die sozialen Medien heute noch?

Vom Web 1.0 zu Facebook

Um zu verstehen, warum die Plattformen in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnen, lohnt ein Blick in die Anfangstage des Internets. Unternehmen wie IBM und Xerox spielten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Rechnerarchitekturen und Netzwerkprotokollen. Für die breite Bevölkerung sind die meisten dieser Entwicklungen aber noch nicht verfügbar, sie sind oft zu teuer und zu umständlich zu bedienen. Für eine interessierte Gruppe bietet das in den Achtzigern rudimentäre Internet vor allem eins: Es ist ein selbstorganisierter Raum, in dem technikbegeisterte Menschen sich über statische Webseiten und E-Mail-Verteiler austauschen. Die Kommunikation besteht zu großen Teilen aus Texten, wer sich miteinander vernetzen will, kann nicht einfach auf Instagram eine Freundschaftsanfrage stellen. Stattdessen waren die Gründer*innen überzeugt, einen Ort erschaffen zu haben, an dem jede*r, der oder die eine Internetverbindung besaß, an der politischen Kommunikation gleichberechtigt teilnehmen konnte – und sie so auch beeinflussen konnte. Gruppen wie der Chaos Computer Club setzen sich bis heute dafür ein und der Mitgründer der Electronic Frontier Foundation John Perry Barlow schreibt in einer „Unabhängigkeisterklärung des Internets“ in Reaktion auf die zunehmende Kommerzialisierung des Internets: „Wir haben keine gewählte Regierung und werden wahrscheinlich auch keine haben, daher wende ich mich mit keiner größeren Autorität an Sie als mit der, mit der die Freiheit selbst immer spricht.“ Und weiter: „Wir schaffen eine Welt, die jeder betreten kann, ohne Privilegien oder Vorurteile aufgrund von Rasse, Wirtschaftskraft, militärischer Stärke oder Herkunft.“ Die Idee bleibt aber ohne Erfolg, wie der niederländische Medientheroretiker Geert Lovink 2012 schreibt: „Die Gesellschaft hat mit dem Internet gleichgezogen und die Technoträume vom Cyberspace als einer parallelen künstlichen Realität zerplatzen lassen.“ Er beschreibt, wie die Dotcom-Blase, eine riesige Spekulationsblase mit Wertpapieren von Website-Anbietern, nach deren Platzen zahlreiche Unternehmen und Banken pleite gingen, das bisherige „Web 1.0“ zerstörte.

Daraufhin brachte 2004 der Verleger Tim O’Reilly den Begriff „Web 2.0“ ins Gespräch und wollte die Enttäuschungen über die Dotcom-Blase heilen – also ein Marketingbegriff. Trotz des Platzens der Blase besorgten sich immer mehr Haushalte einen Breitbandanschluss für zuhause. Gleichzeitig werden Computer immer leistungsfähiger und mit den Smartphones wird das Internet schließlich auch mobil verfügbar. Die Firmen geben sich größte Mühe, das Web 2.0 so zu gestalten, möglichst viele Nutzer*innen anzulocken. Dabei beeinflussen drei Aspekte die Massentauglichkeit des Internets entscheidend: Es ist einfach zu bedienen, es erleichtert den sozialen Austausch und es gibt Usern über freie Publikations- und Produktionsplattformen die Möglichkeit, Inhalte (also zum Beispiel Bilder, Videos oder Texte) ins Internet zu stellen. Diese Möglichkeiten sind der Grundstein für den Durchbruch der sozialen Medien wie sie heute existieren.

In dieser Zeit gründen sich auch die ersten sozialen Medien, die mit den heutigen Plattformen vergleichbar sind, von denen aber die wenigsten überleben werden. 2003 startet Myspace, das drei Jahre später das erste Mal 100 Millionen Mitglieder hat und heute kaum noch eine Rolle spielt. Anderen ergeht es nicht besser: Das in Deutschland gegründete StudiVZ verzeichnete bereits sieben Jahre nach dem Start nach anfänglichem Erfolg einen Rückgang der Seitenaufrufe um 80 Prozent. An andere Experimente wie Bebo, Orkut oder Friendster erinnert sich heute wohl kaum noch jemand. Und selbst Google, ein Unternehmen, das das Internet wie kaum ein anderes verändert hat, scheitert mit dem eigenen sozialen Netzwerk „Google+“. Einer der Gründe dafür: Facebook, die von Marc Zuckerberg gegründete Plattform, wurde immer erfolgreicher und verdrängte Wettbewerber gnadenlos vom Markt. Denn auch wenn die Nutzer*innen sich frei für ein soziales Netzwerk entscheiden können, sorgt ein Phänomen dafür, dass heute nicht mehrere Plattformen nebeneinanderstehen und sogar vielleicht untereinander kompatibel sind – der Netzwerkeffekt. Grundsätzlich lässt sich der Effekt so zusammenfassen: Wenn Menschen sich miteinander vernetzen wollen, dann werden sie sich für die Plattform entscheiden, wo schon viele andere Menschen – eventuell sogar Freund*innen – aktiv sind. So steigen mit jeder Anmeldung der Wert und die potenzielle Interaktion mit anderen Menschen. Kleinere Netzwerke werden so unattraktiver.

Ein paar Jahre später: Im Jahr 2015 nutzen erstmals über eine Milliarde Menschen an einem Tag Facebook – jeder siebte Mensch auf diesem Planeten schaut an diesem Tag zumindest kurz auf der Plattform vorbei. Zuckerberg schrieb damals in einem Post auf der Plattform, das sei erst der Beginn die Welt zu vernetzen, denn „eine offene und vernetzte Welt ist eine bessere Welt“. Der arabische Frühling, eine Reihe von Protestbewegungen in mehreren arabischen Ländern, schienen ihm zumindest kurzfristig recht zu geben.

Und heute? Zwar ist Facebook immer noch das größte soziale Netzwerk der Welt, jeden Tag nutzen ungefähr 1,96 Milliarden Menschen Facebook, aber andere Netzwerke holen auf. TikTok, die Videoplattform des chinesischen Konzerns Bytedance, hat für den Sprung auf über eine Milliarde täglicher Nutzer*innen nur knapp fünf Jahre gebraucht. Und macht 2021 einen Umsatz von 58 Milliarden US-Dollar, fast doppelt so viel, wie der Haushalt des Bundeslandes Berlin für das Jahr 2022.

Ob Zuckerbergs Versprechen der vermeintlichen Verbesserung eingetroffen ist, bleibt aber fraglich. Denn auch wenn die Zahl der Nutzer*innen steigt, die Menschen immer länger Zeit vor den Bildschirmen verbringen, scheinen Studien zu zeigen, dass die meisten dabei nicht unbedingt glücklicher werden. So manche Nutzer*innen bleiben unglücklicher zurück, viele jedenfalls nicht zufriedener. Zusätzlich bleibt die Idee sich mit Freund*innen zu vernetzen weit hinter den Erwartungen zurück, viele Nutzer*innen fühlen sich im Internet bedroht und von Hass und negativen Reaktionen überwältigt. Trotzdem werden die sozialen Netzwerke an den Aktienmärkte immer wertvoller.

Jede*r Nutzer*in ist Geld wert

Das Geld, das die sozialen Netzwerke mit ihren Nutzer*innen verdienen, wird in einem Kampf um die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen generiert. Es geht längst nicht mehr darum, das Internet zu einem demokratischen Ort zu machen, an dem Wissens- und Ideenaustausch vorherrschend sind. Denn mit jeder neuen Entwicklung im Internet hat sich eine Frage immer mehr in die Idee des Internets hineingeschlichen: Wie verdient man möglichst viel Geld mit dem Internet? Waren es vor dem Platzen der Dotcom-Blase noch Hundefutter-Onlineshops, die Investor*innen angelockt haben, sind es heute oft soziale Netzwerke, die mit den Nutzer*innen Geld verdienen. Oder besser gesagt mit der Werbung, die sie Nutzer*innen ausspielen. Für Facebook gilt: 98 Prozent der Einnahmen des Konzerns stammen aus Werbung. Die Einnahmen übertrafen in den vergangenen Jahren regelmäßig die Erwartungen von Analyst*innen. Im ersten Quartal 2022 wuchsen sie um fast sieben Prozent auf 27,9 Milliarden US-Dollar an. Jede*r Nutzer*in bringt also acht Dollar im Quartal oder zwei Dollar pro Monat. So schreibt es der Economist in einer Analyse des Konzerns.

Denn auch wenn es kein Geld kostet, Facebook, Instagram oder TikTok zu benutzen: Jede*r Nutzer*in bezahlt mit den eigenen Daten, mit denen sie die Nutzer*innen analysieren, kategorisieren und ihnen schließlich personalisierte Anzeigen ausspielen. So kann beispielsweise ein Nutzer, der häufig nach Reisezielen sucht, vermehrt Reiseanzeigen in seinem Newsfeed sehen. Dabei werden nicht nur demografische Informationen wie Alter, Geschlecht und Herkunft berücksichtigt, sondern auch das Nutzungsverhalten, die Interessen und die sozialen Verbindungen der Nutzerinnen. Selbst das geschätzte Vermögen benutzen die Netzwerke, um ein Profil zu erstellen und noch zielgerichteter Werbung auszuspielen.

Das empfinden viele als Vorteil, weil sie so nur Werbung sehen, die sie auch wirklich interessiert, also anstatt einer Autowerbung sieht eine Fahrradbegeisterte Nutzerin eben Werbung für Fahrräder. Der Literatur- und Medienwissenschaftler Roberto Simanowski sagte im Externer Link: Interview mit dem Fluter: „Die Vorteile sind für uns so offensichtlich, während uns für die Fantasie für die möglichen Nachteile fehlt. Wir erleben den auf uns abgestimmten Service und sehen auch, dass dafür unsere Daten erfasst werden. Aber diese Daten erscheinen uns banal.“ Die Banner mit den Hinweisen für die Cookies – mit denen Webseitenbetreiber*innen das Nutzungsverhalten der Besucher*innen verfolgen können – klicken die meisten ungesehen weg. Mit der Massenverbreitung und einfachen Nutzung des Internets ist, trotz jahrelanger Aufklärung, somit auch der Anspruch verloren gegangen, die Hoheit und das Wissen über die Nutzung der eigenen Daten zu haben.

Mit seiner Diagnose beschreibt Simanowski den Begriff „Überwachungskapitalismus“, den Shoshana Zuboff geprägt hat. Überwachung komme damit heute als Service einher. Simanowski sagt: „Die Social-Media-Plattformen überwachen uns nicht, um uns zu disziplinieren, sondern um unsere Wünsche perfekt zu erfüllen.“

Von der Freundschaft zum Empfehlungsalgorithmus

Dabei ist eines auffällig: Als die ersten sozialen Netzwerke online gingen, war die Verbindung zu anderen Menschen das zentrale Verkaufsargument. Endlich konnten Nutzer*innen sich kostengünstig mit Freund*innen und Familienmitgliedern auf der ganzen Welt austauschen und sie mit Fotos und Texten an Erlebnissen teilhaben lassen. Statt der Postkarte aus dem Urlaub gab es stattdessen zum Beispiel einen Facebook-Post. Statt einem Anruf zum Geburtstag einen „Happy-Birthday“-Beitrag.

Weil aber nicht nur Privatpersonen auf den sozialen Netzwerken unterwegs sind, sondern auch Prominente und Unternehmen sehr schnell die Vorteile entdeckten, die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen in den sozialen Netzwerken zu bekommen, entstand ein Durcheinander aus privaten und kommerziellen Beiträgen. Deswegen steht heute das Urlaubsfoto direkt neben der Werbung eines Unternehmens und dem Beitrag eines Fitnessinfluencers. Denn das Versprechen des Web 1.0, dass jede*r mit einem Internetanschluss zum Sender werden könnte, hat sich in den sozialen Medien wiedergefunden. Mit der Geburt der sozialen Medien war auch die Masse der Influencer geboren.

Zum ersten Mal hatten Menschen die Möglichkeit, ihre Gedanken, Geschichten und Interessen mit einem globalen Publikum zu teilen. Dies eröffnete nicht nur eine unermessliche Fülle an Inhalten, sondern schuf auch eine einzigartige Chance für diejenigen, die sich als Influencer*innen profilieren wollten. Manche begannen ihr eigenes Leben öffentlich zu teilen, andere sprachen Empfehlungen aus. Schnell wurde die Produktion von Inhalten für die sozialen Medien ein Beruf, mit dem sich viel Geld verdienen ließ und wurden die Influencer*innen als attraktive und effektive Wahlplakate der Werbeindustrie erkannt.

Ein besonders präsentes Beispiel ist der Aufstieg von Fashion-Bloggern und -Influencern auf Plattformen wie Instagram. Indem sie ihren persönlichen Stil, Modetipps und Einblicke in die Modewelt teilten, wurden viele zu Vorbildern für Menschen. Ihre vermeintliche Authentizität und ihre Fähigkeit, eine engagierte Fangemeinde aufzubauen, ermöglichten es diesen Influencern, mit Marken zusammenzuarbeiten und zu Botschaftern für Produkte und Lifestyle-Labels zu werden. Das funktionierte so gut, dass viele Mode-Influencer heute eigene Modelabels besitzen und mit einem einzigen Post ein Millionenpublikum erreichen. Aber es gibt ein Problem: Die schiere Masse an Inhalten machen die sozialen Netzwerke unübersichtlich. Und wer sich erst durch eine große Menge an Inhalten wühlen muss, die wenig interessant sind, hört auf, das soziale Netzwerk zu benutzen. Dafür haben die sozialen Netzwerke auf Empfehlungen gesetzt. Gestützt auf Algorithmen, empfehlen sie Nutzer*innen Inhalte. Das ist das Erfolgsgeheimnis der Empfehlungsmedien. Sie nehmen Arbeit ab und halten mit ständig neuen interessanten Inhalten bei Laune. Man kennt das von Youtube, wo man sich von einem Video ins nächste klickt und Stunden damit verbringen, zum Beispiel Dokumentationen über das Weltall zu schauen. Auch Netflix schlägt am Ende eines Films weitere Filme und Serien vor, ohne dass Nutzer*innen darum gebeten haben.

All das tun die Plattformen, um Nutzer*innen noch länger auf den Plattformen zu halten und ihnen damit noch mehr Werbung auszuspielen – oder werbefreie, abofinanzierte Angebote als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. So wie es Netflix seit Jahren betreibt und Instagram vor kurzem selbst vorgestellt hat. Um die Menschen aber in der Schleife aus immer mehr Inhalten zu halten, könnte es passieren, dass die sozialen Netzwerke immer weniger sozial werden und viel mehr auf die professionell gestalteten Inhalte von Influencer*innen, Unternehmen und Medien setzen. TikTok zum Beispiel spricht explizit von einer „Entertainment-Plattform“. Der Journalist Scott Rosenberg beschreibt diese zukünftigen Plattformen als ein „Mutanten-Fernsehen, mit einer unendlich großen Anzahl kontextfreier Kanäle, durch die man mit rasender Geschwindigkeit zappt.“ Solche Plattformen hätten fast nichts mehr mit der ursprünglichen Idee der sozialen Netzwerke gemein, die Vernetzung und Kommunikation in den Vordergrund stellen wollte, wenn die Menschen wieder zu einem Fernsehen auf Speed zurückkehren.

Eine kurze Geschichte der Falschinformationen

Dabei befördern gerade diese kontextfreien Kanäle ein Phänomen, das sich in den letzten Jahren immer mehr verstärkt hat: Die Verbreitung von Falschinformationen. Als die sozialen Medien in den frühen 2000er Jahren ihren Aufstieg erlebten, galten sie zunächst als eine vielversprechende Plattform für den freien Informationsaustausch und die Demokratisierung der Kommunikation. Viele Medienhäuser strömten ins Internet und die Plattformen und verbreiteten dort ihre Inhalte zumeist kostenlos. Genauso kostenlos sind aber auch die Falschinformationen, die heute massenweise im Internet verbreitet werden. Seien es Verschwörungsmythen über den Coronaimpfstoff, gezielte Propaganda über den Ukraine-Krieg oder Desinformation über die Klimakrise: Die versuchte Einflussnahme über Falschinformationen ist ein massives Problem in den sozialen Netzwerken.

Auch wenn solche Falschinformationen und Verschwörungsmythen auch vor der Einführung des Internets und der sozialen Netzwerke verbreitet wurden, ist der Empfängerkreis von einer überschaubaren Anzahl zu einem weltweiten Personenkreis gewachsen. Die Netzaktivistin Katharina Nocun und die Psychologin Pia Lamberty haben in ihrem Buch „Fake Facts“ dieses Phänomen, wie es heute existiert, analysiert und sehen die sozialen Netzwerke als einen Treiber für die Akzeptanz von solchen Verschwörungserzählungen. Sie zitieren in ihrem Buch eine Studie über eine vermeintliche Flache-Erde-Verschwörung, bei der 29 von 30 Befragten angaben, durch Videos auf Youtube auf das Thema gestoßen zu sein. Auf der anderen Seite beschreiben sie aber auch, wie bereits im Jahr 1835 eine Serie über angebliche Entdeckung von Leben auf dem Mond eine Rekordauflage erzielte – über 100 Jahre vor dem ersten Start eines Satelliten in die Erdumlaufbahn.

Trotzdem bleibt es fraglich, ob das Ideal des Web 1.0 als Ort der Wissenschaftlichkeit heute noch gilt oder die pure Masse an kaum verifizierbaren Informationen nicht längst eine Art Wissenslabyrinth für die Nutzer*innen geschaffen hat, aus dem sie kaum herausfinden. Denn es heißt nicht umsonst: Eine Falschinformation wieder einzufangen ist fast unmöglich, sobald sie einmal verbreitet ist. Insbesondere wenn sie als Retweet, Reuploads oder Screenshots in den sozialen Netzwerken kursieren.

Die Revolution bleibt aus (vielleicht)

In der Geschichte der sozialen Medien wurde oft das Narrativ des Fortschritts gewählt, das von einer Revolution in der Kommunikation sprach. Alles musste größer, schneller, besser sein. Das Aufkommen des „Web 2.0“ wurde beispielsweise als wegweisender Meilenstein dargestellt, der die Macht der Nutzer*innen stärkte und eine neue Ära des demokratischen Austauschs einläutete. Plattformen wie Twitter und Facebook wurden als Werkzeuge für soziale Veränderungen und politischen Aktivismus gefeiert. Vergessen sollten die statischen Webseiten des Web 1.0 sein und der geplatzte Hype nach der Dotcomblase. Und Jahre später, als sich der Begriff Web 2.0 abgegriffen hatte und das Scheitern des arabischen Frühlings in vielen Ländern die Wirkmacht von digitalen Massenbewegungen in Frage stellte, wurde der Begriff „Web 3.0“ als das nächste große Ding gewählt. Es sollte ein großes Problem des kommerzialisierten Internets lösen: Wie kann man etwas Digitales, nur auf Servern Vorhandenes besitzen – und den Besitz auch zeigen. Ab etwa 2021 sollte deshalb ein Hype um Blockchain-Technologien, der sogar die Börse und später die Kinoleinwände eroberte, folgen, nur um zwei Jahre später ein Randphänomen zu werden. Aber erst nachdem viele Menschen viel Geld verloren hatten und der Hype heute von Expert*innen als Schneeballsystem beschrieben wird.

Denn die glanzvolle Erzählung des immerwährenden Fortschritts des Internets hat mit jeder Entwicklungsstufe auch die negativen Auswirkungen gezeigt. Wenn nämlich Falsch- oder zumindest irreführende Informationen und die Kommerzialisierung jeglicher Inhalte so zentrale Elemente der sozialen Netzwerke sind, stellt sich die Frage ob die sozialen Medien tatsächlich zu einer besseren und informierten Gesellschaft beigetragen haben. Und ob diese vermeintlich neuen Entwicklungen überhaupt so neu sind.

Das muss nicht heißen, dass die sozialen Medien gescheitert sind. Wenn über 90 Prozent der Bevölkerung nutzen, weil es ihnen Spaß macht und über 80 Prozent die Inhalte gut finden, stellt sich zumindest die Frage nach dem Erfolg bei den Nutzer*innen nicht wirklich.

Weitere Inhalte

Tarek Barkouni hat in Jena und München studiert, wo er die Deutsche Journalistenschule besucht hat. Als Journalist schreibt er unter anderem über digitale Phänomene, Internetpopkultur und Digitalisierung.