Einleitung
Aktuelle Befragungsdaten aus dem Reuters Institute Digital News Report zeigen, dass für 14% der erwachsenen Onliner soziale Medien wie Facebook oder Instagram die wichtigste Nachrichtenquelle im Internet sind – bei den 18- bis 24-jährigen Nutzer*innen sind es im Befragungsjahr 2023 sogar ganze 35%, die Social-Media-Plattformen als ihre Hauptnachrichtenquelle bezeichnen.
Während Nachrichten in der Befragung recht breit als „nationale, internationale, regionale/lokale Nachrichten und sonstige aktuelle Informationen“ definiert werden, wird die hohe Relevanz sozialer Medien auch mit Blick auf politische Informationen deutlich. Eine Studie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zeigt eindrücklich, dass jeweils etwa die Hälfte der Nutzer*innen von Facebook (56%), Twitter (54%), TikTok (48%) und Instagram (45%) auf den Plattformen mindestens wöchentlich mit politischen Inhalten in Kontakt kommt. Dazu zählen Videos, Bild- und Textbeiträge von Medien, Politiker*innen und Parteien oder auch entsprechende Inhalte, die von Influencer*innen und ‚gewöhnlichen‘ Nutzer*innen erstellt oder (weiter-)verbreitet werden. Social-Media-Plattformen spielen also eine immer bedeutsamere Rolle für die Informationsnutzung und Meinungsbildung der Bevölkerung.
Der vorliegende Beitrag widmet sich vor diesem Hintergrund der Frage, wie Prozesse der individuellen Meinungsbildung und -äußerung auf sozialen Medien ablaufen und von welchen Faktoren diese abhängig sind. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Besonderheiten der Social-Media-Informationsumgebung gelegt.
Besonderheiten der Informationsumgebung auf sozialen Medien
Wenngleich alle Social-Media-Plattformen unterschiedlich sind und sich zudem beständig verändern, gibt es einige übergreifende Merkmale, die die Informationsnutzung sowie die darauf aufbauende Meinungsbildung und -äußerung von Nutzer*innen entscheidend prägen. Dem PINGS-Framework folgend lassen sich Personalisierung, Inzidentalität, Non-Exklusivität, Granularität und Sozialität als die wesentlichen Charakteristika identifizieren.
Personalisierung. Eine erste Besonderheit der Social-Media-Informationsumgebung betrifft die unvermeidliche Personalisierung des Informationsangebots. Grundlegend lässt sich dabei zwischen der sog. impliziten Personalisierung (auch ‚algorithmische‘ oder ‚systemgetriebene‘ Personalisierung) sowie expliziter Personalisierung (auch ‚selbstbestimmte‘ oder ‚nutzergetriebene‘ Personalisierung) unterscheiden. Von impliziter Personalisierung ist die Rede, wenn die Präferenzen der Nutzer*innen aufgrund ihrer beobachtbaren Handlungen und weiterer Signale vom System erschlossen werden und diese Informationen genutzt werden, um Inhalte für den Social-Media-Feed zu filtern und zu priorisieren. Von expliziter Personalisierung spricht man hingegen, wenn Nutzer*innen aktiv und selbstgesteuert festlegen, mit welchen Inhalten sie (nicht) konfrontiert werden wollen, etwa durch Abonnement- oder Blockier-Funktionen. Beide Formen der Personalisierung wirken auf sozialen Medien zusammen und beeinflussen sich kontinuierlich in einem wechselseitigen Prozess. Oberstes Ziel der Plattformen ist dabei die Generierung von Aufmerksamkeit und somit die Maximierung von (Werbe-)Einnahmen.
Inzidentalität. Als unmittelbare Folge der Personalisierung wird die Inzidentalität bzw. Beiläufigkeit des Kontaktes mit meinungsbildungsrelevanten Informationen diskutiert. Bezeichnet wird damit die Idee, dass Nutzer*innen durch die Akteurs- und Quellenvielfalt auf Social-Media-Plattformen mit (politischen) Informationen oder Nachrichten in Kontakt kommen, obwohl sie diese nicht aktiv gesucht haben. Allerdings ist fraglich, wie verbreitet dieses ‚Stolpern‘ über – insbesondere tagesaktuelle journalistische – Informationen ist. Angesichts der an persönlicher Relevanz orientierten Personalisierungsprozesse ist die Wahrscheinlichkeit von Kontakt und Auseinandersetzung mit politischen Informationen nicht gleich verteilt, sondern bei jenen Nutzer*innen höher, die sich ohnehin schon für politische Themen interessieren und ein entsprechend aktives Kommunikationsverhalten zeigen (sog. Matthäus-Effekt).
Non-Exklusivität. Während politische Informationen in journalistischen Medien klar identifizier- und nutzbar sind (z.B. im Politik-Ressort), stellen sie in sozialen Medien nur einen, häufig kleinen, Teil des Angebots dar. Sie konkurrieren mit Content von Influencer*innen, persönlichen Posts von Freund*innen oder werblichen Inhalten um die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen. Non-Exklusivität verweist also darauf, dass Informationsumgebungen in sozialen Medien inhärent ‚bunt‘ sind, was insbesondere Fragen nach der Wahrnehmung und Tiefe der Verarbeitung von Nachrichten und politischen Informationen aufwirft.
Granularität. Social-Media-Informationsumgebungen fördern zudem eine stark an einzelnen Beiträgen orientierte Informationsnutzung. Schweiger bezeichnet dieses Phänomen als „granularisierten Nachrichtenkontakt“ und verweist damit einerseits auf die Abkehr von integrierten Nachrichtenangeboten (z.B. eine komplette Tagesschau-Ausgabe) sowie andererseits auf die Dominanz von „free-floating snippets“ („freischwebenden Schnipseln“) in Form von illustrierten Links, Share-Pics oder Kurzvideos, deren Informationsgehalt in aller Regel nicht mit einem vollen Nachrichtenbeitrag vergleichbar ist.
Sozialität. Politische Informationen und Nachrichten sind auf Social-Media-Plattformen immer auch mit sozialen (Kontext-)Informationen verknüpft, die sich auf zwei Ebenen verorten lassen: Zum einen werden Nutzer*innen mit aggregierten Empfehlungen wie der Zahl der Likes oder Weiterleitungen konfrontiert. Zum anderen können persönliche Empfehlungen von Freund*innen und Bekannten (z.B. „@Hanna, das musst du dir anschauen!“) die Zuwendung zu und weitere Verarbeitung von Informationen steuern. Als Ergänzung zur Ausgangsquelle (z.B. Medienanbieter) haben diese sozialen Hinweisreize nicht nur unmittelbaren Einfluss auf den Kontakt mit Informationen, sondern können auch deren Wahrnehmung beeinflussen.
Prozesse und Faktoren der Meinungsbildung auf sozialen Medien
Begriffsklärung: Meinungsbildung
Vor Diskussion der Frage, wie die Besonderheiten von Social-Media-Informationsumgebungen die Meinungsbildung beeinflussen, ist zunächst zu klären, was unter (politischer) Meinungsbildung zu verstehen ist. In den Sozialwissenschaften werden Meinungen gemeinhin als positive oder negative Bewertungen von Objekten bezeichnet, wobei es sich dabei etwa um Personen, Parteien oder Themen handeln kann. Meinungsbildung ist folglich der Prozess, in dessen Verlauf eine solche Meinung entsteht. Schwerpunkt des Beitrags bildet die individuelle Meinungsbildung, die im Politik-Kontext das „Herausbilden politischer Einstellungen“ bei einzelnen Nutzer*innen beschreibt und sowohl durch mediale Informationsquellen, Meinungen im unmittelbaren sozialen Umfeld als auch die wahrgenommene öffentliche Meinung geprägt wird.
Der Meinungsbildungsprozess lässt sich analytisch in drei Stufen aufteilen, die eng mit den Grundfunktionen der Medien verknüpft sind: Themenvermittlung, Wissensvermittlung und Meinungsvermittlung. Zunächst setzen Medien im Sinne des Agenda Setting bestimmte Themen überhaupt erst auf die Tagesordnung (sog. Agenda-Setting) und beeinflussen so, wie präsent diese bei den Nutzer*innen sind und als wie wichtig sie wahrgenommen werden. In einem zweiten Schritt werden aber auch Fakten – oder als solche wahrgenommene Informationen – zu diesen Themen vermittelt, sodass mediale Angebote die Aneignung von konkreten Wissensbeständen ermöglichen. Und schließlich ist es ebenfalls Aufgabe der Medien, über bestehende Meinungen zu gesellschaftlich relevanten Themen zu informieren. Auch soziale Medien können auf allen drei Stufen des Meinungsbildungsprozesses relevant sein und Themen, Wissen und Meinungen vermitteln. Wie nachfolgend diskutiert wird, werden Struktur und Ablauf dieser Vermittlungsprozesse dabei nicht zuletzt durch die dargelegten Besonderheiten der Social-Media-Informationsumgebung mitgestaltet.
Einflussfaktoren auf die Meinungsbildung
Meinungsbildungsprozesse werden durch eine Vielzahl an persönlichen Eigenschaften beeinflusst, die fraglos auch im Kontext sozialer Medien bedeutsam sind. Dazu gehören allgemeine Merkmale einer Person wie das Orientierungsbedürfnis, aber auch themenbezogene persönliche Merkmale (z.B. Informationsverhalten zum Thema, oder das Interesse, das eine Person daran hat). Der Fokus liegt nachfolgend jedoch nicht auf diesen individuellen Faktoren, sondern auf der Frage, wie die Merkmale der Social-Media-Informationsumgebung die Meinungsbildung prägen.
Personalisierung spielt die mit Abstand wichtigste Rolle, da durch die individuelle Klassifizierung und Filterung von Inhalten nicht nur bestimmt wird, welche Themen die Nutzer*innen zu Gesicht bekommen, sondern auch mit welchen Arten von Wissen und Meinungen sie (nicht) konfrontiert werden. Die Kombination aus expliziter und impliziter Personalisierung entscheidet u.a. darüber, welche Beiträge in welcher Reihenfolge angezeigt werden und wie häufig man bestimmten Themen oder Ansichten begegnet. Die daraus entstehenden Gefahren für Meinungsbildungsprozesse wurden vor allem unter Stichworten wie ‚Echokammer(n)‘ oder ‚Filterblase(n)‘ diskutiert. Gemeint ist damit, dass Nutzer*innen auf Social-Media-Plattformen hauptsächlich von Inhalten umgeben sind, die ihre eigenen Ansichten widerspiegeln. Der aktuelle Forschungsstand spricht jedoch dafür, dass diese Befürchtung nur bedingt haltbar ist. Nichtsdestotrotz haben Plattform-Algorithmen einen erheblichen Einfluss auf den Informationsfluss haben und können ihre Meinungsmacht vor allem dann entfalten, wenn Nutzer*innen sich ausschließlich über soziale Medien informieren und/oder sich bewusst in politisch stark homogenen Online-Netzwerken bewegen.
Das Ausmaß von Inzidentalität ist, wie eingangs dargestellt, ebenfalls stark von Personalisierungsprozessen geprägt. Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass Social-Media-Plattformen insgesamt den Kontakt mit politischen Informationen und Nachrichten erhöhen: So zeigt eine sechs Länder umfassende Web-Tracking-Studie, dass die Nutzung von Facebook und Twitter sowohl die Anzahl als auch die Diversität von Nachrichtenwebsite-Besuchen positiv beeinflusst. Zudem ist auch innerhalb sozialer Medien damit zu rechnen, beiläufig mit (neuen) Themen oder Meinungen konfrontiert zu werden – selbst bei weitgehend ‚unpolitischer‘ Nutzung. Da sich Influencer*innen, die mit Themen wie Mode oder Sport bekannt geworden sind, auf Social-Media-Plattformen immer wieder auch zu politischen Sachlagen äußern, lässt sich hier ebenfalls ein Einfluss auf die Themen-, Wissens- und Meinungsvermittlung konstatieren. Damit erfolgreich sind sie vor allem dann, wenn sie als vertrauensvoll und glaubwürdig wahrgenommen werden.
Das Auftauchen solcher ‚neuer‘ Akteur*innen verweist zudem auf den Einfluss von Non-Exklusivität. Diverse professionelle und private Kommunikator*innen können auf Social-Media-Plattformen Themen, Wissen und Meinungen in Umlauf bringen. Hier stellt sich die Frage, wie sich der bunte Mix an Inhalten und Akteur*innen auf Meinungsbildungsprozesse auswirkt, sowohl mit Blick auf die Aufmerksamkeit für einzelne Beiträge als auch deren weitere Verarbeitung. Diesbezüglich gibt es Hinweise darauf, dass visuelle Reize eine wesentliche Rolle für die Zuwendung zu Nachrichten in Social-Media-Feeds spielen und Nutzer*innen sich im Kontext sozialer Medien schlechter an die Quellen von Beiträgen erinnern. Entsprechend besteht die Gefahr, dass auch Informationsangebote von zweifelhafter Qualität ihren Weg in die individuelle Meinungsbildung finden, weil sich Nutzer*innen zwar noch an den Inhalt, nicht aber deren Ursprung erinnern.
Granularität und die gesteigerte Orientierung an einzelnen Posts statt journalistisch kuratierter Gesamtpakete fördert einen Rezeptionsmodus, der in der Literatur auch als ‚Snacking‘ bezeichnet wird: eine unregelmäßige und kurzfristige Beschäftigung mit Nachrichten, die primär auf Schlagzeilen und knappe (Bild-)Teaser ausgerichtet ist. Diese Analogie zur Nahrungsaufnahme hilft auch, die damit verbundenen Probleme zu verdeutlichen: Statt vollwertiger (Nachrichten-)Mahlzeiten kommen lediglich einzelne Informationshappen mit geringem Nährwert auf den Tisch; eine unzureichende und/oder einseitige Themen- und Wissensvermittlung droht. Obwohl auch ‚Snack News‘ informieren und gemäß experimentellen Untersuchungen zumindest „ein klein wenig Wissen“ vermitteln können, stellt sich die Frage, wie die Qualität von Meinungsbildungsprozessen einzuschätzen ist, die (nahezu) ausschließlich auf der Rezeption isolierter Nachrichtenfragmente besteht.
Wie oben dargestellt werden Meinungsbildungsprozesse durch mediale Informationsquellen, Meinungen im unmittelbaren sozialen Umfeld sowie die wahrgenommene öffentliche Meinung beeinflusst. Die Sozialität von Social-Media-Plattformen setzt an all diesen Stellen an: Nicht nur ergänzt sie mediale Informationsquellen um verschiedene aggregierte und persönliche Popularitätshinweise, sie liefert insbesondere durch Nutzer*innen-Kommentare sowie die Anzahl an Reaktionen (z. B. Likes, Shares) ein unmittelbares Fenster zur Meinung Dritter, die Studien zufolge von Nutzer*innen als Indikator für das gesellschaftliche Meinungsklima herangezogen wird. Dies ist vor allem deshalb problematisch, da Kommentare und Reaktionen nicht repräsentativ sind – weder für die Gesellschaft noch die Nutzer*innenschaft des jeweiligen Social-Media-Angebots. Denn wie gleich noch zu zeigen sein wird, äußert sich nur ein (kleiner) Teil der Nutzer*innen auf sozialen Medien öffentlich.
Prozesse und Faktoren der Meinungsäußerung auf sozialen Medien
Begriffsklärung: Meinungsäußerung
Wie schon bei der Meinungsbildung liegt auch der Fokus der folgenden Darstellungen zur Meinungsäußerung auf der politischen Meinungsäußerung, die im Kontext sozialer Medien unterschiedliche Formen annehmen kann. Lane und Kolleg*innen finden mithilfe einer Aufarbeitung der Forschungsliteratur, dass ein bedeutender Anteil an Studien (36,4%), die politische (Meinungs-)Äußerungen auf Social-Media-Plattformen untersuchen (engl. political expression on social media), die interessierenden Verhaltensweisen nicht klar konzeptualisieren. Mit Blick auf die Messung machen die Autor*innen drei unterschiedliche Schwerpunkte aus: (1) Messung von generellen Äußerungen (Wie nutzen Individuen grundsätzlich soziale Medien, um ihre politischen Ansichten zu äußern?), (2) Messung von motivationalen Elementen (Was sind die Gründe für politische Äußerungen?) und die (3) Messung von Feature-Verwendungen (Wie werden spezifische Social-Media-Features wie Liken, Sharing usw. genutzt?).
Im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf der Meinungsäußerung mithilfe unterschiedlicher Social-Media-Features, da sich bei dieser Betrachtung auch grundlegende Aspekte der Meinungsäußerung sowie spezifische Motive integrieren lassen. Dabei lässt sich differenzieren zwischen dem ‚Liken‘ bzw. Reagieren als Form der Informationsbewertung, dem Sharing bzw. Teilen als Form der Informationsverbreitung und dem Kommentieren als Form der Informationsdiskussion. Wenngleich hier alle Formen gleichermaßen zur Meinungsäußerung gezählt werden, gibt es durchaus relevante Unterschiede in deren Tiefe: So ist das ‚Liken‘ insgesamt die niedrigschwelligste Form, während Teilen und Kommentieren nicht nur stärker mit der sich äußernden Person in Verbindung gebracht werden können, sondern im Regelfall auch mit einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem verbreiteten bzw. diskutierten Inhalt einhergehen. Im Fall des Kommentierens lässt sich zudem zwischen ‚speaking up‘ (Kommentieren ohne eine Meinung zu vertreten, z.B. „Den Beitrag kannte ich noch nicht.“) und ‚speaking out‘ (Kommentieren mit einem klaren politischen Standpunkt, z.B. „Dieses Gesetz ist Irrsinn!“) unterscheiden.
Einflussfaktoren auf die Meinungsäußerung
Aktuelle Studien zur Nutzung der genannten Features im Kontext der Nachrichtenberichterstattung und politischen Beteiligung stützen die Annahme, dass nur ein kleiner Teil der (Online-)Bevölkerung aktiv wird: Gemäß Reuters Institute Digital News Report bewerten bzw. liken 14% der erwachsenen Internetnutzer*innen in einer durchschnittlichen Woche Nachrichtenartikel, nur jeweils 8% teilen oder kommentieren diese auch. Eine Befragung des Weizenbaum-Instituts kommt zu der Erkenntnis, dass 25% der Deutschen ab 16 Jahren politische Inhalte auf sozialen Medien teilen und 22% diese kommentieren – als Referenzrahmen wurde hier allerdings „die letzten 12 Monate“ angelegt, sodass insgesamt davon auszugehen ist, dass die Meinungsäußerung auf Social-Media-Plattformen kein Massenphänomen ist. Mit Blick auf soziodemographische und weitere Personenmerkmale zeigt sich des Weiteren, dass sich Männer und Personen, die sich selbst am Rande des politischen Spektrums verorten, und solche, die ein höheres politisches Interesse aufweisen, häufiger aktiv in sozialen Medien beteiligen. Bestimmte soziale Gruppen scheinen auf Social-Media-Plattformen also sichtbarer zu sein als andere und somit einen ungleich größeren Einfluss auf das einsehbare Meinungsspektrum zu haben. Natürlich dürfen für die grundlegende Frage danach, wer auf sozialen Medien seine Meinung äußert, auch Motive des Likens, Teilens und Kommentierens von Nachrichten und politischen Informationen nicht außer Acht gelassen werden. Als bedeutsam haben sich hier – in unterschiedlichem Ausmaß – drei Klassen von Motiven herausgestellt: altruistische (Zielgröße: andere informieren), eigennützige (Zielgröße: Ansehen gewinnen, als Expert*in wahrgenommen werden) und soziale Motive (Zielgröße: Interaktion mit anderen, Kontaktanbahnung).
Die oben für die Meinungsbildung diskutierten Merkmale der Social-Media-Informationsumgebung sind auch für (Wahrscheinlichkeit und Gestalt von) Meinungsäußerungen relevant, wobei an dieser Stelle vor allem auf den Einfluss von Sozialität eingegangen wird. So ist davon auszugehen, dass das Vorhandensein von Popularitätshinweisen und Kommentaren nicht nur die Wahrnehmung des Meinungsklimas (s.o.), sondern auch die Bereitschaft zur eigenen Meinungsäußerung beeinflusst. Als theoretische Grundlage dient vielen empirischen Studien dabei die von Elisabeth Noelle-Neumann entwickelte Theorie der Schweigespirale, die davon ausgeht, dass Menschen nur dann ihre Meinung äußern, wenn sie sich in der Mehrheit wähnen. Haben sie indes das Gefühl, in der Minderheit zu sein, äußern sie ihre Meinung aufgrund von Konformitätsdruck und Isolationsfurcht nicht öffentlich. In der Folge entsteht der namensgebende Spiralprozess, in der die vermeintliche Mehrheit immer lauter/präsenter und die vermeintliche Minderheit immer leiser wird. Empirische Befunde zeigen, dass solche Schweigespiralprozesse auch im Kontext sozialer Medien auftreten können und dabei zum Teil sogar ausgeprägter sind als in Offline-Settings. Allerdings hängt die Stärke der Effekte auch von den spezifischen Kommunikationsbedingungen auf Social-Media-Plattformen ab: So können der Grad an Anonymität und somit die eigene Identifizierbarkeit, die (öffentliche) Sichtbarkeit oder auch die Persistenz (Dauer der Verfügbarkeit) der Meinungsäußerung eine wesentliche Rolle für die Entscheidung von Social-Media-Nutzer*innen spielen, sich (nicht) politisch zu äußern. Wie auch in anderen Medienumgebungen sind zudem Merkmale der Ausgangsbotschaft oder bereits vorhandener Diskussionsbeiträge für die Redebereitschaft entscheidend, beispielsweise der Grad an (In-)Zivilität oder die wahrgenommene Qualität und Argumentationstiefe.
Diese Bedingungen beeinflussen schließlich nicht nur, ob man sich äußert, sondern auch – insbesondere im Bereich der Informationsdiskussion – in welcher Form. Allerdings muss beachtet werden, dass hier keine klaren Kausalketten zwischen bestimmten Merkmalen sozialer Medien und produzierten Botschaften ausgemacht werden können. Anonymität etwa kann sowohl den positiven Effekt haben, dass Menschen sich in Kommentaren freier äußern und ihre wahren Gefühle zum Ausdruck bringen, aber auch zu Enthemmung oder einer Verringerung des Verantwortungsbewusstseins beitragen und dadurch zu einem Mehr an inzivilen Ausdrucksformen führen. Insgesamt lässt sich schlussfolgern, dass soziale Medien durch ihre einfachen Möglichkeiten zur (politischen) Teilhabe Partizipationshürden senken und somit prinzipiell allen Nutzer*innen ermöglichen, ihre Meinung zu äußern und an (teil-)öffentlichen Debatten teilzunehmen. Ob jedoch tatsächlich eine Meinungsäußerung stattfindet, hängt sowohl von den Charakteristika der Social-Media-Plattformen, der Wahrnehmung des Themas und der bestehenden Meinungsverteilung, als auch grundlegenden Motiven und Persönlichkeitsmerkmalen ab.
Fazit
Unbestritten haben soziale Medien einen Einfluss auf die individuelle Meinungsbildung und -äußerung. Nicht nur bieten sie einen Zugang zu Themen, Wissen und Meinungen – kommuniziert und aufbereitet von einer Vielzahl an Akteur*innen –, sondern stellen darüber hinaus vielfältige Möglichkeiten bereit, auf diese zu reagieren oder sich selbst zu Wort zu melden. Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive ist dabei besonders interessant, was ‚neu‘ bzw. charakteristisch an Social-Media-Plattformen ist und inwiefern diese Merkmale Prozesse der Meinungsbildung und -äußerung verändern.
Die durch Personalisierung, Inzidentalität, Non-Exklusivität, Granularität und Sozialität gekennzeichnete Informationsumgebung sozialer Medien sowie das über unterschiedliche Plattformen und Features hinweg variierende Ausmaß an Anonymität, Sichtbarkeit und Persistenz von Botschaften beeinflussen nicht nur, wie meinungsbildungsrelevante Informationen entdeckt, wahrgenommen und rezipiert werden, sondern auch, ob und in welcher Form die eigene Meinung geäußert wird. Der Forschungsstand deutet darauf hin, dass keines dieser Merkmale per se ‚gut‘ oder ‚schlecht‘, also mit ausschließlich positiven oder negativen Effekten für Meinungsbildung und -äußerung verknüpft ist. Nichtsdestotrotz muss weiter kritisch beobachtet werden, wie sich insbesondere die Verzahnung aus algorithmischer Kuratierung, ständiger Verfügbarkeit sozialer Hinweisreize und der vielen Social-Media-Formaten inhärenten Komprimierung und Dekontextualisierung von Informationen langfristig auf Erwerb und Ausdruck (politischer) Meinungen auswirken. Aufmerksamkeit verdienen dabei vor allem jene Nutzer*innengruppen, die aufgrund von Persönlichkeitsmerkmalen, politischen Voreinstellungen oder der Zusammensetzung ihres Informationsrepertoires Gefahr laufen, im Kontext sozialer Medien verstärkt mit einseitigen oder gar extremen Inhalten in Berührung zu kommen.