Einleitung
Durch soziale Medien wie Facebook, Instagram oder Twitter ist es politischen und staatlichen Institutionen möglich, ein Massenpublikum zu erreichen, ohne den Umweg über journalistische Massenmedien. Man spricht deshalb von einem hybriden Mediensystem, bei dem soziale Medien einen direkten Austausch zwischen Bürger*innen, Politik und Medien in allen denkbaren Konstellationen ermöglichen. So können individuelle Bürger*innen, Politiker*innen und Journalist*innen durch das Teilen von Beiträgen, die Kommentarfunktionen und Möglichkeiten des User-Engagements (wie z. B. Likes) miteinander interagieren. Gleichzeitig nehmen journalistische Massenmedien (und deren Webseiten und Profile in sozialen Medien) auch im hybriden Mediensystem eine Schlüsselrolle ein, weil über sie nach wie vor am ehesten ein Massenpublikum erreicht wird. Jedoch wird die Hybridität des modernen Mediensystems dadurch deutlich, dass Massenmedien nicht selten über Ereignisse berichten, die zuerst in sozialen Medien diskutiert werden, während sich (virale) Posts immer wieder auch auf Medienberichterstattung beziehen. Durch diese Verbindungen hat sich der Kommunikationsfluss grundlegend verändert: Kommunizierten politische und staatliche Institutionen über die längste Zeit im 20. Jahrhundert „top down“ (also „von oben nach unten“), haben Bürger*innen heute vielfältige Möglichkeiten, auch politische und staatliche Institutionen „bottom up“ (also „von unten nach oben“) zu erreichen.
In diesem Kapitel des Dossiers zur Entwicklung, der Bedeutung und den Potenzialen sozialer Medien betrachten wir die Merkmale und Folgen des Wandels der Kommunikation von politischen und staatlichen Institutionen durch soziale Medien genauer und schauen dabei zunächst auf Parteien abseits von Wahlen und im Wahlkampf und anschließend auf Regierungen.
Der Stellenwert sozialer Medien in der öffentlichen politischen Sphäre
Im Jahr 2022 gaben erstmals mehr deutsche Bürger*innen in der jährlichen Umfrage des renommierten Reuters Institute for the Study of Journalism an, Nachrichten hauptsächlich online zu verfolgen und nicht mehr im Fernsehen. Dieser Trend setzte sich 2023 fort. In Deutschland nehmen Youtube (16% der Befragten), Facebook (14%), Instagram (8%), Twitter (5%) und Telegram (4%) die obersten Plätze unter den sozialen Medien als Quellen politischer Informationen ein.
Parallel zu diesem Wandel der Mediennutzungsstruktur konnte in den vergangenen Jahrzehnten auch ein Wandel der politischen Struktur beobachtet werden. Die Volksparteien CDU/CSU und SPD erreichen heute geringere Stimmenanteile als noch vor einigen Jahrzehnten. Auch über das Parteiensystem hinweg nimmt die Stammwähler*innenschaft tendenziell ab und der Anteil der sich spät entscheidenden Wechselwähler*innen zu. Für Parteien ist es dadurch wichtiger geworden, den direkten Kontakt vor allem auch zu jüngeren Wähler*innengruppen über digitale Kanäle zu suchen.
Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Parteien ihre Organisationsstrukturen an die Veränderungen der Kommunikationsumgebung anpassen. So sind die Social-Media-Teams in den Parteizentralen in den letzten Jahren zusehends gewachsen und moderne Kommunikationsformen wie Influencer-Marketing haben Einzug in die politische Kommunikation erhalten. Zwar lassen sich deutsche Parteien anders als z. B. Podemos in Spanien oder Movimento 5 Stelle in Italien kaum als „Digital Partys“ bezeichnen – vielleicht mit Ausnahme der Piratenpartei, die Anfang der 2010er-Jahre einige Achtungserfolge feiern konnte – jedoch gehört die digitale Kommunikation heute zum Alltagsgeschäft aller Bundestagsparteien. Besonders deutlich zeigen sich digitale Innovationen der Parteienkommunikation in Bundestagswahlkämpfen – dem Hochamt der deutschen Demokratie.
In den frühen 2000er Jahren gründeten sich die Erwartungen an die digitale politische Kommunikation vor allem auf die mögliche Umgehung der journalistischen Nachrichtenauswahl („Disintermediation“). Dabei wurden drei breitere Hypothesen diskutiert:
Die Erosions- oder Disintermediationshypothese geht davon aus, dass sich traditionelle Institutionen zunehmend auflösen und sich die Machtdynamik dadurch ändert.
Die Gleichstellungshypothese nimmt an, dass soziale Medien es Parteien mit geringen Ressourcen ermöglichen, professionelle und wirkungsvolle Kampagnen durchzuführen, wodurch der Wettbewerb mit ressourcenstarken Parteien ausgeglichen würde.
Die Normalisierungshypothese geht davon aus, dass alteingesessene, ressourcenstarke politische Institutionen am meisten von den Möglichkeiten sozialer Medien profitieren, da professionelle Kampagnen in sozialen Medien genauso ressourcenintensiv wären wie professionelle traditionelle Kampagnen.
Insgesamt bieten soziale Medien neuen Parteien und Außenseiter-Politiker*innen die Möglichkeit, sich ohne besondere technische Kenntnisse (z. B. Programmierkenntnisse) bei relativ geringem finanziellem Aufwand online zu organisieren und Bürger*innen zu erreichen. Dadurch gewinnen sie an öffentlicher Sichtbarkeit. Das kann für Demokratien und Gesellschaften eine Chance sein, wenn neue Parteien Stimmungen in der Bevölkerung zielführend bündeln, oder eine Gefahr, wenn antidemokratische Parteien versuchen, Gegen-Öffentlichkeiten aufzubauen. Während diese Beobachtung für die Gleichstellungshypothese spricht, zeigt sich zugleich, dass ressourcenstarke Parteien ebenso wie traditionelle Institutionen durch die Dynamiken in sozialen Medien nicht abgelöst wurden. Die Erosions-/Disintermediationshypothese und die Normalisierungshypothese können also ebenfalls nicht verworfen werden. Die drei Hypothesen können folglich nur ein Ausgangspunkt für tiefergehende Analysen sein.
Soziale Medien als Wahlkampfkommunikationskanäle
In den Anfangsjahren des Internets wurde der digitalen Kommunikation oft das Potenzial einer stärkeren Beteiligung der Bürger*innen im politischen Prozess zugeschrieben. Studien zeigen allerdings, dass die Bürgerbeteiligung nur mäßig durch die Nutzung sozialer Medien beeinflusst wird. Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass digitale Kommunikationsformate die traditionellen Formate von Wahlkampagnen erweitern oder ergänzen, aber nicht grundsätzlich ersetzen. Soziale Medien ermöglichen es Kampagnenmacher*innen dabei, individuell ausgerichtete (Microtargeting-)Kampagnen zu führen und gleichzeitig ein Massenpublikum zu erreichen. Da soziale Medien Top-Down- und Bottom-Up-Kommunikation ermöglichen, können sie die klassischen Wahlkampffunktionen Menschen zu informieren, mit den Bürger*innen zu interagieren und sie als Wähler*innen zu mobilisieren miteinander verknüpfen.
Als weltweit am innovativsten gelten US-Präsidentschaftswahlkämpfe. 2008 wurden die Grenzen zwischen Online- und Offline-Wahlkampf mustergültig in der Wahlkampagne von Barack Obama überwunden. Die Kampagne nutzte ein eigenes soziales Netzwerk my.barackobama.com und konnte mit den dort gewonnen Nutzer*innendaten eine Wähler*innendatenbank anreichern, die für die zielgenaue Planung des Haustürwahlkampfes eingesetzt wurde. Die aus den Gesprächen an den Haustüren gewonnenen Daten wurden wiederum in die Wähler*innendatenbank implementiert. Die Obama-Kampagnen 2008 und 2012 waren die ersten datengetriebenen Kampagnen und begründeten die hybride Wahlkampfführung.
Die Wahlkämpfe Donald Trumps
Einen ebenso starken Einschnitt stellte die Kampagne von Donald Trump 2016 dar. Sie baute keine ressourcenintensive Datenbank auf, sondern nutzte die auf Social-Media-Plattformen nutzbaren Daten und instrumentalisierte die Aufmerksamkeitsdynamik moderner hybrider Mediensysteme. Die Kampagne schaltete gezielte Anzeigen in sozialen Medien und auf Webseiten. Dieser Ansatz ist auch außerhalb der USA gut anwendbar, da regulatorische Grenzen zumindest teilweise durch die Nutzung der (Werbe-)Infrastruktur sozialer Medien überwunden werden können. Dies ist möglich, indem politische Akteur*innen anstatt selbst Daten zu sammeln, z. B. Facebook dafür bezahlen, Werbeanzeigen basierend auf plattformeigenen Daten auszuspielen. Zusätzlich erzeugten Trumps oft aggressive oder sogar irreführende Botschaften Nutzer*innenreaktionen (z. B. Likes und Shares) und damit Sichtbarkeit in den sozialen Medien und wurden von journalistischen Medien, gleich ob sie seine Botschaften kritisierten oder unterstützten, weiterverbreitet.
Während des Präsidentschaftswahlkampfes 2020 verfolgte die Trump-Kampagne diese Strategie weiter. Die Investitionen in digitale Werbung brachen Rekorde: Mehr als 200 Millionen Dollar (47 % seines Werbebudgets) wurden für digitale Anzeigen ausgegeben. Doch auch die Biden-Kampagne lag mit ca. 115 Millionen Dollar (ein Drittel seines Werbebudgets) deutlich vor der Obama-Kampagne 2008, die 8 Millionen Dollar in digitale Anzeigen investiert hatte. In der Endphase änderte sich die Dynamik des Wahlkampfs jedoch erneut, da kontinuierliche Tabubrüche schwieriger wurden: Soziale Medien setzten Warnmeldungen ein, wenn falsche Nachrichten z. B. über die Corona-Krise verbreitet wurden.
In Deutschland wurden soziale Medien erstmals im Bundestagswahlkampf 2009, bei dem Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat*innen antraten, umfassend als Wahlkampfinstrument eingesetzt. Die Parteien setzen in ihren Kampagnen in sozialen Medien vor allem auf Informationen zum politischen Personal, dem Wahltermin und zu Inhalten und verzichten zumeist auf Interaktionsaufrufe oder Mobilisierungsappelle. Ebenso zeigt sich, dass die Parteien Personalisierungsstrategien anwenden, indem sie einzelne Politiker*innen, zuvorderst die Kanzlerkandidat*innen, in den Mittelpunkt ihrer Posts rücken. Der Blick auf die Nutzer*innen in sozialen Medien zeigt, dass negative Botschaften belohnt werden. Sie ziehen viele Nutzerreaktionen wie Likes, Shares oder Kommentare nach sich, was wiederum die Sichtbarkeit innerhalb der Plattform erhöhen kann, weil Posts, die ein hohes sog. User Engagement erzeugen, vom Algorithmus begünstigt werden. Allerdings spielt das sogenannte Negative Campaigning in Deutschland immer noch eine geringere Rolle als z. B. in den USA, wo z. T. sehr persönliche Angriffe in Wahlkämpfen vorgebracht werden.
Grenzen des digitalen Wahlkampfs
Den in den USA entwickelten Wahlkampf-Tools sind darüber hinaus in Deutschland enge Grenzen gesetzt: Rechtliche und regulatorische Grenzen (z. B. Datenschutzgesetze wie die DSGVO) spielen ebenso eine Rolle wie organisatorische und finanzielle Bedingungen. Außerdem unterscheiden sich die Wahl- und Parteiensystemen sehr stark, weshalb Strategien, wie z. B. gezielte Werbung in sog. Swing States, nicht unangepasst übernommen werden können. Dennoch besteht auch in Deutschland künftig noch stärker die Herausforderung, das gesamtgesellschaftliche Problemlösungen auch ein gemeinsames Verständnis erfordern. Eine allzu große Individualisierung von Kampagnen verkleinert hierfür potentiell den Spielraum.
Soziale Medien als Kommunikationskanäle staatlicher Institutionen
Staatliche Institutionen nutzen soziale Medien ebenfalls, um die Top-Down-Kommunikation durch einen Rückkanal zu ergänzen und mit den Bürger*innen in einen Austausch zu treten. So ist z. B. die Bundesregierung seit 2007 auf YouTube mit einem eigenen Kanal vertreten und betreibt seit 2015 eine eigene Facebook-Seite, während auf Twitter neben dem Regierungssprecher zahlreiche Ministerien einen eigenen Kanal betreiben. Damit tragen sie der fortschreitenden Ausdifferenzierung digitaler Kommunikationskanäle Rechnung. Auch in anderen Kontexten, wie z. B. bei der Krisenkommunikation der Polizei, zeigen wissenschaftliche Studien, dass staatliche Institutionen immer wieder auch aktiv auf Rückmeldungen aus der Community reagieren und damit ansprechbar und nahbar werden. Verändert hat sich durch den Wandel der Kommunikationskanäle die Geschwindigkeit der Kommunikation und die Möglichkeit, während Ereignissen öffentlich kommunizieren zu können.
Dem steht gegenüber, dass soziale Medien zwar Nähe zum Publikum herstellen, dies aber ein aufwendiges Community-Management erfordert. Dabei wird z. B. sichergestellt, dass aufrichtige Fragen von Nutzer*innen beantwortet werden oder dass beleidigende Kommentare gelöscht werden. Laut Auskunft von Redakteuren des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung müssten auf der Facebook-Seite der Bundesregierung gelegentlich Nutzer*innen zum Unterlassen von Beleidigungen aufgefordert werden. Insgesamt würden dort aber positive Erfahrungen überwiegen. Im Kontext von Themen wie der Migrationspolitik zeigen empirische Befunde aber z. T. erhebliche Anteile an entmenschlichenden oder gewaltverherrlichenden Kommentaren. Für politische und staatliche Institutionen kann also ein enormer Moderationsaufwand entstehen. Für Demokratie und Gesellschaft verlangt der Schutz von Minderheiten vor Anfeindungen und Bedrohungen also einen größeren Einsatz in öffentlichen Kommunikationsumgebungen.
Herausforderungen politischer Kommunikation in sozialen Medien
Soziale Medien sind aus dem Kommunikationsrepertoire von Parteien und staatlichen Institutionen nicht mehr wegzudenken. Jedoch stehen institutionelle Akteur*innen bei der öffentlichen Kommunikation in diesen digitalen Kanälen z. T. vor immensen Herausforderungen. Aus rechtlicher Perspektive spielen Datenschutz und Persönlichkeitsrechte eine Rolle, eng damit verbunden sind Aspekte wie Hatespeech oder Polarisierung. Hinsichtlich des Datenschutzes und der Persönlichkeitsrechte bestanden beim Aufkommen sozialer Medien wie Facebook noch erhebliche Zweifel auf Seiten politischer Institutionen. Mittlerweile ist die Kommunikation auf den Plattformen durch Parteien und staatliche Institutionen aber eher die Regel als die Ausnahme. Durch die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) hat die Europäische Union den Plattformen und Seitenbetreiber*innen Regeln vorgegeben. Dies hat die Unsicherheit, ob Seiten von staatlichen Institutionen in sozialen Medien überhaupt datenschutzkonform zu betreiben sind, allerdings nicht vollkommen beseitigt – hier bestehen z. T. erhebliche Zweifel. Ebenfalls rechtlich relevant sind besonders aggressive Nutzer*innenkommentare, wie Beleidigungen oder Drohungen, die unter den Begriff Hatespeech fallen. In den letzten Jahren hat es hierzu spektakuläre Gerichtsentscheidungen gegeben, bis letztlich das Bundesverfassungsgericht beleidigenden Nutzer*innenkommentaren Grenzen gesetzt hat. Bei institutionellen Seiten und Profilen haben allerdings die Betreiber*innen die Möglichkeit, durch zielgerichtete Moderation der Nutzer*innenbeiträge zumindest die öffentliche Sichtbarkeit von Hasskommentaren zu unterbinden und können im Falle von Strafbarkeit zudem entsprechende rechtliche Schritte unternehmen.
Neben diesen rechtlichen Aspekten wird in der Öffentlichkeit zudem immer wieder diskutiert, ob durch die Verbreitung von sozialen Medien gesellschaftliche Polarisierung gefördert wird. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive erscheint es allerdings unterkomplex allein soziale Medien hierfür verantwortlich zu machen. So zeigen empirische Studien, dass Nutzer*innen sozialer Medien durchaus mit vielfältigen Informationen konfrontiert werden, mit denen sie nicht von vorneherein übereinstimmen. Ebenso finden sich selbstbestätigende so genannte Echokammern eher in Nischen des Internets als in den Newsfeeds der großen sozialen Netzwerke. Gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, wie z. B. die besonders in den USA extrem erscheinende Polarisierung, hängen vielmehr von einer Vielzahl an Faktoren ab, die auf Seiten der öffentlichen Kommunikation im gesamten hybriden Mediensystem mitsamt der journalistischen Berichterstattung, aber auch abseits der Öffentlichkeit in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu suchen sind. Insgesamt lässt sich festhalten, dass soziale Medien weder Heilsbringer für nachhaltige Bürgerbeteiligung sind, noch Unheil bringende Infrastruktur, die allein technisch Gesellschaften spaltet. Es liegt an den Institutionen und Individuen, ob sie sie für zerstörerische Ziele einsetzen oder stattdessen klug nutzen und sich mit positiven Zielen weltweit vernetzen.