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Wir dürfen G8 nicht aufgeben

Kristin Haug

/ 4 Minuten zu lesen

Anstatt die Reform zu reformieren, sollten die Bundesländer den überhastet eingeführten G8-Lehrplan verbessern und in das Konzept der Ganztagsschule integrieren.

(Not Original by John Jones ) Lizenz: cc by/2.0/de

Die Idee klang gut: Die Schüler/-innen an Gymnasien in Deutschland sollten nach acht Jahren Abitur machen, um jünger auf den Arbeitsmarkt zu kommen. Also wurde in einigen Bundesländern die achtjährige Gymnasialzeit eingeführt (G8).

Doch schon bald wurden kritische Stimmen laut. Eltern monierten, ihre Kinder hätten zu viel Stress in der Schule. Für Hobbys bliebe keine Zeit mehr. Begriffe wie "Turbo-Abitur" und "Bulimie-Lernen" kamen auf. Eltern appellierten an Lehrer/-innen, Schulleiter/-innen und Politiker/-innen, um zur neunjährigen Gymnasialzeit (G9) zurückzukehren. Sie legten Umfragen vor, aus denen hervorging, dass die Mehrheit ebenso denkt. Sie gründeten Initiativen, starteten Online-Petitionen. Und sie wurden gehört – von Politiker/-innen, die um ihre Wiederwahl fürchteten: Niedersachen, Schleswig-Holstein, Bayern, Nordrhein-Westfalen entschlossen sich, die Reform zu reformieren.

Ein großer Fehler! Gymnasiast/-innen in den neuen Bundesländern machen ihr Abitur seit jeher in acht Jahren. Das funktioniert: Der Ländervergleich des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen zeigt, dass Schüler/-innen aus Thüringen und Sachsen nicht schlechter sind als ihre Mitstreiter/-innen in anderen Bundesländern.

Natürlich haben G8-Schüler/-innen in der elften und zwölften Klasse Nachmittagsunterricht und natürlich ist das anstrengend. Aber sie haben trotzdem Zeit für Hobbys oder einen Nebenjob. Sicher sind die Tage voll. Sicher kann es sein, dass sie bis spät in die Nacht lernen müssen oder morgens sehr früh aufstehen, um das Wichtigste kurz vor einem Test oder einer Klassenarbeit noch einmal durchzugehen.

Und auch, wenn sie später merken, dass kurzfristiges Pauken meist gar nicht so viel bringt, haben sie eine Lektion gelernt: sich ihre Zeit gut einzuteilen. Wie wichtig diese Lektion ist, merken sie spätestens an der Hochschule. Dort müssen sie in noch viel kürzerer Zeit, viel mehr Stoff lernen.

Zudem sind G8-Schüler/-innen nicht schlechter auf ein Studium vorbereitet als G9-Schüler/-innen. Das belegt etwa eine Erhebung des Kieler Leibniz-Instituts für Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik im Auftrag der Mercator-Stiftung. Demnach macht es für Schüler/-innen keinen großen Unterschied, ob sie nach acht oder neun Jahren Abitur machen. Zumindest fachlich nicht.

Die falsche Frage?

Veranstaltungsmitschnitt

Die falsche Frage?

Acht oder neun Jahre bis zum Abitur - für Frauke Hildebrandt, Professorin für frühkindliche Bildungsforschung an der Universität Potsdam, ist das die falsche Frage. Sie hält es für wichtiger darüber nachzudenken, ob Kinder nicht prinzipiell länger gemeinsam lernen sollten.

Die vollständige Rückkehr zu G9 in Niedersachen, Bayern, Nordrhein-Westfalen, die Wahlfreiheit in Hessen und ein Sondermodell in Baden-Württemberg macht aus der Bildungslandschaft in Deutschland einen riesigen Flickenteppich, die Abschlüsse lassen sich noch weniger miteinander vergleichen als bisher. Auch Schulwechsel zwischen Bundesländern werden wieder schwieriger.

Doch vor allem für Lehrer/-innen und Schulleiter/-innen ist die Rückkehr zu G9 belastend: Es müssen erneut Lehrpläne erarbeitet und Schulbücher gedruckt werden. Schüler/-innen bleiben wieder ein Jahr länger an den Schulen – und das obwohl Deutschland unter akutem Lehrer/-innenmangel leidet. Schon seit Jahren steigt die Zahl der Abiturient/-innen. Mehr als die Hälfte eines Jahrgangs legt inzwischen die Hochschulreife ab. Tendenz steigend. Wo sollen all diese Schüler/-innen untergebracht werden, wer soll sie unterrichten?

Zeit und Geld, das für die Rückkehr zu G9 verwendet wird, kann effektiver genutzt werden – etwa, um die z.T. völlig überhastet eingeführten G8-Lehrpläne zu optimieren. Schulleiter/-innen und Lehrer/-innen könnten besser ausgebildet werden – auch im Hinblick auf die Digitalisierung des Unterrichts. Sind die Pädagog/-innen gut ausgebildet und motiviert, dann leisten sie auch guten Unterricht. Doch motiviert können sie nur dann sein, wenn sie nicht überfordert sind.

Auch das Konzept der Ganztagsschulen lässt sich gut mit G8 kombinieren: Schüler/-innen könnten nachmittags unterrichtet und bei den Hausaufgaben betreut werden. Gymnasien könnten auch mit Musik- oder Sportvereinen kooperieren, um den Schüler/-innen Freizeitangebote zu ermöglichen. Auch für Eltern, die ihre Teilzeitstellen aufstocken möchten, wären Ganztagsschulen eine große Hilfe.

G9 ist natürlich ein Entgegenkommen an Schüler/-innen, die Lernschwierigkeiten haben. Kritiker/-innen argumentieren, vor allem Jungen seien durch das G8 benachteiligt. Aber diese Schüler/-innen könnten ihr Abitur nach wie vor in neun Jahren – zum Beispiel auf Berufs- oder Stadtteilschulen ablegen. Oder eben eine Klassenstufe wiederholen. Das ist kein Drama, sondern zeigt den Schüler/-innenn ihre Grenzen auf und lehrt sie, dass es im Leben immer eine zweite Chance gibt

G8-Kritiker/-innen argumentieren, Abiturient/-innen seien mit 17 Jahren zu jung, um an die Hochschulen zu gehen. Das ist richtig: Nur wenige 17-Jährige wissen, was sie später werden wollen. Das müssen sie auch nicht. Sie müssen auch nicht direkt nach dem Abitur an die Universität gehen. Viel sinnvoller ist es, das Jahr nach der Schule für andere Dinge zu nutzen. Sie könnten eine Weltreise machen, ein Freiwilliges Soziales Jahr oder Praktika. So können sie herausfinden, welcher Beruf für sie infrage käme. Das bringt ihnen im Zweifel mehr als ein Jahr zusätzlicher Schulunterricht.

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Kristin Haug ist Redakteurin im Bildungsressort von Spiegel Online.