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"Es sind keine reinen Protestwähler" | Populismus | bpb.de

"Es sind keine reinen Protestwähler"

Netzdebatte Redaktion

/ 7 Minuten zu lesen

Wer wählt populistische Parteien - und warum? Wie unterscheiden sich die Wähler/-innen rechts- und linkspopulistischer Parteien? Über diese und weitere Fragen haben wir mit dem Soziologen Johannes Kiess gesprochen.

Redaktion: Die Bundestagswahl hat gezeigt, dass viele der Wähler/-innen der AfD früher eine der etablierten Parteien gewählt haben – sowohl am linken als auch am rechts-konservativen Ende des politischen Spektrums. Gibt es überhaupt so etwas wie eine typische Wählerschaft populistischer Parteien?

Johannes Kiess: Nein, ich glaube das wäre zu einfach. Was man aus unterschiedlichen Studien zusammenfügen kann, ist, dass es nicht einfach so ist, dass die Arbeiterklasse jetzt die Populisten wählt, weil sie von der Sozialdemokratie oder sozialistischen Parteien enttäuscht wurde. Es gibt diesen Effekt – z.B. in Frankreich – aber wenn wir etwa nach Deutschland schauen, trifft das in dieser Einfachheit jedenfalls nicht zu. Für Deutschland wissen wir, dass die unteren 20 Prozent der Einkommenspyramide weiterhin quasi überhaupt nicht wählen gehen.

Johannes Kiess

Johannes Kiess ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Siegen und forscht zu politischer Soziologie. Zudem hat er an der 2016 erschienen Externer Link: Leipziger Mitte-Studie mitgearbeitet, die autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in der Gesellschaft untersucht.

Selbst wenn man den Populismus als neue Politisierung einschätzt, wofür es durchaus Anzeichen gibt, dann gibt es aber trotzdem immer noch ein Repräsentationsdefizit. Deswegen ist die These "die Rechtspopulisten füllen nur einen Raum, der offen gelassen wurde" so nicht ganz zutreffend. Was man sagen kann, ist, dass die Wählerinnen und Wähler rechtspopulistischer Parteien international gesehen durchaus von ähnlichen Gefühlen oder ähnlichen Motivationen getrieben werden. Gemeinsam haben sie eine hohe Frustration und einen hohen Vertrauensverlust gegenüber dem politischen System. Das schließt nicht nur das Parlament und die wichtigsten Parteien ein, sondern durchaus auch den Arbeitsmarkt, den Wohlfahrtsstaat und die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt im Sinne einer "besseren Zukunft". Auch Ressentiments finden wir in allen Ländern als Triebkraft.

Welche Konsequenzen kann es Ihrer Meinung nach haben, wenn man an der Vorstellung festhält, dass es die Abgehängten, die Globalisierungsverlierer, die Bildungsfernen sind, die die Populisten wählen?

Auf der einen Seite lässt man sich damit auf den Diskurs der Rechtspopulisten ein, die ja behaupten das Volk und die "Abgehängten" tatsächlich zu repräsentieren. Das tun sie aber de facto nicht. Das Parteiprogramm der AfD zeigt ganz deutlich, dass man sich gerade gegen diese Bevölkerungsschichten – Alleinerziehende, Geringverdiener, Arbeitslose, sozial Bedürftige - richtet. Wenn überhaupt, dann werden hier Ängste, Aggressionen und Frustrationen kanalisiert, aber nicht repräsentiert. Der zweite Grund ist dann strategischer Natur und ist problematisch für die anderen Parteien, die auf einmal denken mit den vereinfachenden, populistischen bis rassistischen Parolen mithalten zu müssen. Damit verschiebt sich der ganze Diskurs nach rechts.

Kann man allgemein die Tendenz erkennen, dass populistische Parteien auch in der Mitte der Gesellschaft immer besser ankommen?

Den vielgenutzten Begriff der Mitte müsste man erst einmal definieren. Ich sehe da zumindest zwei Koordinatensysteme: Einmal das eigentlich auch nicht eindimensionale Rechts und Links im politischen Sinne und einmal das Oben und Unten im ökonomischen Sinne. Im ökonomischen Sinne zeigt sich sehr deutlich, dass sowohl Leute ‚unten’ als auch ‚oben’ rechtspopulistische Parteien wählen. Das zeigen sowohl unsere Einstellungsstudien als auch Wahlstudien von Kolleginnen und Kollegen. Mal ganz abgesehen vom Führungspersonal in den Parteien. In der AfD sind ja die meisten Führungspersönlichkeiten aus dem Externer Link: gehobenen bürgerlichen Milieu. Die Einordnung im politischen Koordinatensystem links rechts ist schwieriger. Das hängt vor allem mit der Selbsteinschätzung vieler Wählerinnen und Wähler zusammen, die sich nicht unbedingt als rechts einordnen, dann aber rechts wählen. Menschen, die sich als ‚Mitte’ oder sogar ‚links’ bezeichnen würden, wählten trotzdem die AfD oder in Frankreich den Front National oder Donald Trump in den USA. Insofern waren rechtsextreme Positionen aber schon immer auch in der sogenannten Mitte anzutreffen.

Also reine Protestwähler?

Zumindest bei der AfD hat sich gezeigt, dass es inzwischen durchaus auch einen festen Kern an Wählern gibt. Das sind nicht die um die zehn Prozent Wählerstimmen, die sie teilweise bei Wahlen bekommen, aber vier bis fünf Prozent. In dieser Gruppe gibt es verfestigte Wertvorstellungen von nationalkonservativ bis hin zu noch weiter rechts stehenden Positionen. Anderseits gibt es eine Wählerschaft, die mit der Wahl rechtspopulistischer Parteien Frustration und Protest ausdrückt. Wobei sich das nicht so einfach trennen lässt, weil der Frust durchaus auch auf der Enttäuschung von Werten beruht. Von einer reinen Protestwahl zu sprechen, ist also falsch, denn die Enttäuschungen haben ja auch Gründe.

Viele Parteien haben im Wahlkampf versucht, diese Enttäuschung aufzugreifen und zum Thema zu machen. Können die etablierten Parteien programmatisch überhaupt noch etwas entgegenhalten oder ist das eine ganz grundlegende Politikverdrossenheit, die da zum Ausdruck kommt?

Das ist ja ein Prozess. Es reicht nicht, wenn die SPD ein paar Monate lang im Wahlkampf soziale Gerechtigkeit zum Thema macht. Das muss auch glaubhaft sein und das wird es erst, wenn es über einen längeren Zeitraum zum Bestandteil des Programms wird. Die Frustration und die Entfremdung von der Politik waren ja durchaus auch ein langfristiger Prozess. Die aktuellen Versuche der etablierten Parteien das zurückzudrehen und auf diese Herausforderungen des Populismus zu reagieren, stecken noch in den Anfängen. Aber selbstverständlich können die etablierten Parteien programmatisch gegenhalten: wenn sie nicht versuchen, den Rechtspopulisten hinterherzurennen, sondern sich auf ihre eigene Programmatik besinnen und klare Positionen beziehen.

Sie sagen, dass man diese Entwicklungen schon sehr lange beobachten konnte. Als Trump die Wahl gewonnen hat waren alle überrascht und haben angefangen die Ursachen zu analysieren. War man denn wirklich so ahnungslos?

Diese Frage müsste man wahrscheinlich dem einen oder anderen politischen Strategen oder Politiker stellen. Es hat sicher viel damit zu tun, dass es einen "Alltags-Modus" in der Politik gibt und bestimmte Entwicklungen nur schwer durchdringen. Das ist ja auch ein sehr gerne von Rechtspopulisten – oder Populisten insgesamt – genutztes Motiv, dass die Politiker die Verbindung zum Volk verloren haben. Das ist natürlich zu verkürzt, aber man hat die Entwicklung in diese Richtung übersehen. Das Potenzial rechtsextremer Einstellungen ist nach unseren Studien stabil und nicht erst in den letzten zwei Jahren angestiegen. Die sogenannte Politikverdrossenheit selbst ist mindestens seit den 1990er Jahren in der Politikwissenschaft präsent.

In anderen Ländern sind Populisten ja schon länger in den Parlamenten vertreten – in manchen sind sie sogar an der Regierung beteiligt. Gibt es in der Forschung eine Auseinandersetzung darüber, ob man diese Entwicklung bisher vielleicht falsch eingeschätzt hat?

Es gab sicherlich Anzeichen und man kann immer versuchen zu lernen, aber Geschichte wiederholt sich auch nicht einfach. In der Wissenschaft gibt es den Ansatz, dass rechtspopulistische und rechtsextremistische Strömungen in Wellen kommen – gerade auch mit Blick auf die Organisation in Parteien. Das war in den Achtzigerjahren so, in den Neunzigern und dann noch einmal Anfang der 2000er, als z. B. die Partei für die Freiheit (PVV) um Geert Wilders in den Niederlanden und die FPÖ unter Jörg Haider in Österreich groß wurden. Jetzt erleben wir sozusagen die nächste Welle. In den Parlamenten angekommen, verlieren sie dann oft an Schlagkraft und verschwinden wieder ein bisschen. Durch die sozialen und ökonomischen Folgen der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich das verändert. Die Angst und Verunsicherung ist größer geworden. Hinzu kommen dann Themen wie Zuwanderung, die den latenten Rassismus in einigen Teilen der Gesellschaft kanalisieren, und dann zur Wahl von populistischen bzw. rechtspopulistischen Parteien führen.

Aber ist das denn ein rein rechtes Phänomen? Es gibt ja in Südeuropa auch durchaus erfolgreiche linkspopulistische Parteien.

Ich tue mich bei dem Vergleich von Rechts- und Linkspopulismus schwer, weil die AfD und der Front National mehr von Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien trennt, als es da Ähnlichkeiten gäbe. Gemeinsam haben sie in der Tat, dass die Erfolge der einzelnen Parteien auch eine Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise und die damit einhergehenden sozialen und politischen Verwerfungen sind. Wir befinden uns in einer Legitimationskrise des modernen Kapitalismus oder der modernen Demokratien – wie auch immer man das betonen möchte. Die Menschen suchen nach Alternativen und nehmen dann populistische – im Sinne von nicht etablierten Parteien – stärker wahr, als sie das vorher getan haben.

Muss sich die Parteienlandschaft in Deutschland in Zukunft grundlegend verändern, um die Bedürfnisse der Wähler zu reflektieren?

In Deutschland hat sich die Parteienlandschaft schon immer weiterentwickelt, zum Beispiel mit der Linken oder den Grünen oder heute der AfD. Das ist eigentlich nichts Neues. Dagegen ist die Situation in Frankreich schwieriger, weil nach den Wahlen im vergangenen Jahr die Republik wie sie bisher funktioniert hat, eigentlich vorbei ist. Das Zweiparteiensystem existiert so nicht mehr und es gibt jetzt mindestens drei Parteien, wobei Staatspräsident Emmanuel Macron ja keiner Partei so richtig zugehörig ist. Das ist eine Entwicklung der letzten Jahre.

In Deutschland ist der Wandel nicht ganz so fundamental, aber auch hier haben wir mit der AfD die erste rechte Partei nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich wirklich etablieren konnte. Und die wird auch nicht in einem halben Jahr oder einem Jahr weg sein – schon allein weil sie ja in den Landesparlamenten und im Bundestag für die nächsten fünf Jahre vertreten ist. Die Parteien selbst spüren ebenfalls Veränderungsdruck. Vor allem in der SPD, aber auch in der Linken und selbst in der CDU, die ja die Wahl gewonnen hat, sind programmatische Debatten im Gange. Positiv gewendet könnte man auch sagen: die Parteien nehmen den Problemdruck durchaus wahr.

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