Erst als der Scharfschütze kam, wurde mir bewusst, wo ich eigentlich gerade war. Februar 2016, Damaskustor vor der Altstadt Jerusalems. Hier, ganz in der Nähe, hatte ich mal gewohnt. Hierher komme ich noch heute regelmäßig für meine Recherchen – auch in den vergangenen Monaten, als eine Terrorwelle über das Land hereinbrach. Fast wöchentlich gingen junge Einzeltäter, ohne Anbindung an eine Terrororganisation, mit Messern auf Polizisten, Soldaten und Zivilisten los. Das Damaskustor, einer der Altstadtzugänge im arabischen Ostteil Jerusalems, war zu einem häufigen Tatort dieser einsamen Wölfe geworden.
Seit Wochen schon war das Polizeiaufgebot höher als sonst, die Beamten standen in voller Montur – Schutzweste, Schlagstock, Waffe – hinter Gitter-Absperrungen und kontrollierten immer mal wieder junge, männliche, arabische Passanten. Daran hatte ich mich gewöhnt. Sicherheitsbeamte mit Waffen sieht man in Israel fast täglich, am Damaskustor nun eben mehr von ihnen. Doch der Scharfschütze der Polizei irritierte mich. Wie er da oben ganz in schwarz auf dem Tor stand, die Waffe auf den Platz gerichtet, zur Sicherheit.
Die größte Herausforderung: ein normales Leben zu führen
Mir wurde bewusst, dass meine Freunde und meine Familie zu Hause in Deutschland ja nun genau von diesem Ort, dem Damaskustor in Jerusalem, hören. „Meinem“ Tor: Ich, seit viereinhalb Jahren Tel Aviverin, habe davor ein halbes Jahr in Jerusalem gelebt, die Hälfte der Zeit in der Altstadt Jerusalems. Ich bin damals nahezu täglich durch das Damaskustor gelaufen: vorbei an den arabischen Frauen, die auf dem Boden sitzend manchmal Salbei und manchmal Weintrauben verkaufen. Ich passierte die Essens-, Kleidungs- und Schnickschnack-Läden, lief anschließend durch den arabischen Stadtteil Sheikh Jarrah, den Berg hinauf bis zur Universität, wo ich Hebräisch lernte. Das Damaskustor war für mich ein Ort wie für Münchener der Stachus und wie für Berliner der Alexanderplatz: alltäglich, normal, vertraut. Terror hin oder her – wenn ich in Jerusalem bin, gehe ich dort noch immer entlang.
So ist Israel. Wie die meisten Israelis versuche ich, mich vom Terror nicht einschränken zu lassen. Ich gehe shoppen, ich fahre mit dem Bus. Das Leben geht weiter. Hier gehört es eben dazu, dass Sicherheitsbeamte an den Eingängen zu Kaufhäusern und Bahnhöfen kontrollieren und dabei auch in meinen Rucksack schauen, prüfen dass ich weder Messer noch Waffen oder Sprengstoff bei mir trage. Ich treffe mich weiterhin mit Freunden in Cafés und Bars, auch wenn diese einmal Orte des Terrors waren. Wir gehen für das unschlagbare Happy-Hour-Angebot in die Simta-Bar auf der Tel Aviver Dizengoff-Straße. Dort erschoss im Januar 2016 ein Terrorist zwei junge Männer.
Ich tue all das nicht, weil ich besonders mutig oder töricht wäre, sondern weil all diese Orte längst Teil meines Lebens geworden sind. Ich lebe ja hier, mittendrin. Ich habe in Israel ein Gottvertrauen und eine Gelassenheit entwickelt, die ich vorher nicht von mir kannte. Ja, ich bin wachsam, ich lebe mit dem Wissen, dass theoretisch etwas passieren könnte. Ich schaue im Kaufhaus, im Bus oder auf der Straße genau hin, wenn mir jemand merkwürdig vorkommt. Doch so vorsichtig ich auch bin: Ich kann nicht wissen, ob ich heute zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sein werde. Darum sage ich mir, was viele Israelis gerne sagen: Hacol ihie beseder – alles wird gut.
„Unsere größte Herausforderung ist es, ein normales Leben zu führen“, hat der israelische Psychologe und Traumaexperte Yotam Dagan mal diagnostiziert. „Das heißt: widerstandsfähig zu sein und zur Normalität zurückzukehren. Stunden nach einer Terrorattacke sind die Straßen meist wieder aufgeräumt, die Läden geöffnet. Man hört noch ein paar Stunden, einen Tag lang, in den Nachrichten darüber. 2013 habe ich die Terrorattacke beim Boston Marathon erlebt. Dort war die Innenstadt für Tage gesperrt.
Israelis haben es zu oft erlebt, als dass sie sich jedes Mal einen Ausnahmezustand erlauben könnten – weder auf den Straßen noch im Herzen. Es wäre ja auch unerträglich, angsterstarrt durchs Leben zu gehen – oder noch schlimmer: zu Hause zu bleiben. Seit ich in Israel lebe, sind zwei Gazakriege geführt worden, seit September vergangenen Jahres haben Terroristen 156 Mal versucht, Menschen zu erstechen, 98 Mal sie zu erschießen, und 46 Mal, sie mit dem Auto zu überfahren. 40 Menschen sind dabei ums Leben gekommen, so teilt es das israelische Außenministerium mit.
Der Terror befördert Stereotype und Rassismus
Dennoch wäre es falsch zu behaupten, dass der Terror spurlos an den Israelis vorbeigeht – gerade heutzutage, wo Bilder und Videos sofort und ungefiltert in den sozialen Netzwerken geteilt werden. Das sagt auch Yotam Dagan: „Der Stress liegt in der Luft. Als Gesellschaft sind wir sehr impulsiv, laut, wir planen nicht gut im Voraus und sind nicht immer so freundlich. Selbst die Parkplatzsuche auf dem Weg zum Strand ist manchmal kriegerisch. Aber wir sind auch sehr warm und innovativ.
Doch noch etwas macht der Terror mit einer Gesellschaft: Er befördert Stereotype und Rassismus. Immer wieder habe ich vor allem in den Straßen von Jerusalem beobachtet, wie hauptsächlich junge arabische Männer von der Polizei kontrolliert wurden: Taschen leeren, Schuhe aus, Hände an die Wand, Beine auseinander – dann wird abgetastet. Was für eine Schmach für einen Halbstarken, dessen Hass auf die Polizei und Israel dadurch sicher nicht kleiner wird, habe ich mir oft gedacht. Aber was, wenn er gefährlich ist? Auch mich kostet es unheimlich viel Geisteskraft, nicht gleich jemanden zu verdächtigen, nur weil er ins Täterprofil passt. Aber wie sollen, ja: können wir und die Sicherheitskräfte anders damit umgehen, wenn doch die meisten der Täter junge arabische Männer sind? Für viele Israelis stellen sich solche Fragen nicht mehr, Sicherheit geht vor. Ich lebe damit, dass ich keine Antwort gefunden habe.
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