Das Streikrecht ist essentieller Bestandteil der Tarifautonomie, also des gemeinsamen Rechts von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, für ihre Mitglieder Tarifverträge mit zwingenden Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Tarifautonomie wiederum ist die Antwort auf das Problem des angemessenen Lohns für menschliche Arbeitsleistung. Normalerweise bringt der Markt durch Angebot und Nachfrage den angemessenen Preis für getauschte Leistungen heraus. Bei der Arbeitsleistung funktioniert der Marktmechanismus aber nicht. Wenn die Nachfrage nach Arbeit und mithin ihr Preis sinkt, wird das Angebot von Arbeit nicht weniger. Im Gegenteil: Es wird mehr gearbeitet, um den Lebensstandard zu halten, also noch mehr Arbeit angeboten, so dass der Preis noch weiter sinkt ("Konkurrenzparadox"). Folglich wären Löhne, die sich an einem reinen Arbeitsmarkt bilden würden, immer zu niedrig. Darum ist die Festlegung angemessener Löhne Sache der Tarifparteien.
Dr. Florian Rödl
Florian Rödl ist Privatdozent an der Goethe-Universtität in Frankfurt am Main, u.a. für Arbeitsrecht und Rechtsphilosophie.
Warum ist das Streikrecht essentiell für die Tarifautonomie?
Arbeitsleistung wird in Vertragsform gegen Lohn getauscht. Eine Lohnerhöhung ist eine Vertragsänderung, der der Arbeitgeber zustimmen muss, und dazu ist er selten bereit. Die Löhne müssen aber Interner Link: nominell steigen, schon deswegen weil die Beschäftigten sonst aufgrund der Inflation stetige Reallohnverluste erleiden würden, das heißt sich für ihr Einkommen immer weniger leisten könnten. Die Löhne müssen zudem unter Fairnessgesichtspunkten steigen, weil die Produktivität stetig steigt und damit zugleich der durch die einzelne Arbeitsstunde geschaffene Wert, der zwischen Unternehmer und Beschäftigten zu teilen ist. Schließlich gründet auch der Sozialstaat darauf, dass die Lohnentwicklung mit Inflation und Produktivitätszuwachs mithält. Denn die gesetzlichen Sozialversicherungen (Rente, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflege) erhalten einen Anteil der Lohnsumme, und mit diesen Einnahmen müssen sie ihre stetig teurer werdenden Leistungen finanzieren.
Streik – das zentrale “Angriffsmittel" der Gewerkschaften
Die Gewerkschaften sind darum im Rahmen der Tarifautonomie ganz legitim in der Rolle der "Angreifer". Sie müssen den Arbeitgeber periodisch zu Lohnerhöhungen zwingen. Ihr zentrales Angriffsmittel ist der Streik. Nur auf Basis des Streikrechts können die ausgehandelten Löhne als angemessen gelten. Beim Streikrecht geht es also um nicht weniger als die Gerechtigkeit der Arbeitswelt und die Basis unserer Sozialstaatlichkeit. Bislang gibt es kein Gesetz, das die Ausübung des Streikrechts regelt. Das bedeutet nicht, dass es keinerlei Grenzen gäbe. Da sind zunächst ökonomische Grenzen. Fast keine Gewerkschaft streikt für Tarifabschlüsse, die absehbar zu massiven Arbeitsplatzverlusten in der eigenen Branche führen. Im öffentlichen Dienst ergibt sich die ökonomische Grenze aus den begrenzten Mitteln der öffentlichen Hand. Diese Grenze ist freilich weniger zwingend. Im Gegenzug erzeugt ein Streik dort aber auch deutlich weniger Druck, weil er beim öffentlichen Arbeitgeber unmittelbar nur zur Ersparnis der Personalkosten führt. Echter Druck entsteht in diesem Bereich erst durch die Belastungen der Nutznießer öffentlicher Dienstleistungen. Entscheidend für den Erfolg von Streiks im öffentlichen Dienst ist darum die Öffentlichkeit, in der Streikforderungen und -folgen intensiv diskutiert und bewertet werden. Bei ehemaligen Staatsunternehmen schließlich, wie Post, Bahn oder Lufthansa, kommen beide Restriktionen zum Tragen: Ökonomie und Öffentlichkeit.
Das Streikrecht hat aber auch rechtliche Grenzen. Die hat die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in jahrzehntelanger Kleinarbeit gezogen und entwickelt sie ständig behutsam weiter. Eine wichtige Maßgabe liefert das "Verhältnismäßigkeitsprinzip". Es besagt, dass die Mittel bzw. möglichen Folgen eines Streiks nicht außer Verhältnis zu den Zielen stehen dürfen. Dabei kommt es beim Verhältnismäßigkeitsprinzip, und das ist insoweit seine Stärke, immer auf den einzelnen Streik und dessen Kontext an. In der bisherigen Praxis indessen haben die Gewerkschaften das Verhältnismäßigkeitsprinzip noch fast immer eingehalten.
Eine Einschränkung des Streikrechts hätte fatale Folgen
Wer vor diesem Hintergrund für eine gesetzliche Regelung des Streikrechts wirbt, der ist mit der Rechtsprechung nicht einverstanden und will sie zulasten der Gewerkschaften korrigieren. Diskutiert wird schon seit Längerem eine Einschränkung für den Bereich der "Daseinsvorsorge". Der Begriff "Daseinsvorsorge" wird dabei schon grotesk weit gespannt: selbst private Banken, Energiewirtschaft und Telekommunikation sollen dazu gehören. Streiks in diesen Sektoren sollen mit schweren Restriktionen belegt werden: Ein Streik muss mit Vorlauf angekündigt werden. Die Dauer muss vorher festgelegt werden. Jeder Streik setzt eine Einigung zwischen den Tarifparteien darüber voraus, welche Leistungen der Daseinsvorsorge auch während des Streiks erbracht werden. Kommt keine Einigung zustande, muss darüber in einem gesonderten Verfahren vor einer besonderen "Einigungsstelle" entschieden werden. Die Urabstimmung über den Streik ist nur noch wirksam, wenn 50 Prozent der betroffenen Mitglieder teilgenommen haben. Jedem Streik muss ein Schlichtungsverfahren vorgeschaltet werden.
Unter diesen Bedingungen ist ein erfolgreicher Arbeitskampf seitens der Gewerkschaften kaum mehr zu führen. Einerseits lassen sich die eigentlichen Belastungen und damit der Druck auf den Arbeitgeber so auf ein Minimum reduzieren. Zusätzlich kann der Arbeitgeber die gewerkschaftliche Kampfdynamik empfindlich stören, indem er das Verfahren zur Einigung über eine Grundversorgung oder das obligatorische Schlichtungsverfahren in die Länge zieht.
Notwendige Folgen dieser Schwächung gewerkschaftlicher Kampfkraft wären ein weitgehender Stillstand der Lohnentwicklung und damit verbunden ein stetiges Absinken der Reallöhne der Beschäftigen in den betroffenen Zweigen. Wer also in der "Daseinsvorsorge" das Streikrecht einschränken will, arbeitet zugleich an einer Senkung der Reallöhne etwa für Krankenschwestern und Erzieherinnen. Mit welchem Recht? Sind deren Gehälter gegenwärtig etwa zu hoch? Über diesen Aspekt wird von den Protagonisten einer Einschränkung regelmäßig geschwiegen. Ins Feld geführt werden immer nur angeblich exorbitante Lohnzuwächse bei Piloten oder Lokführern. Die geforderte Einschränkung des Streikrechts in der Daseinsvorsorge zielt aber eben nicht nur auf diese beiden Gruppen. Außerdem sind die Abschlüsse selbst dieser Gruppen vielleicht gar nicht so exorbitant.
Lästig ist effektiv
Was ist an der gegenwärtigen Rechtslage korrekturbedürftig? Einige warnen vor sterbenden Patienten wegen streikender Ärzte oder ausbrennenden Häusern wegen streikender Berufsfeuerwehren. Aber davon hat man in der Realität noch nichts gehört, und das ist kein erstaunlicher Zufall. Andere finden es nicht in Ordnung, dass die Arbeitsgerichte sich weigern, der Lästigkeit von Streiks bei Bahn, Kitas und Müllabfuhr im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ein großes Gewicht zu geben. Aber damit liegen die Arbeitsgerichte eben ganz richtig: über diese Lästigkeit wird der Streik in diesen Bereichen überhaupt nur effektiv, weil ihm regelmäßig das in der Privatwirtschaft maßgebliche Moment unmittelbar ökonomischen Drucks fehlt. Die Lästigkeit gehört hier also zur Funktionsbedingung des Streikrechts. Die Funktionsbedingung eines Streiks aber kann ihn nicht zugleich unverhältnismäßig machen.
Zusammengefasst: Die Einschränkung des Streikrechts in der "Daseinsvorsorge" führt für die riesige Gruppe der betroffenen Beschäftigten zu Reallohnverlust und zur Abkopplung von der übrigen Lohnentwicklung. Dafür gibt es keine Legitimation. In der Daseinsvorsorge wird nicht auf breiter Front zu viel verdient. Und die Belastung Außenstehender ist nicht vermeidbare Nebenfolge, sondern Funktionsbedingung des Streikrechts in diesem Bereich. Ein solcher Einschlag in die Gerechtigkeit der Arbeitswelt und die Basis der Sozialstaatlichkeit ist darum strikt abzulehnen.