In den letzten Jahren erleben wir bemerkenswerte Veränderungen in der Praxis der Arbeitskämpfe. Bis in die 1980er Jahre hinein fanden Streiks in Deutschland vorwiegend in der Güter produzierenden Wirtschaft statt – erinnert sei beispielsweise an den mehrwöchigen Arbeitskampf in der Metallindustrie um die Einführung der 35-Stunden-Woche im Jahr 1984. Solche Arbeitskämpfe in der industriellen Fertigung hat es seither praktisch nicht mehr in nennenswertem Umfang gegeben. Die betroffenen Unternehmen stehen im globalen Wettbewerb und können sich Arbeitskämpfe nicht mehr "leisten".
Das wissen auch die hier zuständigen Industriegewerkschaften wie IG Metall und IG BCE (Bergbau, Chemie, Energie). Das hohe Lohnniveau in diesen Branchen kann nur gehalten werden, wenn deutsche Unternehmen erfolgreich für den globalisierten Weltmarkt produzieren können. Damit vertragen sich Umsatzeinbußen und der Verlust von Marktanteilen aufgrund von Streiks und Aussperrungen nicht. Hier sorgt der globalisierte Wettbewerb für eine gewisse Mäßigung der Lohnforderungen der Gewerkschaften und für die Kompromissbereitschaft sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerseite.
Neue Bedingungen erfordern neue Regeln
Anders ist dies dagegen bei den zumeist standortgebundenen Dienstleistungen. Wir erleben derzeit Arbeitskämpfe bei der Bahn, in Kindertagesstätten, bei der Post. Alle davon betroffenen Unternehmen stehen nicht in gleichem Maße im globalisierten Wettbewerb wie die für den Weltmarkt produzierende Industrie. Die Bereiche, in denen wir derzeit Arbeitskämpfe erleben, zeichnen sich durch mehrere Besonderheiten aus. Erstens: Es handelt sich um Teilbereiche der Infrastruktur der Volkswirtschaft. Hier treffen die Auswirkungen eines Streiks weniger den unmittelbaren Arbeitgeber, sondern primär die Öffentlichkeit, die auf die jeweiligen Infrastrukturdienstleistungen angewiesen ist. Damit eng verknüpft ist zweitens: Die Öffentlichkeit kann nur ganz eingeschränkt auf die Leistungen verzichten oder sich nur unter sehr erschwerten Bedingungen anderweitig versorgen. Signifikant ist dies beispielsweise bei der Bahn oder bei den Kindertagesstätten. Drittens: Es handelt sich vielfach um Bereiche – etwa Post und Bahn –, die früher dem öffentlichen Dienst zugewiesen waren oder heute noch sind, und teilweise um Tätigkeiten, die früher von nicht zum Streik berechtigten Beamten erbracht wurden. Die Privatisierung in den 1990er Jahren hat diese Unternehmen den allgemeinen Spielregeln der Güter- und Arbeitsmärkte unterworfen. Dabei wurde aber nicht beachtet, dass für die dort tätigen Mitarbeiter die allgemeinen Regeln des Arbeitsrechts und damit auch das Streikrecht gelten. Viertens: Vielfach handelt es sich trotz Privatisierung noch um Unternehmen, die ganz oder teilweise staatlicher oder kommunaler Kontrolle unterliegen. Damit sind die tariflichen Lohnforderungen der Gewerkschaften stets auch an die Politik gerichtet. Diese folgt anderen Entscheidungsparametern als die private Wirtschaft und kann letztlich betriebswirtschaftlich unvertretbare Lohnerhöhungen durch Steuererhöhungen und/oder Staatsverschuldung leichter kompensieren.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist gescheitert
Das geltende Streikrecht trägt diesen Besonderheiten nicht mehr hinreichend Rechnung. Es ist gesetzlich überhaupt nicht geregelt, sondern beruht auf der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Dieses hat über mehrere Jahrzehnte versucht, das Streikrecht mit Hilfe eines allgemeinen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit inhaltlich zu begrenzen, um die gegenläufigen Interessen von Arbeitnehmern, Arbeitgebern, deren Verbände und der Öffentlichkeit möglichst schonend auszugleichen. Der Versuch ist gescheitert, weil der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit keine sachgerechten und konkreten Maßstäbe für die Beurteilung der Zulässigkeit von Arbeitskämpfen zu liefern vermag. Mittlerweile gilt der Grundsatz: Ein Streik ist verhältnismäßig, wenn die zum Streik aufrufende Gewerkschaft ihn für verhältnismäßig hält. Damit werden aber die Interessen der Arbeitgeberseite und vor allem der Öffentlichkeit nicht mehr hinreichend abgebildet.
Streik braucht klare Regeln
Aus diesen Gründen sollte der Gesetzgeber dem Streikrecht gewisse "Leitplanken" einziehen – und zwar vor allem dort, wo die Öffentlichkeit besonders betroffen ist: In den skizzierten Bereichen, welche die Infrastruktur der Volkswirtschaft sicherstellen, insbesondere Verkehr, Kommunikation, medizinische Versorgung, Entsorgung, Bildung. Zu solchen Regelungen gehört zuerst eine Pflicht der Gewerkschaft, einen Streik und dessen Dauer rechtzeitig anzukündigen, damit sich die betroffene Öffentlichkeit darauf einstellen kann. Diese Frist beträgt beispielsweise in Frankreich und Italien fünf und in Spanien sogar zehn Tage. Ferner ist an eine verbindliche Schlichtung zu denken. Es soll erst dann gestreikt werden dürfen, wenn der Vermittlungsvorschlag neutraler Schlichter von einer der beiden Seiten – Arbeitgeber oder Arbeitnehmer – abgelehnt wurde. Weitere Elemente könnten ein verbindliches Urabstimmungsverfahren sowie die Verpflichtung zur Aufrechterhaltung einer Grundversorgung für die Bevölkerung sein. Vieles von dem beachten die Gewerkschaften bereits heute - allerdings nur auf freiwilliger Basis und ohne rechtliche Verpflichtung. Entsprechend unsicher ist die Einhaltung solcher Regeln. So hat beispielsweise die Gewerkschaft der Lokomotivführer Streiks bei der Bahn häufig mit zu kurzer Frist angekündigt, was zu erheblichen Unannehmlichkeiten der Reisenden führte. Die genannten Vorschläge schaffen das Streikrecht nicht ab. Das will niemand; es wäre auch verfassungs- und völkerrechtswidrig. Vielmehr bilden die Vorschläge einen sachgerechten Rahmen, damit den Interessen der vom Streik betroffenen Öffentlichkeit auf den genannten Gebieten der Infrastruktur besser als bislang Rechnung getragen werden kann.