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Sterbehilfe – keine neue Herausforderung

Prof. Dr. Dr. Michael Stolberg

/ 3 Minuten zu lesen

Das Bemühen um eine gute palliative Versorgung Todkranker und Sterbender ist Jahrhunderte alt. Bereits um 1800 ließen die Leiden der Kranken die Forderung nach deren gezielter Verkürzung laut werden. Der Medizinhistoriker Prof. Dr. Michael Stolberg blickt bei Netzdebatte auf die Geschichte der Sterbehilfe.

Bereits im 19. Jahrhundert bemühte man sich darum, die schmerzlindernde Medizin zu fördern (© picture-alliance)

Der angemessene Umgang mit den Leiden und den Sterbewünschen von todkranken Menschen wird oft als eine spezifisch neue Herausforderung beschrieben. Erst die moderne Medizin mit ihren Möglichkeiten der Lebensverlängerung und die dramatisch gestiegene Lebenserwartung hätten diese Fragen aufgeworfen. Doch schon ein kurzer Blick in die überlieferten Berichte und Erzählungen von Ärzten und Angehörigen aus vergangenen Jahrhunderten ergibt ein ganz anderes Bild. Vor allem die "Schwindsucht" – dahinter verbargen sich wohl vor allem Tuberkulose und innere Krebsleiden – sowie die "Wassersucht" – mögliche Folge von chronischem Leber-, Nieren- oder Herzversagen – waren bereits bei jüngeren Menschen gefürchtet. Dazu kam bei Älteren vermehrt jene Krankheit, die als die grauenvollste von allen geschildert wurde, der "Krebs", damals vor allem als Krebsgeschwür von Brust oder Gebärmutter diagnostiziert. Das Sterben dieser Menschen war nicht selten qualvoll, ihr Anblick für die Mitwelt schwer zu ertragen. Wenn Kranke immer schwächer oder "baufällig" wurden, wie man damals sagte, und zusehends verfielen, so war das noch ein vergleichsweise gnädiger Verlauf. Manche Patient/-innen, das wissen wir aus überlieferten Schilderungen der Angehörigen, wanden sich wochenlang in schlimmsten Schmerzen, ihre Schreie gellten Tag und Nacht durch das Haus. Andere bekamen immer schlechter Luft und erstickten schließlich langsam und qualvoll röchelnd. Krebskranke verbreiteten zuweilen einen derart unerträglichen Gestank, dass sich selbst Angehörige und Ärzte kaum mehr in die Krankenstube wagten.

"Cura palliativa" und "Euthanasia medica"

In vielerlei Hinsicht stellte der Umgang mit Todkranken und Sterbenden die Ärzte, Pflegenden und Angehörigen in früheren Jahrhunderten oft noch vor weit größere Herausforderungen als heute – gerade aufgrund der begrenzten Möglichkeiten der damaligen Medizin. Das Bemühen der Ärzte, mit allerlei Arzneien oder Aderlässen noch eine Wendung herbeizuführen, war regelmäßig zum Scheitern verurteilt. Im ärztlichen Schrifttum wurde denn auch seit dem Mittelalter eine alternative Form der Behandlung diskutiert und gefordert, die sogenannte "cura palliativa". Sie zielte nicht auf die eigentliche Krankheit und deren Ursachen, sondern auf die Linderung der Beschwerden. Speziell im Hinblick auf die Behandlung von Todkranken und Sterbenden sprach man seit dem 17. Jahrhundert auch von einer "euthanasia palliativa" oder "euthanasia medica" – im Wortsinn heißt "euthanasia" einfach "guter Tod". Dutzende von Beiträgen und Dissertationen zur "medizinischen Euthanasie" gaben nun detaillierte Empfehlungen zur Behandlung der quälenden Beschwerden und sie räumten auch pflegerischen Maßnahmen breiten Raum ein. Dazu gehörte unter anderem die Sorge um gute Lagerung, saubere Luft, kühle Getränke und leicht verträgliche Nahrung. Man riet, wenn nötig, Mund und Rachen zu befeuchten, und pries die wohltuende Wirkung von angenehmer Gesellschaft, von Musik, Bildern und Skulpturen. Erst seit etwa 1850 geriet diese gerade in Deutschland sehr wirkmächtige Tradition unter dem Einfluss eines neuen medizinischen Fortschrittsoptimismus wieder weitgehend in Vergessenheit. Bis zur "Wiederentdeckung" der Palliativmedizin in den 1960er Jahren wurde der tödliche Ausgang eher als Ausdruck ärztlichen Scheiterns verstanden, denn als Folge des unausweichlichen Verlaufs und der naturgegebenen Sterblichkeit des Menschen.

Leidensverkürzung

Kaum diskutierbar war lange Zeit die Frage, ob es den Ärzte oder den Kranken im Einzelfall erlaubt sein könnte, das Leiden gezielt zu verkürzen. Man musste Gottes unergründlichen Ratschluss akzeptieren. Er strafte oder prüfte die Menschen durch schwere Krankheit und er setzte das letzte Stündlein fest. Unter dem Einfluss des aufklärerischen Humanismus änderte sich die Einstellung jedoch langsam. Zunächst wuchs das Verständnis für den krankheitsbedingten Suizid, selbst in kirchlichen Kreisen. Um 1800 finden wir dann erstmals einen Arzt wie Carl Theodor Kortum, der aus seiner persönlichen Erfahrung mit schwer schwindsüchtigen Metallarbeitern heraus öffentlich erklärte, dass es in bestimmten Fällen moralisch gerechtfertigt sei, die Todesqualen eines Kranken, beispielsweise mit überhöhten Dosen von Opium, gezielt zu verkürzen. Das waren zunächst nur ganz vereinzelte Stimmen. Andere Ärzte setzten dagegen, der Arzt werde zum gefährlichsten Mann im Staat, wenn er sich anmaße, über Wert und Unwert eines Lebens zu entscheiden. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert – zu einer Zeit also, in der das ärztliche Interesse an der palliativen Behandlung Todkranker weitgehend in den Hintergrund getreten war – wurden, zunächst vor allem von Laien getragen, auf breiterer Ebene Forderungen nach einer Freigabe der Tötung auf Verlangen laut. Unter verschleiernden Begriffen wie "Euthanasie" und "Gnadentod" sollten sie schließlich in der Zeit des Nationalsozialismus auf die massenhafte Ermordung von Kranken umgemünzt werden, die keineswegs nach diesem Tod verlangten.

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Michael Stolberg, Medizinhistoriker und Inhaber des Lehrstuhls für Medizingeschichte der Universität Würzburg, beschäftigt sich als Autor und Wissenschaftler mit der Geschichte von Palliativmedizin und Medizinischer Ethik.