Wenn alle Daten unabhängig von Absender, Empfänger und Inhalt gleich behandelt werden, spricht man von Netzneutralität. An diesem Prinzip (auch best-effort genannt) wird zurzeit gerüttelt - mit massiven Konsequenzen für das Internet und unsere Gesellschaft. In Europa und den USA tobt ein Kampf um Online-Überholspuren, auch Spezialdienste, oder Managed Services genannt. Gewinnen ihn die Befürworter eines ungleichen Netzes, so finden sich die Verbraucher/-innen bald in einem Tarifdschungel wieder, in dem sie für beliebte Dienste, die heute noch über das offene Internet genutzt werden können, jeweils gesonderte Zusatzpakete kaufen müssen. Gleichzeitig wird der Bildung von Monopolen Vorschub geleistet und der Fortschritt im Netz blockiert. Große Anbieter können sich die Überholspuren im Netz leisten, während weniger finanzstarke Start-Ups das Nachsehen haben. Innovation und Kreativität würden damit also gebührenpflichtig.
Zögerliche Entscheidungen und unklare Definitionen
Seit 2010 bekleidet die Niederländerin Neelie Kroes das Amt der Kommissarin für die Digitale Agenda der Europäischen Union. Bereits ebenso lange kündigt sie an, Regelungen zur Wahrung der Netzneutralität vorzuschlagen, um Verbraucher/-innen zu schützen sowie die Gleichberechtigung aller Marktteilnehmer zu garantieren. Nach jahrelangen Diskussionen und etlichen Konsultationsverfahren präsentierte sie am 11. September vergangenen Jahres ihren Entwurf einer entsprechenden EU-Verordnung. Entgegen ihrer Ankündigung bereitete Frau Kroes damit jedoch den Boden für ein Zwei-Klassen-Netz, statt die Netzneutralität wirksam festzuschreiben. Das Europäische Parlament hat den Entwurf zwar in Rekordzeit bearbeitet und entscheidende Externer Link: Verbesserungen eingebracht (der Datenverkehr darf z.B. nicht zugunsten sog. "Spezialdienste" gedrosselt werden), ohne dabei die Gefahren eines Zwei-Klassen-Netzes jedoch vollständig zu eliminieren. Noch immer sind sogenannte "Spezialdienste" erlaubt und ihr rechtlicher Rahmen sehr Externer Link: unscharf definiert. Dies führt dazu, dass Dienste wie Youtube oder Skype aus dem offenen Netz ausgelagert und nur noch über kostenpflichtige Spezialdienste angeboten werden können.
Schlupflöcher schließen und den Ausbau vorantreiben
Während der Umfang des Datenverkehrs im Internet ständig zunimmt, werden die dafür zur Verfügung stehenden Bandbreiten fortlaufend knapper. Über kurz oder lang wird es somit zu Engpässen im offenen Internet kommen, was es für bandbreitenintensive Dienste untauglich macht. Einmal etabliert könnte die Sonderbehandlung gewisser, datenintensiver Dienste im Netz auch dazu führen, dass im Zuge dessen kleine Anbieter und Start-Ups vom Markt verdrängt werden, während Verbraucherinnen und Verbraucher diese "Spezialdienste" zum normalen Internettarif hinzubuchen müssen und doppelt zur Kasse gebeten werden. Eine Vorstufe dazu ist z.B. die von der Telekom angebotene Zusatzoption für Spotify-Nutzer. Für einen monatlichen Aufpreis kann der Musikdienst genutzt werden, ohne das begrenzte Datenvolumen des Nutzers zu beeinträchtigen. Wer ein offenes und freies Netz will muss also durch klare Definitionen verhindern, dass Dienste aus dem offenen Netz in das Spezialnetz auswandern können und parallel dazu für einen zeitgemäßen Breitbandausbau sorgen. Nach dem Votum des EU-Parlaments müssen nun noch die Mitgliedstaaten im Ministerrat ihre Vorschläge einbringen. Um die Netzneutralität nachhaltig zu schützen, sind sie nun dazu aufgerufen, die verbleibenden Schlupflöcher zu schließen. Wann und ob dies passiert, ist allerdings völlig offen. Klar ist nur: Die Debatte in Europa ist noch lange nicht beendet und das Thema Netzneutralität bleibt hart umkämpft.
Vor allem Streamingdienste wie YouTube beanspruchen einen immer größeren Teil des Verkehrs im Netz. Ohne garantierte Netznezutralität fürchten viele, dass wir in Zukunft für ihre Nutzung zur Kasse gebeten werden
Eine schnelle Lösung gegen mögliche Hintertüren
Dabei ist eine schnelle Lösung anzustreben, auch in Anbetracht der Verhandlungen um das umstrittene transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU. Bislang sind darin geheim tagende und mit Wirtschaftsanwälten besetzte Schiedsgerichte vorgesehen, vor denen Unternehmen gegen Gesetze klagen können, die ihre Investitionen gefährden. Da das Verhandlungsmandat sich auch auf die gesetzlichen Pflichten von Telekommunikationsunternehmen erstreckt, könnten die europäischen Regeln zum Schutz der Netzneutralität so auf völlig undemokratischem Weg gekippt werden. US-Unternehmen könnten also gegen die womöglich festgeschriebene Netzneutralität klagen, wenn sie sich dadurch benachteiligt sehen. Diese Gefahr besteht nicht nur in der Theorie. Die amerikanische Telekommunikationsbehörde FCC (Federal Communications Committee) stimme jüngst einer – zumindest teilweisen – Abschaffung der Netzneutralität zu. Serviceprovidern wie Verizon oder AT&T ist es von nun an erlaubt, für bestimmte Inhalte (vor allem solche mit hohem Datenaufkommen wie der Video-on-Demand Service Netflix) einen Aufpreis zu verlangen. Kommt es also zum Abschluss von TTIP, bevor in Europa eine Reglung gefunden wurde, so könnten multinationale Provider die mühsam erkämpfte EU-Gesetzgebung zur Netzneutralität mit Hinweis auf die laxeren US-Regeln im Klageweg beseitigen.
Ein offenes und diskriminierungsfreies Internet wird es in Zukunft daher nur geben, wenn die EU zügig klare und starke Regeln zum Schutz der Netzneutralität verabschiedet.