Netzdebatte: Der Begriff Big Data ist zurzeit emotional sehr aufgeladen und mit Ängsten behaftet. Handelt es sich bei der Debatte um ein klassisches Beispiel von "viel Lärm um nichts"?
Thomas Dapp: Ich befürchte der Lärm ist nicht ganz unberechtigt und zum Teil nachvollziehbar. Zum einen bietet Big Data, also die Verwendung und Kombination von unterschiedlichen Datensätzen, eine Quelle für Innovation, Kreativität sowie "Out-of-the-box-Denken" und kann idealerweise in neue Geschäftsideen, Produkte oder Dienstleistungen münden. Zum anderen machen sich viele Menschen auch berechtigt Sorgen, weil ihre eigene Datenhoheit verloren gehen kann, denn unterschiedliche Akteure verwenden die persönlichen Daten der Menschen für unterschiedliche Zwecke, ohne sich dafür das Einverständnis oder die Erlaubnis einzuholen. Damit zahlen die Menschen einen hohen Preis für ihre Daten.
Ist Big Data möglicherweise nur ein Buzzword der Wirtschaft? Wie schätzen Sie den tatsächlichen wirtschaftlichen Nutzen, bzw. das Potential von Big Data ein?
Big Data ist mehr als nur ein Buzzword, und die oft diskutierten kommerziellen Absichten der Wirtschaft. Es öffnet vor allem den Raum für Experimente, Innovation und Kreativität im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien. Es bietet einen reichen Fundus an neuen möglichen Datenkombinationen und steht somit auch für die Entdeckung ungeahnter Zusammenhänge für Themenbereiche aus der Wissenschaft (z.B. Medizin), der Politik (z.B. Open Government), der Gesellschaft oder der Kultur.
Obwohl wir uns erst am Anfang der Big-Data-Entwicklung befinden, nähern wir uns mit moderner Technologie und Methodik langfristig einem Zustand, bei dem menschliche Eigenschaften und Handlungen zunehmend messbar gemacht werden können. Das bedeutet, dass Daten in eine maschinenlesbare Form gebracht werden können, um sie gegebenenfalls (mit anderen Datensätzen) zu kombinieren und auszuwerten. Durch die Möglichkeiten der Sensorik sowie durch biometrische Erkennungsverfahren (z.B. das Erkennen von Fingerabdrücken oder von Sprache) nähern wir uns dem seit Menschheitsgedenken bestehenden Wunsch, die Welt und die darin lebenden Individuen zu quantifizieren. Damit kommen wir aber auch den Visionen der humanoiden Robotik und der künstlichen, lernfähigen Intelligenz näher, wie sie bereits in vielen Science-Fiction-Filmen wie z.B. Star Trek oder Iron Man vorgestellt wurden und auch für die Massenmärkte Realität werden könnten.
Big Data ist bereits jetzt Realität, wo geht der Trend in Zukunft hin?
Zu den dominanten Treibern zählen sicherlich der flächendeckende digitale Strukturwandel bei Infrastrukturen in den Bereichen Energie, Gesundheit, Verkehr, Bildung oder der öffentlichen Verwaltung sowie die zunehmende private und berufliche Nutzung mobiler, web-basierter Endgeräte. Sei es beim Surfen im Internet, wo rund um die Uhr einzelne Klicks der Nutzer mit Hilfe von Tracking-Software verfolgt und gespeichert werden, oder bei der Erfassung von Orts- und Bewegungsmustern über Infrarot oder Wireless-Technologien (z.B. NFC [Near Field Communication]).
Der digitale Strukturwandel als Haupttreiber für Big Data bietet insbesondere für die Sensorik sowie die Biometrie als essentielle Schlüsseltechnologien ein enormes experimentierfreudiges und lukratives Einsatzgebiet. Diese Technologien haben quasi die Funktion eines Turboladers im Bereich Big Data, weil Sensoren an immer mehr alltäglichen Gegenständen, Maschinen oder sonstigen Objekten angebracht werden. Mittlerweile befindet sich z.B. eine Vielzahl diverser Sensoren in jedem Smartphone oder Tablet. Immer mehr Nutzer kommen auf diesem Wege mit der Sensortechnologie oder der Messung individueller Körpermerkmale in Verbindung. In diesem Bereich befinden wir uns erst in einem relativ frühen Stadium an Möglichkeiten und Entwicklungen.
Frank Schirrmacher spricht von Big Data als "ungezähmtes Tier". Wer sollte es zähmen und welche Verlierer könnte es dabei geben?
Die Zähmung wird wohl die Regulierung, also die Politik, in Angriff nehmen müssen, weil der Markt in diesem jungen Technologiebereich keine adäquaten Lösungen anbieten wird. Die kommerziellen Interessen vieler Akteure im Markt sind zu dominant, sodass es zu marktverzerrenden Effekten kommen kann. Big Data wird die Struktur bestehender Wirtschaftszweige verändern, weil neue Wettbewerbskonstellationen entstehen. Viele etablierte Geschäftsmodelle werden durch den digitalen Strukturwandel aus den Angeln gehoben und bekommen in ihren jeweiligen Branchen künftig mehr Konkurrenz von branchenfremden Unternehmen, die sich auf Produkte und Dienste im Bereich web-basierter Informations- und Kommunikationstechnologien bzw. auf die Analyse von Daten spezialisiert haben. Zudem werden neue Berufszweige entstehen, wie Datenanalysespezialisten oder Algorithmiker. Insbesondere breiten sich Start-Ups und Nischenanbieter aus, die sich auf die Auswertung und Analyse unterschiedlicher, teils öffentlich zugänglicher Daten spezialisieren und daraus Produkte und Dienste kreieren. Dadurch erhöhen sie aber auch den Druck auf etablierte Geschäftsmodelle. Im idealen Fall profitieren am Ende sowohl die Konsumenten und Bürger, aber auch die Anbieter moderner Analysetechnologien.
Juli Zeh wiederum spricht davon, dass wir noch nicht das ethische und moralische Rüstzeug besitzen, um mit Voraussagen über die Zukunft verantwortungsvoll umzugehen. Inwiefern können wir uns heute überhaupt schon eine Vorstellung davon machen, wozu Big Data in Zukunft in der Lage sein wird?
Mit den moralischen und ethischen Aspekten im Bereich Big Data beschäftigen sich bereits Ethikräte und Verbraucherschutzverbände. Aber aus innovations- und wirtschaftspolitischer Sicht kann ich nur mit Besorgnis bestätigen, mit welcher Ohnmacht viele Entscheidungsträger, aber auch viele Internetnutzer zusehen, wie sich das Internet allmählich in eine Spielwiese wandelt, in der die Regeln von nur noch wenigen marktdominierenden Akteuren gemacht werden. Sie umzäunen ihre schönen und viel genutzten Gärten und bestimmen für große Teile der Internetnutzer den Innovations- bzw. Technologiekurs. Ein von vielen erhoffte Bürgersouveränität im Netz sieht wahrlich anders aus. Die Diskussion wird zusätzlich angeheizt durch die seit Sommer 2013 veröffentlichten Snowden-Dokumente zur Datensammelpraxis vieler Geheimdienste.
Bei all den Wachstumschancen, die das Internet mit sich bringt, werden damit einhergehende Risiken und Probleme vor allem bezüglich des Datenschutzes und potenziellen Datenmissbrauchs gerne ausgeblendet. Insbesondere in die neuen, hochgehandelten Algorithmen zur Reduzierung von Komplexitäten oder zur Erstellung von Berechenbarkeitsanalysen werden hohe Erwartungen gesteckt. Die Realität zeigt jedoch, dass Fragen hinsichtlich dahinterliegender Interessen, Machtverhältnisse, ethische und moralische Gesichtspunkte, Kontrolle, Rechte und Pflichten oftmals nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Die Gefahr liegt meines Erachtens darin, dass das Misstrauen vieler Internetnutzer steigt und die Bereitschaft, sich unbehelligt (oder ungeschützt) in digitalen Kanälen aufzuhalten, allmählich sinken könnte. Die Konsequenz ist ein sich allmählich anpassendes, veränderntes Mediennutzungs- und Konsumverhalten vieler Internetnutzer. Der volkswirtschaftliche Schaden könnte branchenübergreifend und für alle Anbieter web-basierter Technologien spürbar werden. Denn die größten Hürden für jede neu in den Markt eintretende Technologie sind mangelnde Akzeptanz und sinkendes Vertrauen der Nutzer. Letzteres ist bereits angekratzt.
Welche politischen Instrumente, Schritte oder Bemühungen braucht es Ihres Erachtens nach, um einen gewissenhaften Umgang mit Daten zu gewährleisten?
Kommerziell und informationstechnologisch mag die Big-Data-Debatte bereits eine Grundlage haben. Jetzt geht es darum, die zentralen grundrechtlichen und auf Freiheit basierenden Datenschutzaspekte sowie die eventuell drohenden wettbewerbsverzerrenden Effekte durch die digitalen Ökosysteme zu diskutieren. Letzteres spielt vor allem deshalb eine Rolle, weil die bereinigenden Marktkonsolidierungen in der digitalen Welt der großen Internetkonzerne sehr viel schneller vonstattengehen als in den meisten anderen Branchen. Entscheidungsträger aus den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik oder Bürgerrechtsinitiativen sind jetzt aufgefordert, die künftig notwendigen regulativen Rahmenbedingungen aktiv mitzugestalten. Insbesondere bei der Fragestellung, wie die datenschutzrechtliche Zweckbindung und die bereits praktizierten Big-Data-Methoden in Einklang gebracht werden können.
Wie bei jeder neuen und (r)evolutionären Bewegung eröffnen sich Chancen, aber auch Risiken. Aus deutscher bzw. europäischer Perspektive sollten aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit jetzt günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die Potenziale der Big-Data-Bewegung zu stimulieren. Gleichzeitig müssen unverhältnismäßige und rechtlich sowie moralisch fragwürdige Praktiken des Datenmissbrauchs durch europäische, idealerweise über Europa hinaus geltende datenschutzrechtliche Bestimmungen eingeschränkt werden. Die Herausforderungen liegen mitunter darin, einen Weg zu finden, moderne Technologien und Methoden nutzenstiftend in den Alltag der Menschen zu integrieren, ohne dass Freiheitsrechte und demokratische Leitlinien verletzt werden, Diskriminierungen oder Manipulationen stattfinden und die Angst der Menschen steigt, sich auf digitalen Kanälen aufzuhalten, weil unterschiedliche Akteure massenhaft private Daten ausspähen.
Die Studie zum Nachlesen gibt es Externer Link: hier