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Widerstand im Netz. Soziale Bewegungen von Seattle bis Occupy | Politische Teilhabe im Netz | bpb.de

Widerstand im Netz. Soziale Bewegungen von Seattle bis Occupy

Rainer Winter

/ 4 Minuten zu lesen

Im digitalen Raum lernen wir, wie wir gemeinsam für das bessere Leben kämpfen und unsere Wut in Hoffnung auf Veränderung wandeln können. Gedanken zum Widerstand im Netz von Rainer Winter, der an der Universität in Klagenfurt Medien- und Kulturtheorie lehrt.

Widerstand richtet sich oft gezielt gegen die Einschränkung des Internets, und damit gegen die Beschränkung der demokratischen Protest- und Organisationformen, die es bietet. (© Özgür Elbir via flickr.com (cc by-nc 2.0))

Ende des vorigen Jahrhunderts entstand der Eindruck, es gebe zur neoliberalen Gesellschaft keine Alternative. Die Ideologie des freien Marktes, die unaufhörlich in der Politik und den Medien verkündet wurde, schien sich endgültig durchgesetzt zu haben. Selbstsucht, Gier und Konkurrenzgeist waren sozial legitimierte Einstellungen und Antriebe einer ungezügelten Konzernwirtschaft, die den grenzenlosen Konsum propagierte. Wie es sich der österreichische Ökonom Friedrich von Hayek gewünscht hatte, wurde soziale Gerechtigkeit als gesellschaftlicher Wert immer mehr in den Hintergrund gedrängt.

Allmählich entstand aber - zunächst im globalen Süden - eine von vielen noch unbemerkte Gegenbewegung, die dann mit den Protesten und Mobilisierungen gegen die Treffen der WTO (,World Trade Organization‘) im November 1999 in Seattle spektakulär sichtbar wurde, weil auch in den Massenmedien intensiv über sie berichtet wurde. Sie trat für eine demokratisch gestaltete Globalisierung ein, die auf Kooperation, Inklusion, Transparenz und Partizipation aufbaut.

Das Erfolgsrezept: Lokal verankert, global und digital vernetzt

Der symbolisch erfolgreiche Widerstand gegen den Konzernkapitalismus fand nicht nur auf den Straßen statt, sondern vor allem mittels digitaler Technologien. So wurden z.B. die Aktionen der Aktivisten durch E-Mails organisiert. Außerdem wurde der Nachrichtendienst Indymedia ins Leben gerufen, der alternative Nachrichten und Informationen über die Proteste vermittelte. Weltweit solidarisierten sich mithilfe des Internets ungefähr 700 NGOs in 87 Ländern mit den Aktivist_innen in den Straßen von Seattle. Der Gebrauch neuer Technologien ließ ein transnationales Netzwerk entstehen, das wie die E-Mail-Listen der Aktivisten dezentral organisiert war.

Im folgenden Jahrzehnt gab es eine Fülle von Protesten gegen die von Konzernen bestimmte Globalisierung, die sich für eine demokratische Alternative einsetzten. Die Netzwerke der Aktivist_innen, die sich dabei herausbildeten, waren zugleich lokal verankert und mittels digitaler Technologien global vernetzt. Deren interaktiver Charakter fördert die Autonomie, den offenen Zugang und die horizontale Kooperation. So kann ein Protest problemlos ausgeweitet, über ihn beraten und seine Form modifiziert werden. Auf diese Weise können Widerstand, Partizipation und direkte Demokratie direkt erfahren, praktiziert und gelebt werden. Es wurde wieder möglich sich eine Welt vorzustellen, die nach den Idealen der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit organisiert war. Der von Politikern, Wissenschaftlern und Massenmedien propagierte kapitalistische Realismus ohne Alternative wurde grundlegend in Frage gestellt und bekämpft.

Von Teheran bis New York: Aus dem Netz auf die Straße

2009 kam es dann im Iran, nach der Wiederwahl von Mahmoud Ahmadinejad zum Präsidenten, auch zu Protesten in den Straßen von Teheran die digital vorbereitet wurden. Der darauf folgende gewaltsame Polizeieinsatz wurde über Blogs, Facebook, YouTube und Twitter öffentlich gemacht. Auch wenn daraufhin das Regime die sozialen Medien 'abschaltete', verbreiten sich die Bilder wie ein Virus. Zwischen 2009 und 2011 kam es zu weltweiten Protesten, demokratischen Revolten und sozialen Umstürzen, nachdem der Kapitalismus des freien Marktes fast zusammengebrochen war und zu einer globalen ökonomischen Krise geführt hatte. In Spanien, Griechenland, Tunesien, Ägypten, in London und an der Wall Street in New York formierten sich soziale Bewegungen, die für Autonomie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit kämpften. Sie nutzten intensiv die technologischen Innovationen der digitalen Ära. In der Regel begann der Protest in den digitalen Netzen und besetzte dann durch Demonstrationen und Kundgebungen öffentliche Plätze und wurde so im städtischen Raum sichtbar.

Die neuen sozialen Bewegungen der Gegenwart machen für ihren Widerstand also von den Freiheiten des Web 2.0, Gebrauch, müssen diesen aber auch symbolisch auf der Straße artikulieren, um die institutionelle Ordnung herauszufordern. Sie experimentieren mit digitalen Technologien, um ihre Ideale der Partizipation, der Gleichberechtigung und der radikalen Demokratie auszudrücken. Auf diese Weise entstehen Gegenöffentlichkeiten, die auf sozialen Netzwerken online und offline beruhen. Dabei haben die Bewegungen einen viralen Charakter, was vor allem Occupy gezeigt hat, das von New York ausgehend weltweit Räume des Protests hat entstehen lassen. Diese sind horizontal organisiert und schaffen durch gemeinsame Erfahrungen und Praktiken ein soziales Band, das wohl schnell zerreißen, aber potentiell immer wieder hergestellt werden kann. Der gesellschaftlich institutionalisierten Macht wird durch den (digitalen) Widerstand der neuen sozialen Bewegungen eine Gegenmacht entgegengestellt.

Es sind vor allem die demokratisch organisierten Netzwerke interaktiver und selbst gestalteter Kommunikation, die von Regierungen und Konzernen in ihrer Effektivität nur schwer eingeschätzt werden können und denen deshalb verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie das aktuelle Beispiel der Überwachung durch die NSA deutlich macht. Der Widerstand im Netz kann zur Entwicklung selbstständiger Netzwerke der Kommunikation führen, in denen gemeinsam neue Lebens- und Gesellschaftsentwürfe entwickelt und erprobt werden. Die angeführten Beispiele zeigen, dass jede und jeder daran mitwirken, solidarische Gemeinschaften schaffen sowie ihre oder seine Wut und Protest in Hoffnung auf Veränderung transformieren kann.

Rainer Winter

Rainer Winter ist Professor für Medien- und Kulturtheorie und Vorstand des Instituts für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Alpen-Adria Universität in Klagenfurt am Wörthersee (Österreich). 2010 veröffentlichte er "Widerstand im Netz. Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation“ (Bielefeld: transcript).

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