Wir sind Kunden, und Kunden sind wichtig. Deshalb werden wir auch die ganze Zeit gefragt, vor Shopping Centern, auf Einkaufsstraßen und natürlich beim digitalen Einkaufen im Internet: Die Marktforschung fragt uns ständig danach, was wir wollen und was wir vermissen, ob wir mit einem Kauf zufrieden sind und welche Kritik wir an Verkäufer, Ware und Ablauf haben. Seit das Interaktive mit dem Web zur neuen Normalität geworden ist, fühlt man sich als Kunde wie ein Bürger im permanenten Wahlkampf: Ständig laufen Leute herum und geloben Besserung. Wir sind Kunden, und wir sollen sagen, wie das geht. Man kann das Web 2.0 nennen, zum Beispiel, oder Kundenzentrierung – am Ende läuft es darauf hinaus, dass wir als Kunden heute schon bei der Planung und Gestaltung von Produkten, Dienstleistungen und Services eine größere Rolle spielen als unsere Vorfahren in der Geschichte der Konsumgesellschaft. Wir sollen mitmachen. Teilnehmen. Wir sind gefragt.
Das passt nicht nur gut zu den neuen interaktiven Medien, sondern zur Evolution der Demokratie in den westlichen Wohlstandsgesellschaften seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Konsumkapitalismus hat für die meisten Menschen eine Welt geschaffen, in der die grundlegenden materielle Bedürfnisse abgedeckt werden. Seit den 1960er Jahren ist der Drang zu mehr Mitbestimmung in allen gesellschaftlichen und politischen Fragen unübersehbar. Das ist die unmittelbare Folge der materiellen Höhenflüge, die in der späten Phase des Industriekapitalismus geschaffen wurden. Nach dem Fressen kommt die Moral – und Moral bedeutet hier soviel wie der Anspruch, nicht bloß zum reinen Verbraucher degradiert zu werden, sondern seine Rolle in den Märkten selbst zu definieren. Das ist ja auch in der Politik so: Immer mehr persönliche und kleinteilige Interessen erodieren die großen Parteien und Interessensverbände. Unter deren Hut passt kaum noch ein Bürger. Für diese neue Vielheit der Stimmen in Gesellschaft und Gemeinwesen hat sich der Begriff Zivilgesellschaft durchgesetzt. Zivilgesellschaft ist, wenn aus politischen Konsumenten, aus Verbrauchern und Schutzbefohlenen mündige Bürger werden, die ihre Angelegenheiten zunehmend selbst in die Hand nehmen. All das beginnt mit immer mehr Forderungen an die alten Institutionen, Politiker wissen, wovon die Rede ist. Parallel dazu politisiert sich nun auch das Marktgeschehen: Immer mehr Kunden verlangen Transparenz über Produktionsbedingungen und fragen nach, unter welchen Arbeits- und Umweltbedingungen ihre Waren entstehen. In den Unternehmen selbst steigen Wissensarbeiter immer höher auf, erhalten mehr Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten. Das alles ereignet sich ständig und so selbstverständlich, dass es leicht zu übersehen ist. Die Wissensgesellschaft hat die alte hierarchische Industriegesellschaft weitgehend ersetzt. Das Bewusstsein hinkt hinterher. Das liegt auch daran, dass die Geistes- und Medieneliten ein getrübtes Verhältnis zur Ökonomie haben. Antikapitalismus ist wohlfeil, die Aufforderung, die Märkte mitzugestalten, gilt hingegen immer noch als naiv, aussichtslos oder gar unschicklich. Dabei gilt für die Wirtschaft, was auch für die Politik gelten sollte: Teilhabe ohne Teilnahme ist nicht viel wert. Doch keine Sorge: In der Zivilgesellschaft wird sich ein Zivilkapitalismus durchsetzen. Er baut auf einer neuen Mündigkeit der Bürger auch in materiellen Fragen, der umso unabhängiger ist, desto mehr er „seine Ökonomie“ selbst bestimmen kann. Zivilkapitalismus ist eine weitere Stufe der Aufklärung – und zwar diesmal jener in wirtschaftlichen Lebensfragen.
Es gibt kein Zurück
Nicht einige wenige Eigentümer oder Manager entscheiden mit einigen wenigen Politikern und Funktionären darüber, wie Ökonomie und Gesellschaft gestaltet werden, sondern die Märkte selbst, die aus mündigen Bürgern bestehen.
Die Zukunft gehört dem Zivilkapitalismus, der die neue Graswurzelbewegung des 21. Jahrhunderts wird – auch deshalb, weil kluge Bürger wissen, dass sie nur dann wirklich unabhängig sind, wenn sie auch ihre materiellen Angelegenheiten unabhängig gestalten können. Dieser Prozess aus Teilnahme und Teilhabe ist unumkehrbar – man kann ihn wohl aber deutlich verzögern.
Wirtschaftliche Bildung auf allen Ebenen tut not – und die Erziehung zur ökonomischen Unabhängigkeit erst recht. Das Fundament der Bildung im Zivilkapitalismus ist die Förderung der Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Eine gute Gesellschaft ist eine, die ihren Bürgern jede Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Selbständigkeit gibt. Die neue Teilhabe ist das Recht darauf, sein Leben selbst gestalten zu können. Erst wo das politisch und ökonomisch ohne jede Einschränkung gilt, ist Zivilgesellschaft, also Politik für Erwachsene. Wir sind die Gesellschaft. Und wir sind die Märkte.
Das ist Zivilkapitalismus.
Wolf Lotter
Wolf Lotter ist Gründungsmitglied und Essayist des Wirtschaftsmagazins brand eins und Autor zahlreicher Bücher, zuletzt "Zivilkapitalismus. Wir können auch anders", erschienen im Pantheon Verlag 2013.