Bürgerbeteiligung im Kontext des Internets: Problem oder Perspektive?
Nadia Kutscher
/ 17 Minuten zu lesen
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Das Internet bietet für alle Bürgerinnen und Bürger neue Möglichkeiten, auch mit Blick auf die politische Beteiligung. Aber wie beeinflussen die digitale Ungleichheit, die Monopolisierung von Anwendungsmärkten und die Auswertung von Netzwerkdaten die Chancen zur Teilhabe?
Das Internet hat viele Hoffnungen auf eine stärkere Interner Link: Demokratisierung der Gesellschaft durch das Internet geweckt. Dies geschah insbesondere durch die Entwicklungen der letzten Jahre hin zum sogenannten Interner Link: Web 2.0, einer stärker nutzer/innen-orientierten Logik des Netzes mit hohen interaktiven, eigenproduktiven und durch soziale Beziehungen strukturierten Anwendungsmöglichkeiten.
In verschiedenen Kontexten wird eine neue, partizipativere Gesellschaft beschworen:
In ihr drücken die Bürger/innen ihre Interessen unmittelbar aus,
beteiligen sie sich an öffentlicher Meinungsbildung,
publizieren sie eigene Inhalte unabhängig von etablierten Machtstrukturen und
können sie sich über alle sozialen und geographischen Grenzen hinweg austauschen.
Diskurse über den "Arabischen Frühling", in dem den sozialen Medien eine Schlüsselrolle zugeschrieben wurde, oder Publikationen wie "Net Kids" von Don Tapscott (1998) sowie "Born Digital" von John Palfrey und Urs Gasser (2008) haben diese Erwartungen verstärkt: Sie stellten die These auf, dass das Aufwachsen mit diesen Medien eine neue, demokratischere Generation hervorbringe.
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Allerdings zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass sich diese Demokratisierungsthesen als nur bedingt realistisch darstellen. Dies trotz aller Chancen und neuen Optionen, die durch die sich weiter entwickelnden Netzstrukturen und ihre Nutzung entstehen. Vielmehr erweisen sich die neuen Strukturen als ein weiterer Raum, innerhalb dessen sich neben allen Potenzialen auch Ungleichheitslagerungen und Machtstrukturen reproduzieren und abbilden, die aus anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen resultieren.
Insbesondere die durch Edward Snowden aufgedeckten Datensammlungen und -auswertungen verschiedener Geheimdienste zeigen, dass nicht nur die kommerziellen, sondern auch die staatlichen Interessen an den damit verbundenen Datenanhäufungen beträchtlich sind .
Überblick
Dieser Beitrag wirft einen Blick auf drei zentrale Phänomene, die Teilhabechancen im Kontext des Internets beeinflussen und Herausforderungen für eine wirkmächtige demokratische Gestaltung von Teilhabemöglichkeiten aufwerfen:
das Phänomen der "digitalen Ungleichheit",
die Auswirkungen globaler kommerzieller Machtstrukturen im Zusammenhang virtueller sozialer Netzwerke sowie
die neue Zugangsfrage, die im Zuge der Debatte um Netzneutralität alte Probleme in neuem Gewand hervorbringt.
Digitale Ungleichheit
Empirische Studien zeigen, dass die Verbreitung von Computern und Internet in Deutschland mittlerweile weit vorangeschritten. So kommt die ARD/ZDF-Onlinestudie 2015 zu dem Schluss, dass 795 % der Deutschen ab 14 Jahren das Internet mindestens gelegentlich nutzt .
InfokastenJugendliche und Internet 2015
Ca. 90 % der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren können vom eigenen Zimmer aus auf das Internet zugreifen. 97 % nutzen täglich oder mehrmals pro Woche das Internet. 98 % besitzen einen eigenen Computer/Laptop. 58 % besitzen inzwischen einen Tablet-PC. 92 % besitzen einen eigenes Smartphone, bei der Mehrheit ist dies ein Smartphone mit Touchscreen und Internetzugang.
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen kann von einer weitgehenden Etablierung des Internets gesprochen werden, an der der Großteil der Jugendlichen partizipiert. Doch auch wenn Geschlechts-, Alters- und Bildungsdifferenzen abgenommen haben, spielen diese Kriterien trotzdem dort eine Rolle, wo weiterhin Zugangsbeschränkungen vorhanden sind.
Einerseits ist also das Zugangsproblem, das noch Anfang/Mitte der 2000er Jahre als zentrale Herausforderung galt, geringer geworden. Andererseits gilt für die kleiner werdende Gruppe der Personen ohne Internetzugang: In dem Maße, wie sich das Internet auch in Bildungsinstitutionen und beruflichen Kontexten als grundlegend erforderliches Medium für viele Alltagsbereiche etabliert, drohen sie immer mehr abgehängt zu werden.
Ungleichheit innerhalb der Mediennutzung
Über die Zugangsfrage hinausgehend und langfristig weitaus wirkmächtiger ist jedoch die Frage der Reproduktion sozialer Ungleichheit innerhalb der Mediennutzung. Diese wird auch als "digitale Ungleichheit" bezeichnet und ist durch soziostrukturelle Ressourcenunterschiede bedingt (kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital nach Pierre Bourdieu). Das bedeutet, dass die eigenen Bildungserfahrungen, die verfügbaren sozialen Unterstützungs- und Beziehungsnetzwerke sowie finanzielle Mittel einen Einfluss auf die Mediennutzung haben. Folgende Fragen können gestellt werden:
Welche Mediennutzung ist überhaupt möglich?
Welche Bedeutung hat sie im Alltag?
Wie relevant und sinnvoll erscheint sie?
Welche Fähigkeiten sind dafür als Voraussetzung vorhanden?
Welche Möglichkeiten kann die Mediennutzung dann auch in anderen Lebenskontexten eröffnen?
Mit anderen Worten: Medienhandeln ist in alltagsbezogene Anerkennungsstrukturen und lebensweltliche Relevanzen eingebettet und in seinen Sinnzusammenhängen jeweils sozial eingebunden .
Diese Ungleichheit zeigt sich in den medialen Praxen auf vielfältige Weise:
in den Themenpräferenzen,
den Einschätzungen zur Glaubwürdigkeit unterschiedlicher Medien,
den praktizierten Nutzungsweisen
und in den realisierten Beteiligungsoptionen.
Die ungleiche Verfügbarkeit teilhaberelevanter Ressourcen führt dazu, dass sich in der Internetnutzung eine "Kompetenzkluft" ("skills divide") bzw. eine "Demokratiekluft" ("democratic divide") abbilden . Das bedeutet: Was im Alltag für die Nutzer/innen relevant ist, wirkt sich einerseits darauf aus, welche Fähigkeiten in der Internetnutzung bedeutsam sind und (weiter)entwickelt werden; dies hängt also mit den jeweiligen Nutzungsmotiven und -kontexten zusammen. Die Ungleichheiten beginnen schon bei der Medienerziehung im Kindesalter und im Peerkontext: Eine Reihe von Studien zeigen, dass das Ausmaß an Kompetenzen und der Umgang mit Unterstützung, Regeln und Restriktionen und in der Folge Beteiligungsmöglichkeiten sich entlang der Ressourcenlagen von Familien unterscheiden .
Somit sind "alte" Beteiligungsungleichheiten auch innerhalb des Internets zu finden. Das heißt etwa, dass ressourcenreiche Nutzer/innen stärker an wirkmächtigen Meinungsäußerungen und der Inhaltsproduktion im Netz beteiligt sind:
So produzieren beispielsweise nur ca. 4 bis 6 % der Wikipedia-Nutzer/innen die Inhalte der Online-Enzyklopädie . Diejenigen, die Beiträge editieren haben einen überrepräsentativ hohen formalen Bildungsgrad und sind männlich: unter den Wikipedia-NutzerInnen sind zwar ca. ein Drittel Frauen, aber weniger als 13 % weibliche Contentproduzentinnen . Weltweit betrachtet, sind auf der Plattform vor allem Inhalte des Globalen Nordens und weniger des Globalen Südens repräsentiert .
Eine politisch bedeutsame Beteiligung realisieren auch im Internet vor allem formal höher gebildete Jugendliche, die auch außerhalb des Netzes stärker in Aktivitäten vertreten sind (vgl. Forschungsverbund DJI/TU Dortmund 2011, Abb. oben). Insgesamt ist also eine gewisse Skepsis angesichts der Demokratisierungshoffnungen über ein rein technisches Arrangement angebracht .
Verschiedene Studien zeigen, dass sich Unterschiede in der Nutzung des Internets nicht über rein individuelle Präferenzen, sondern vielmehr über Faktoren wie Bildungshintergrund, Peerbeziehungen und finanzielle Ressourcen erklären lassen. Die SINUS-Studie 2016 verweist darauf, dass "auch bei gleicher Verfügbarkeit von digitalen Medien erhebliche Kompetenz-Unterschiede in den Lebenswelten vorherrschen. Dies hängt auch damit zusammen, dass digitalen Medien lebensweltlich sehr unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen zugeschrieben werden – von der reinen Entertainmentzentrale zur Erholung bis hin zur Infrastruktur für Informationsbeschaffung und Berufsplanung". Auch die DIVSI U25-Studie verweist darauf, dass die Ressourcenlagen entscheidend für Teilhabechancen im Kontext des Internet sind .
Dazu gehört die Frage, wie sich die Nutzung des Internets ausdifferenziert:
Wer dabei eher Fotos, Videos oder Musik up- oder downloaded, wer vor allem Netzwerk-Profile kommentiert, wer zentrale Inhalte produziert und wer die Organisation von Interessen, politisch wirkmächtiges Handeln und bildungsrelevante Praxen realisiert u. v. m.
Grundlegend relevant ist dabei, dass Nutzungskompetenzen jeweils auf Bildungsvoraussetzungen und lebensweltlichen Bezügen beruhen. Das besagt: Die Fähigkeiten, die in der Mediennutzung zum Tragen kommen, basieren darauf, was in Alltagsbezügen als sinnvoll erachtet wird und welche Fähigkeiten die Nutzer/innen mitbringen. Das ist wiederum abhängig von den oben genannten Ressourcenunterschieden, die durch die soziale Herkunft und die verfügbaren Unterstützungsstrukturen beeinflusst werden.
Sozial benachteiligte Nutzer/innen bringen also Wissen und Fähigkeiten mit, die in ihrem Alltag sinnvoll und hilfreich sind. Sie sind aber wenig anschlussfähig an Wissen und Fähigkeiten, die im Bildungssystem erwartet werden oder für die Realisierung wirkmächtiger Beteiligung erforderlich sind.
Dagegen profitieren ressourcenreiche Nutzer/innen auch von der Mediennutzung und dem, was ihnen dadurch auch wieder "außerhalb" des Internets zugänglich wird. Daher ist die kritische Bewertung von Inhalten ebenfalls kontextabhängig: Je nachdem, welche Motive mit der Internetnutzung verbunden sind, ist es beispielsweise unterschiedlich wichtig, wie seriös die verfügbaren Informationen sind: Wenn die Internetnutzung vor allem dem Zeitvertreib dient, ist die Verlässlichkeit von Informationen weniger bedeutsam, als wenn das Ziel der Nutzung die Suche nach verwertbaren Informationen oder mit Bildungsinteressen verknüpft ist.
Die Nutzung des Internets zum Zeitvertreib ist bei benachteiligten Jugendlichen stärker ausgeprägt, wie empirische Studien zeigen. Dies ist möglicherweise bedingt durch das Bedürfnis, einen belastenden Alltag auszublenden .
Durch diese Ausdifferenzierung von Nutzungsweisen im Internet kann davon gesprochen werden, dass eine Art soziale Schließung sowohl durch Angebotsstrukturen und -inhalte als auch durch das Handeln der Nutzer/innen stattfindet : Innerhalb es Internets bilden sich Räume, in denen jeweils Personen mit ähnlichen Ressourcen "unter sich" bleiben. Auch das Internet stratifiziert sich also sozial, d. h. es teilt sich in Schichten ein.
Auch weltweit führen technisch ungleiche Entwicklungen und eine ungleiche Machtlagerung im Besitz und der Auswertung von Daten zu einer "Digitalen Kolonialisierung".
Soziale Netzwerke
Virtuelle soziale Netzwerke sind binnen kurzer Zeit zum zentralen Ort der Internetnutzung geworden. Derzeit ist Facebook das meistverbreitete Netzwerk, mit ca. 1,5 Milliarden Nutzer/innen weltweit und mehr als 27 Millionen in Deutschland .
Laut Erhebungen nutzen 100 % der Jugendlichen im Alter von 14 bis 19 Jahren zumindest gelegentlich das Internet und 57 % der Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren sind täglich bzw. mehrmals pro Woche in ihrem sozialen Netzwerk online, darunter 59 % bei WhatsApp und 27 % bei Facebook .
Diese hohe Verbreitung birgt viele Potenziale, hat jedoch auch problematische Seiten: Innerhalb der Netzwerke realisiert sich zwischen ein wichtiger Teil sozialer Beziehungspflege, die Teilhabe an Kommunikation und sozialem Handeln. Es ist möglich, unkompliziert mit einer großen Anzahl von Personen zu kommunizieren, mit unterschiedlicher Intensität und unter den Bedingungen einer größtmöglichen Erreichbarkeit. So hat sich die mediale Kommunikation insbesondere bei Jugendlichen weitestgehend von Chat und E-Mail weg in die sozialen Netzwerke hineinverlagert.
Dies hat allerdings gleichzeitig kritische Implikationen, denn:
Wer nicht Mitglied innerhalb desselben sozialen Netzwerks ist, kann nicht an der Kommunikation teilhaben.
Darüber hinaus ist bei den derzeitigen meistverbreiteten Netzwerkanbietern wie Facebook und Google+ die soziale Zugehörigkeit mit der Preisgabe und dem faktischen Kontrollverlust über die eigenen privaten Daten verbunden.
Zudem werden die Möglichkeiten der Selbstdarstellung in Form der Profilseiten stark vorstrukturiert und normiert.
Somit verlagert sich "ein zentraler Teil medialen Handelns […] in einen kommerzialisierten Kontext hinein: die Logiken aller Netzwerke, die sich über ihre AGB die kompletten Nutzungsrechte an den Daten der Mitglieder übertragen lassen und die Nutzerinnen- und Nutzerdaten für Werbekunden auswerten, unterwerfen in diesem Zusammenhang die privatesten medialen Handlungen wirtschaftlichen Interessen und Verwendungszwecken. Profitorientierte kommerzielle Plattformen bieten 'öffentliche' Orte, an denen Privates wiederum ökonomisiert wird . Diesen Bedingungen scheinen sich große Teile der nachwachsenden Generation resignierend oder negierend zu beugen".
Von Interesse ist hierbei auch, wie sich das mediale Handeln der Nutzer/innen unter diesen Bedingungen verändert, wenn eine entsprechende marktkompatible Selbstdarstellung in verschiedenen Kontexten von Bedeutung ist: Man präsentiert sich durch Informationen und Bilder scheinbar authentisch, in Wirklichkeit aber unter Marktgesichtspunkten möglichst attraktiv.
QuellentextSoziale Netzwerke
Insgesamt kann angesichts einer Gleichzeitigkeit von Privatheit und Öffentlichkeit von einer Tendenz zur weitreichenden Entprivatisierung im Kontext der sozialen Netzwerke gesprochen werden, die sich in unterschiedlichen Dimensionen abbildet:
Eine größere Öffentlichkeit wird über die Kommunikations- und Informationsstrukturen sozialer Netzwerke unmittelbar erreichbar. Dies beinhaltet das Potenzial für eine höhere Transparenz politischer/öffentlicher Prozesse und für eine breitere Beteiligung an Entscheidungs- und Informationsprozessen.
Fraglich bleibt allerdings, welche Öffentlichkeiten sich angesichts der unterschiedlichen Nutzungsweisen und -kontexte ausdifferenzieren und möglicherweise unterschiedliche Interessenslagen – mehr oder weniger wirkmächtig – organisieren. Gleichzeitig kann jedoch auch davon gesprochen werden, dass sich die subjektive Privatsphäre durch "Communities ausdehnt – sowohl Inhalte als auch Adressatenkreis betreffend. Keineswegs kann dem Schluss gefolgt werden, dass die Privatsphäre kaum mehr eine Rolle spielt und in absehbarer Zeit gänzlich im öffentlichen Raum verschwindet" (Schaefberger 2010, S. 50). Vielmehr stellt sich die Frage, welch eine Veränderung dessen, was als Privatsphäre betrachtet wird, durch diese Entwicklungen begünstigt wird.
Aus der Perspektive der jugendlichen Akteure verlagert sich ein zentraler Teil medialen Handelns in einen kommerzialisierten Kontext hinein: Die Logiken aller Netzwerke, die sich über ihre AGB die kompletten Nutzungsrechte an den Daten der Mitglieder übertragen lassen und die Nutzerinnen- und Nutzerdaten für Werbekunden auswerten, unterwerfen in diesem Zusammenhang die privatesten medialen Handlungen wirtschaftlichen Interessen und Verwendungszwecken. Profitorientierte kommerzielle Plattformen bieten "öffentliche" Orte, an denen Privates wiederum ökonomisiert wird (vgl. Andrejevic 2011, S. 35). Diesen Bedingungen scheinen sich große Teile der nachwachsenden Generation resignierend oder negierend zu beugen. Private Lebensgestaltung funktioniert für Jugendliche nicht mehr ohne Social Communities, sie sind ein zentraler Ort der Aushandlung von Entwicklungsaufgaben, Sozialität und Individualität. In dem Maße, wie sich dies in sozialen Netzwerken wie Facebook und Google+ abspielt, prägen deren Bedingungen den Rahmen der Aktivitäten. Der Kontext, in dem privates bzw. zivilgesellschaftliches Handeln stattfindet, wird kommerziell transformiert (vgl. Andrejevic 2011, S. 34).
Die Frage ist hier, wie dabei Zivilgesellschaft oder Privates transformiert wird: Geht es um eine neue Form von sozialem Kapital, in dem Jugendliche zweckbezogen kapitalisierbare Beziehungen aufbauen und pflegen? Oder vermögen zivilgesellschaftliche Aktivitäten, die ökonomische Logik zu verändern? Welche Rolle hat der Staat aus der Perspektive der jugendlichen Akteurinnen und Akteure: Erweist er sich als handlungsmächtige Instanz im Umgang mit den neuen Machtformen?
Der 32. Chaos Communication Congress (32C3) in Hamburg im Jahr 2016 thematisierte virtuelle soziale Netzwerke wie Facebook als "Gated Communities". Als Gated Communities werden durch Zäune oder Mauern, teils durch Sicherheitsdienste kontrollierte abgegrenzte Wohngebiete bezeichnet . Die Analogie, die Netzaktivistinnen und -aktivisten zu diesen abgeschotteten Wohngebieten herstellen, wird dadurch begründet, dass o. g. soziale Netzwerke durch die Filterung (vgl. Filter Bubble – Eli Pariser) sowie die Zensur von Inhalten und die Schwächung von Netzneutralität (beispielsweise durch das Projekt internet.org von Facebook) eine abgeschottete Welt schaffen, die die Mitglieder, die sich vielfach mittlerweile ausschließlich über das soziale Netzwerk im Internet bewegen von einem offenen Internet entkoppelt.
Big Data – der große Rahmen
Der ökonomische Wert dieser kommerziellen Netzwerke wird durch die Produktion personenbezogener Daten und deren komplexe Auswertung generiert . Die affektive (gefühlsbetonte) Bindung an das Netzwerk dient einer langfristigen Bindung an die Datenproduktion. In diesem Zusammenhang hat der Klarnamen-Zwang, der vermehrt durch die Netzwerkbetreiber vorangetrieben wird, eine spezifische Funktion: Während moralisch argumentiert wird, geht es den Anbietern bei der Forderung nach Authentizität um die Generierung wertvoller Daten. Diese sind erst in Verbindung mit richtigen Namen entsprechend ökonomisierbar .
Der Begriff Interner Link: Big Data bezeichnet die Messung, Speicherung, Analyse und Verbreitung einer zuvor nie dagewesenen Menge an Informationen in Form von digitalen Daten . Bei diesen (Meta-)Daten geht es um Profilinhalte, Kontaktdaten oder Nachrichteninhalte bei sozialen Netzwerken oder Apps. Vor allem jedoch geht es um Daten, die "nebenbei" in der digitalen Mediennutzung generiert werden, also wer mit wem kommuniziert, Lokalisierungsdaten (über digitale Fotos, Smartphone- und Handydaten), Browsereinstellungen (Schriftarten, Sprache, etc.), Suchverhalten und -inhalte, u. v. m. Diese Masse an Daten ermöglicht relativ zuverlässige Rückschlüsse auf Einstellungen, Produktpräferenzen, ökonomische Situation u. v. m. und insbesondere das zukünftige Handeln von konkreten Personen. Möglich wird dies durch den Einsatz von Interner Link: Algorithmen, die mathematisch-statistisch eine große Menge – für sich jeweils genommen wenig, in der Kombination jedoch hoch aussagekräftiger – Daten verarbeiten, so dass daraus umfassende Persönlichkeitsprofile, Scoringwerte (Datenauswertungen, Einschätzungen) für Versicherungen und Kreditinstitute etc. erstellt und für ökonomische und andere Zwecke genutzt werden.
So werden schon heute Kredite auf der Grundlage metadatenbasierter Berechnungen von Rückzahlungswahrscheinlichkeiten, in die u. a. Daten wie Wohngebietsfaktoren, Informationen über Hobbies aus sozialen Netzwerken, soziale Kontakte, installierte Schrifttypen auf dem Computer etc. einbezogen werden. Ein weiteres Beispiel ist "dynamic pricing". Damit ist die Anpassung der im Onlinehandel (z. B. bei Amazon) angezeigten Preise für ein Produkt gemeint: Sie variieren, je nachdem mit welchem Gerät, Betriebssystem und nach welchen vorangehenden Suchanfragen auf das Portal zugegriffen und nach dem entsprechenden Produkt gesucht wird. Experten benennen dabei Preisdifferenzen von bis zu 240 Prozent .
Metadaten werden darüber hinaus auch mittlerweile im kriminologischen Bereich genutzt – beispielsweise werden damit Rückfallgefährdungen berechnet oder auch künftige Deliktwahrscheinlichkeiten vorhergesagt ("predictive policing"). In Deutschland nutzt die Polizei Big Data zur Vorhersage der Wahrscheinlichkeit von Einbruchsdelikten in bestimmten Gegenden. In den USA werden Metadaten aus Sozialen Netzwerken genutzt um den individuellen Bedrohungsgrad ("threat score") von Einzelpersonen vorauszuberechnen . Verschiedene Datenanalysten warnen davor, dass gerade benachteiligte Bevölkerungsgruppen im Zuge der Big-Data-Analysen künftig weitere Nachteile zu erwarten haben, da sich Metadatenanalysen aufgrund der darin berücksichtigten Kategorien für sie potenziell stärker exklusionsgefährdend auswirken.
Soziale Netzwerkanbieter wie Facebook und Google sammeln ebenfalls Metadaten. Über die Analyse von "Gefällt mir"-Klicks bei Facebook ist es möglich, konkrete Rückschlüsse auf Persönlichkeitseigenschaften zu ziehen . Facebook speichert auf Dauer u. a.
Annahmen wie Ablehnungen von Freundschaftsanfragen,
Angaben zu politischen Einstellungen,
inhaltliche Präferenzen, die sich in geposteten Inhalten dokumentieren sowie
Namensänderungen.
Google nutzt sein breites Angebot an Diensten um z. B. die darin anfallenden Daten
aus Suchanfragen,
Lokalisierungsdaten bei Android,
Klicks auf Werbeanzeigen,
angesehenen Filmen auf YouTube,
Inhalten von E-Mailnachrichten bei Gmail
zusammenzuführen, so dass damit Persönlichkeitsprofile erstellt und Suchergebnisse vorstrukturiert werden. So wird im Kontext einer "passgenauen" Strukturierung von gesuchten Inhalten zunehmend für die Nutzer/innen nicht steuerbar vorstrukturiert, was sie im Netz überhaupt zu sehen bekommen. In sozialen Netzwerken erfolgt diese Strukturierung zusätzlich auf der Basis sozialer Beziehungsnetzwerke.
Big Data wird darüber hinaus in Zusammenhang mit "Nudging" relevant. Damit wird eine aktuell von Regierungen vielfach präferierte, aus der Verhaltensökonomie stammende Form der Beeinflussung von Bürgerinnen und Bürgern zu einem erwünschten Handeln durch verhaltensbezogene Anreize bezeichnet. Bei "Big Nudging" werden Metadatenanalysen für die Gestaltung von Nudging-Umgebungen genutzt: Daten, die vielfach ohne Wissen der NutzerInnen gesammelt werden, geben Auskunft darüber, was den betreffenden Menschen wichtig ist und wie sie erfolgreich manipuliert werden können. Damit können dann Menschen zu Verhaltensweisen oder Entscheidungen gebracht werden, die sie sonst nicht realisieren würden.
Welche Bedeutung das perspektivisch für Informationsteilhabe hat, ist, auch vor dem Hintergrund ungleicher Fähigkeiten und Möglichkeiten, diese Strukturen zu reflektieren, kaum abzusehen. So sind sozial benachteiligte Jugendliche besonders intensive Nutzer/innen von Communities , allerdings sind sie offensichtlich den Fallen im Netz stärker ausgeliefert: Sie geben mehr Daten von sich preis und machen öfter als andere unangenehme Erfahrungen (z. B. den Kontakt mit unerwünschten sexualisierten, gewalthaltigen) Inhalten oder Cyberbullying im Internet .
Netzneutralität
Während die digitale Spaltung hinsichtlich des technischen Zugangs weitgehend überwunden scheint, ist mittlerweile im Zuge aktueller Entwicklungen eine neue Form der Zugangsungleichheit auf den Plan getreten. Unter dem Stichwort "Netzneutralität" wird die Frage verhandelt, inwiefern der Transport von Daten über das Internet gleichberechtigt geschehen soll. Oder sollen Daten nach Absender, Inhalt, Empfänger, Klasse oder Tarif unterschieden und im Netz unterschiedlich behandelt werden? Ausgangspunkt sind die nicht hinreichend überprüfbaren Angaben von Telekommunikationsanbietern, dass die Datennetze nicht mehr ausreichten, um die immensen Datenmengen im Internet zu transportieren .
Daher wird diskutiert, ob man manche Daten und deren sogenannte "Quality of Service" prioritär behandelt, also z. B.:
auf schnelleren Wegen transportiert als andere und
unter welchen Umständen dies geschehen könnte.
Ein weiterer Aspekt der Netzneutralitätsdebatte meint die Verhinderung oder Begrenzung von Eingriffen in die Neutralität des Internets aus politischen Gründen, zum Beispiel in der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Staaten oder im Fall von Bürgerkriegen. Hierbei geht es etwa darum, dass Regierungen das Internet in ihren Ländern blockieren, um politische Gegner handlungsunfähig zu machen (z. B. Iran, Ägypten). Oder sie zensieren weite Teile des Internets, um kritischen Stimmen keine Öffentlichkeit zu geben (z. B. China). Es wird noch eine weitere Variante diskutiert: Die Kosten für den Transport umfangreicherer Daten könnten durch die Endnutzer/innen oder Anbieter großer Datenmengen (wie z. B. YouTube) getragen werden. So würde Ungleichheit über eine preisliche Diskriminierung hergestellt.
Sowohl für ökonomisch als auch politisch motivierte Eingriffe dient die sogenannte "Deep Packet Inspection" dazu, Daten genau zu analysieren (nach Inhalt, Umfang, Adressat/in, Absender/in etc.) um sie dann entsprechend unterschiedlich zu gewichten und zu behandeln .
Dabei bleiben zentrale Fragen:
Wer nimmt diese Gewichtung vor?
Auf Grundlage welcher Normen geschieht dies?
Wie transparent findet die Diskriminierung (im Sinne von Unterscheidung) von Daten statt?
Für wen ergeben sich daraus Benachteiligungen?
Angesichts der Monopolisierung von Anwendungsmärkten durch Telekommunikationsanbieter, aber auch durch datenproduzierende Anbieter wie etwa große soziale Netzwerke (Facebook, Google+) entsteht beispielsweise folgende Gefahr:
Die Kosten, die man Anbietern durch die Netzbetreiber für die Durchleitung von Daten zum Endkunden in Rechnung stellt, werden an die Endkunden weitergegeben. Die Einführung von Techniken des Access Tiering , d. h. der Steuerung von Datenzugänglichkeit nach Datenmengen und Preis, wird von Kritikern als weitreichende Verletzung der Netzneutralität durch preisliche und qualitative Diskriminierungen bezeichnet .
Die drei Grade von Netzneutralität
In der Debatte werden unterschiedliche Begriffe und Abstufungen von Netzneutralität thematisiert (vgl. Abb. oben). Diese bewegt sich in einer großen Bandbreite, die anhand von drei Eckpunkten kurz benannt werden soll:
"Völlige Netzneutralität": Hier werden alle Inhalte und Dienste unabhängig von Ursprung, Endgeräten und Aufbereitung gleichberechtigt übertragen, so dass alle Nutzer/innen gleichermaßen Zugang dazu haben.
Ausdifferenzierung von Zugänglichkeit: Provider dürfen unterschiedliche Arten von Daten nach Kundenwunsch unterschiedlich behandeln. Das setzt sehr informierte und entsprechend ökonomisch potente Kunden voraus, die Kenntnisse über die Unterschiede zwischen den Datenpaketen kennen, um sich informiert entscheiden und sich die Bevorzugung finanziell leisten zu können.
Durchgängige Diskriminierung von Daten, d. h. keine Netzneutralität: Das bedeutet beispielsweise, dass die Mitgliedschaft in bestimmten Netzwerken, die für erhöhten Traffic bezahlen, bzw. die Mitgliedschaft bei bestimmten Anbietern zu entsprechend unterschiedlichen Tarifen, zum exklusiven Zugang zu Information und Kommunikation wird.
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Das EU-Parlament hat 2015 eine Verordnung zur Netzneutralität beschlossen. Hier wie auch in den USA gibt es weiterhin eine politische Auseinandersetzung darüber, wie unter den aktuell herrschenden Bedingungen eine gleiche Teilhabe am Internet gewährleistet werden kann. So fordern die großen Telekommunikationskonzerne die Vermeidung von Netzneutralität als Bedingung für einen Ausbau des 5G-Mobilfunknetzes . Derzeit ist das Gremium der europäischen Telekom-Regulierer (BEREC) damit beauftragt, Leitlinien zur Umsetzung der Verordnung zu entwickeln .
Da es bislang keine eindeutige staatliche Regulierung dieser Frage gibt, bleiben verschiedene mögliche Entwicklungen offen:
So wäre vorstellbar, dass Monopolkonzerne wie Google oder Facebook für den bevorzugten Transfer ihrer Daten bezahlen. Damit würde die Mitgliedschaft in deren Netzwerken oder die Nutzung ihrer weiteren Dienste sowohl vergleichsweise komfortabel als auch alternativloser.
Spezifische Daten würden prioritär behandelt, andere als "nicht relevant" bewertete Daten nicht. Hier wäre die Frage, wer wie entscheidet, welche Daten als "relevant" eingestuft werden: unterhaltungsbezogene, wirtschaftlich bedeutsame, bildungsrelevante…?
Möglich wäre auch, dass die Anbieter die Kosten an die Nutzer/innen weitergeben und damit nutzer/innenseitig für einen schnelleren Zugang zu zahlen wäre – wenn man die entsprechenden finanziellen Ressourcen hat. So würde quasi das ehemalige Hardware- und Bandbreitenproblem, das zu unterschiedlichen Übertragungsgeschwindigkeiten beigetragen hat, "durch die Hintertür" und in einer anderen Dimension wieder aktuell. Die Steuerung der je nach Anbieter zugänglichen Dienste hat schon begonnen.
Insgesamt kann festgestellt werden: Sofern es in diesem Bereich einen Wettbewerb ohne weitergehende Regulierung gibt, bedeutet das eine Ökonomisierung der Teilhabe an Informationen im Internet in einem bedeutsamen Ausmaß, die gleichzeitig eine Ungleichheit in der Informationsteilhabe nach sich zieht.
Herausforderungen und Perspektiven für Teilhabeermöglichung im Kontext des Internet
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Diese Potenziale des Internet für Teilhabe sind angesichts von Machtstrukturen, sozialer Ungleichheit und politischen wie ökonomischen Interessen nicht gleichermaßen verfügbar. Daher gilt es, Teilhabebeschränkungen wahrzunehmen und damit politisch wie pädagogisch kritisch-reflexiv umzugehen. Nur so können die demokratischen Optionen, die das Internet birgt, auch eine faktische Wirkung für die breite Bevölkerung entfalten.
Daher bedarf es einer Reflexion der verschiedenen Ungleichheitslagerungen im Kontext des Internets. Das gerade angesichts der Tatsache, dass Angebotsstrukturen und ungleiche Ressourcen der Nutzer/innen zu einer Reproduktion der Ungleichheit innerhalb der Internetnutzung beitragen können. Dies hat Folgen für das Ausmaß der Beteiligung unterschiedlicher Zielgruppen im Rahmen digitaler Teilhabe. In Zusammenhang mit der Problematik der Netzneutralität bleibt die Frage zu klären: Wie kann garantiert werden, dass Nutzer/innen mit geringeren finanziellen Mitteln und weniger Wissen über die unterschiedliche Priorisierung von Diensten und Inhalten gleichermaßen Zugang zu den Daten und Diensten haben?
Darüber hinaus ist eine intensive Aufklärung über die entscheidenden Machtstrukturen im Internet erforderlich. Damit können Entwicklungen, die zur Bildung hegemonialer (d. h. eine Vormachtstellung anstrebende) Strukturen beitragen, wahrgenommen, begrenzt und kontrolliert werden. In diesem Kontext erhöht die Monopolisierung von Kommunikations- und Informationsräumen durch Akteure wie Facebook, Google etc. die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Internet zunehmend über exklusive Einheiten und Mitgliedschaften strukturiert. Diese ist gleichzeitig mit der Enteignung der Kontrolle über eigene Daten verbunden und kann potenziell zur Bedingung für die bevorzugte Zugänglichkeit von Diensten und Inhalten werden. Hierbei ist eine zentrale Frage, welche Normierung der Priorisierung von Daten zugrunde liegt: Wie implizit oder explizit und wie transparent werden diese Entscheidungen vorgenommen und wer kontrolliert diese Normierung?
Um die Datenschutzpolitik kommerzieller Netzwerkanbieter im Sinne einer Teilhabeermöglichung wirksamer zu kontrollieren, sind stärkere politische Anstrengungen notwendig, auch über Nationalstaatsgrenzen hinaus (z. B. Regulierung durch den Gesetzgeber). Vgl. hierzu das Videointerview mit dem ehemaligen Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Peter Schaar.
Auf individueller Ebene und im Kontext von Bildungsinstitutionen geht es darum, eine befähigende Medienbildung sowohl für Nutzer/innen als auch für pädagogische Fachkräfte zu verankern. Sie befähigt für einen reflektierten Umgang mit den angesprochenen Entwicklungen bezüglich der zunehmenden Verbreitung der digitalen Medien in allen gesellschaftlichen Bereichen (= Mediatisierungsentwicklungen). Denn letztlich geht es unter all diesen Aspekten um die Frage, ob Teilhabe im mediatisierten Raum ein grundlegendes Bürgerrecht ist, das durch die verschiedenen Akteure gesichert werden kann, unterstützt durch demokratiefördernde Strukturen.
Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die Ungleichheit im Internet eng mit anderen Ungleichheitsstrukturen in der Gesellschaft zusammenhängt. Daher bedarf es neben den medienbezogenen Initiativen weiterer Anstrengungen, die auch unabhängig vom Internet soziale Benachteiligung reduzieren oder verhindern.
QuellentextNutzung digitaler Medien durch Flüchtlinge
Im Jahr 2015 wurde in einer qualitativ-empirischen Studie die Frage untersucht, wie junge Flüchtlinge vor, während und nach der Flucht digitale Medien nutzen, um u. a. Kontakte mit dem Herkunftskontext aufrechtzuerhalten (d. h. im Herkunftsland verbliebenen Familienmitgliedern und Peers aus ihren Herkunftsländern, die durch Flucht in verschiedenen anderen Ländern bzw. Orten in Deutschland leben), neue Kontakte zu knüpfen, sich im Aufnahmeland zu orientieren und nach Unterstützungsmöglichkeiten zu suchen. Hierzu wurden in 17 Einzelinterviews und einer Gruppendiskussion 20 junge Geflüchtete im Alter von 15 bis 19 Jahren befragt. Durchgeführt wurde diese empirische Studie zur Nutzung digitaler Medien durch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF) von der Universität Vechta und dem Deutschen Kinderhilfswerk.
"Internet ist gleich mit Essen" – mit dieser Aussage bringt einer der Interviewteilnehmer zum Ausdruck, welche Bedeutung die Möglichkeit der Internetnutzung für die verschiedenen Teilnehmer in den Interviews und der Gruppendiskussion besitzt. Das Gleichsetzen der Internetnutzung mit basalen Grundbedürfnissen, wie dem der Nahrungsaufnahme, zeigt die zentrale Rolle auf, die digitale Medien für das (Über-)Leben von umF, insbesondere während der Flucht und nach der Aufnahme in Deutschland, spielen. Dabei zeigt sich die besondere Bedeutung digitaler Medien für die Bewältigung der fluchtspezifischen Herausforderungen unterwegs und in Deutschland, aber auch eine Form der Bedeutungszuschreibung digitaler Medien, wie sie ebenfalls bei deutschen Jugendlichen beobachtet werden kann.
Die Mediennutzung vor der Flucht prägt die Affinität zu digitalen Medien während der Flucht und in Deutschland. Einige der Jugendlichen haben vor ihrer Flucht kein Internet benutzt, da es in ihrer Herkunftsregion – aus unterschiedlichen Gründen – nicht zugänglich war. Auf der Flucht und insbesondere seit ihrem Aufenthalt in Deutschland sind digitale Medien für sie unverzichtbar geworden um am sozialen Leben teilzuhaben. Auf dem Fluchtweg haben das Mobiltelefon und soziale Netzwerke die Funktion nach einzelnen Fluchtetappen Kontakt mit der Familie aufzunehmen und – vor allem positive – Lebenszeichen – zu geben. Darüber hinaus dienen diese medialen Kommunikationswege dazu, Notrufe (insbesondere auf dem Mittelmeer) abzusetzen, Kontakt mit Schleusern zu organisieren und relevante Informationen über Fluchtwege durch Nachrichtenaustausch und Navigations-Apps zu erhalten. Der vielfach berichtete Verlust der Mobiltelefone durch Überfälle oder durch Repressalien von Schleusern hat schwerwiegende Bedeutung, u. a. auch weil damit Telefonnummern und Fotos als Erinnerung an die Familie verlorengehen. Authentifizierungsalgorithmen und Cookies bei Facebook wirken behindernd, da Länder- und Gerätewechsel oftmals Accounts unzugänglich machen.
Zu den ersten Handlungen der jungen Flüchtlinge im Aufnahmeland gehört, sich ein Mobiltelefon zu besorgen und sich, falls nicht schon vorhanden, einen Facebook-Account einzurichten. Dabei sind jedoch selbst basale Kenntnisse über Facebook oder Apps nicht selbstverständlich. In den Inobhutnahme-Einrichtungen sind Internet und Computer wenn überhaupt nur sehr eingeschränkt für die jungen Flüchtlinge zugänglich – teils aus technischen, teils aus erzieherischen Gründen. Die Jugendlichen geben deshalb jeden Monat den Großteil ihres Taschengeldes für Prepaid-Internetflatrates und -Telefongebühren aus, um Kontakt mit ihren Herkunftsfamilien herstellen zu können. Zudem ist der Kontakt über digitale Medien mit der Familie im Herkunftsland über digitale Medien oftmals eingeschränkt oder prinzipiell nicht möglich, da in verschiedenen Ländern Internet und Telefon nicht oder nur unzuverlässig verfügbar sind.
In Zusammenhang mit der mobilen Nutzung spielen Apps eine zentrale Rolle für die Kommunikation im Aufnahmeland: als Medium der Kommunikation mit der Familie und mit Peers aber auch mit pädagogischen Fachkräften (WhatsApp, Viber, Skype), als Medium zum Erlernen der Sprache (mit vielen Deutsch-Lern-Apps) und zur Orientierung (Navigations-Apps). Soziale Netzwerke – v. a. Facebook und Youtube - werden für die Kommunikation mit der Familie, den Austausch mit Peers, das Informieren über Nachrichten sowie zur Identitätsdarstellung und für die Verfolgung von Hobbies genutzt. Dabei zeigen sich jugendtypische Nutzungsweisen digitaler Medien unabhängig vom Flüchtlingsstatus. Die Netzwerkprofile stellen dabei aber auch hochrelevante Formen der Selbstverortung vor dem Hintergrund von Fluchterfahrungen dar – hinsichtlich der Dokumentation der eigenen Herkunft, der Sehnsüchte und Bindungen, aber auch im Kontext von Anerkennungs- und Beziehungspraktiken.
Parallel zu dieser hohen Bedeutung digitaler Medien zeigen sich Widersprüche hinsichtlich der Verfügbarkeit von Internetverbindungen, der Datenschutzbedingungen, unter denen die Medien von den jungen Flüchtlingen und Fachkräften genutzt werden sowie der kaum relevanten Nutzung von fachspezifischen Angeboten für Flüchtlinge über digitale Medien.
In den wenigsten Fällen ist in den Inobhutnahme-Einrichtungen eine durchgängige Nutzung des Internet möglich, da entweder riskante Mediennutzungsweisen befürchtet werden, keine (Re-)Finanzierung in den Budgets der Einrichtungen vorgesehen ist oder die Nutzung restriktiven Regeln (z. B. WLAN nur innerhalb bestimmter Zeiten) unterworfen ist. Dies führt dazu, dass die Kontaktmöglichkeiten zu den Familien eingeschränkt oder äußerst kostenintensiv für die Jugendlichen sind. Darüber hinaus stehen den Jugendlichen in den Einrichtungen oftmals nicht ausreichend Computer für die Erledigung von Schulaufgaben zur Verfügung. Im Kontrast zu den restriktiven Mediennormen in den Einrichtungen berichten die Jugendlichen aus vielen Einrichtungen darüber, dass die Fachkräfte mit ihnen über digitale Medien, insbesondere WhatsApp, kommunizieren. Dies ist bemerkenswert nicht nur aufgrund dessen, dass die Mediennutzung relativ streng kontrolliert wird, sondern auch vor dem Hintergrund, dass mit der Nutzung von WhatsApp in institutionellen und fachlichen Zusammenhängen datenschutzrechtliche Aspekte verletzt werden. In den Interviews wurden die jungen Flüchtlinge gefragt, ob sie im Internet hilfreiche Informationen zum Asylverfahren und zur Orientierung in Deutschland gefunden haben, die ihnen das Einleben in Deutschland erleichtern. Alle Interviewteilnehmer haben ihr Interesse an solchen Angeboten bekundet, berichten jedoch fast ausschließlich von nichtfachlichen bzw. kommerziellen Diensten (Facebook als Nachrichtenbörse, Google als Übersetzungstool, Navigationshilfe und Suchmaschine etc.). Auf Nachfrage gaben sie an, dass ihnen speziell für sie entwickelte digitale Informationen unbekannt seien.
Insgesamt wird in der Studie deutlich, dass digitale Medien und Dienste für die soziale und bildungsbezogene Teilhabe der jungen Flüchtlinge von hoher Relevanz und quasi alternativlos sind. Gleichzeitig sind sie nur unter erschwerten Bedingungen verfügbar.
Dr. Nadia Kutscher ist Professorin für Soziale Arbeit und Ethik am Department I der Universität Vechta. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Nutzung digitaler Medien in Kindheit und Jugend (insbesondere unter der Perspektive sozialer Ungleichheit), die Mediatisierung der Sozialen Arbeit und normative Fragen im Kontext sozialer Dienstleistungen.
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