Die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im digitalen Zeitalter
Einführung in die Debatte
Christian Meier
/ 21 Minuten zu lesen
Link kopieren
Was sollen ARD, ZDF und Deutschlandfunk in der digitalen Medienordnung dürfen? Inwieweit hat sich ihr Auftrag durch das Entstehen des Medienkanals "Internet" verändert? Die Regulierung der Öffentlich-Rechtlichen ist Ländersache, aber ist dieses Modell noch zeitgemäß?
Die Debatte um die Rolle der Interner Link: öffentlich-rechtlichen Sender und ihren Auftrag in einer sich rasant verändernden Medienwelt ist ein Dauerbrenner. Die vorläufig letzte Stufe stellte die Einführung der neuen Interner Link: Rundfunkgebühr zum 1. Januar 2013 dar. Obwohl sich für schätzungsweise 90 % der deutschen Haushalte der zu zahlende Betrag von 17,98 Euro im Monat gar nicht änderte, hatte die Umstellung der Finanzierung auf eine Haushaltsabgabe zur Folge, dass das öffentlich-rechtliche System unter enormen Legitimationsdruck geriet. Dies sahen mittlerweile auch deren eigene Spitzenleute so. In einem Gespräch mit Journalisten sagte Willi Steul, der Intendant des Deutschlandfunks, im Dezember 2012: "Wir müssen der Gesellschaft nachweisen, wofür wir das Geld brauchen". Also: Wofür geben die Sender die rund 7,5 Milliarden Euro im Jahr aus, die ihnen die Gebührenzahler überweisen?
InfokastenHaushaltsabgabe
Zur Verdeutlichung: Das öffentlich-rechtliche System besteht aus der föderalen ARD (Gebührenertrag ca. 5,5 Milliarden Euro im Jahr) mit ihren über die Republik verteilten Sendeanstalten und ihren drei Digitalsendern, dem ZDF (ca. 1,8 Milliarden Euro) und ihren drei Digitalsendern, den gemeinschaftlichen Beteiligungen 3Sat, Arte, Phoenix und Kinderkanal, sowie dem Deutschlandradio (ca. 200 Millionen Euro) und 66 Hörfunkprogrammen.
Zäsuren in der Medienlandschaft
In den vergangenen drei Jahrzehnten gab es zwei Zäsuren in der Medienlandschaft, die den Boden für die Debatte mit bereitet haben.
zu einem Wechselspiel aus Wettbewerbsdenken auf der einen Seite (beispielsweise zeigen sowohl öffentlich-rechtlichen wie private Sender Quizshows, Daily Soaps und Sport) und
zu einer Erweiterung des verfügbaren Medienangebots auf der anderen Seite: (das Programm ist letztlich nicht austauschbar, sondern ergänzt sich).
Weil aber die Privaten auch einen bestimmten Anteil an Informationen und Nachrichten senden müssen, stellt sich letztlich die Frage, wie unverzichtbar sich die Öffentlich-Rechtlichen im Angesicht einer wachsenden Zahl kommerzieller Angebote im TV machen können. Heute ist es mehr denn je ihre Aufgabe, ihre Stellung durch ein entsprechend gehaltvolles Programm zu untermauern.
Es überrascht indes nicht, dass sich die Privaten, allen voran die Mediengruppe RTL Deutschland sowie die ProSiebenSat.1 Media AG, zu den schärfsten Kritikern der öffentlich-rechtlichen digitalen Expansion entwickelt haben. Auf beiden Seiten gibt es klar umrissene Charakterisierungen der anderen Seite. So sagte ZDF-Intendant Thomas Bellut in einem Interview mit der Mainzer "Allgemeinen Zeitung": "Privatfernsehen will Geld verdienen, hat kaum noch publizistischen Ehrgeiz, die Öffentlich-Rechtlichen sind für die hochwertige Ware zuständig". Der Chef der Sendergruppe ProSiebenSat.1, Thomas Ebeling, wunderte sich 2011 in der "FAZ" über den geringen Marktanteil von 7 %, den eine Talkshow mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Ersten erzielt hatte – während gleichzeitig die Gebühren stiegen. Dies sei, so Ebeling, regelrecht "verstörend".
Eine konvergente Medienwelt entsteht
Die zweite Zäsur war die Internet-Revolution. Ist die Konkurrenz zwischen gebührenfinanzierten TV-Sendern auf der einen Seite und werbefinanzierten Sendern auf der anderen Seite noch halbwegs überschaubar, hat der Siegeszug des World Wide Web zu einer neuen Unordnung geführt. In der Fachsprache wird der Effekt mit dem Begriff Interner Link: Konvergenz beschrieben. Was definitorisch "Annäherung" oder "Zusammenlaufen" bedeutet, sorgt in der Realität für mehr Komplexität.
Denn waren die unterschiedlichen Medien vor dem Internet-Zeitalter klar voneinander abzugrenzen (Print – TV – Radio), finden sich im Web alle Interner Link: Mediengattungen plötzlich auf ein und derselben Plattform nebeneinander wieder. Im Netz verschmelzen Texte, Fotos, Videos und Audio-Files miteinander, bzw. sie lassen sich von dieser Plattform alle gleichermaßen konsumieren. Zwischen der Mediathek der ARD, dem Videoportal Maxdome von ProSiebenSat.1 und Internet-Angeboten wie Spiegel Online, FAZ.net oder auch T-Online liegt nur ein einziger Klick.
In dieser konvergenten Medienwelt müssen sich nun alle Medienunternehmen zurechtfinden. Während es für kommerzielle Anbieter in erster Linie darum geht, ihr Geschäftsmodell anzupassen, loten ARD und ZDF nach innen aus, was die Digitalisierung für ihren Interner Link: Programmauftrag bedeutet. Nach außen müssen sie ihre Interessen mit den Interessen der privaten Anbieter abgleichen und möglichst miteinander vereinbaren.
Entlang dieser Schnittstelle ist nun eine Reihe von Konflikten ausgebrochen. Etwa: Was darf eine Tagesschau-App bieten und was nicht? Welche Inhalte sollen in den Mediatheken von ARD und ZDF zu sehen sein? Wie sinnvoll ist der Ausbau von ARD und ZDF zu Senderfamilien mit einer Anzahl von Nischensendern für bestimmte Zielgruppen, insbesondere junge Zuschauer? Dazu weiter unten mehr.
Die öffentlich-rechtlichen Sender stecken zwischen Sparvorgaben und Expansionsdrang, zwischen alternden Zuschauern und dem Wunsch der Verjüngung des Programms. Sie wollen Programmauftrag und Quotendenken miteinander in Einklang bringen; sie verteidigen ihre Aufgabenfelder und müssen gleichzeitig ihre digitale Strategie verhandeln.
Der technologische Wandel hat Auswirkungen auf das Fernsehen
Die Digitalisierung hat die Art, wie ein wachsender Teil der Bürger Medien konsumiert, drastisch verändert. Auch wenn das lineare Fernsehen, also das Zuschauen nach den von den Sendern vorgegebenen Programmschemata, weiter von einer beträchtlichen Zahl der Zuschauer genutzt wird: Es eröffnen sich mit digitalen Angeboten vielfache Möglichkeiten, Bewegtbildinhalte zu anderen Zeiten und auf anderen Geräten abzurufen. Das ermöglichen einerseits neue Geräte wie Interner Link: Smart-TVs und Festplattenrekorder, andererseits Mediatheken und Pay-per-View bzw. Interner Link: Video-on-Demand-Plattformen.
Da diese Plattformen web-basiert sind, lassen sie sich auch über Smartphones, Tablets und internetfähige Spielekonsolen ansteuern. Gleichzeitig wandelt sich der konventionelle TV-Apparat von einem reinen Empfangsgerät für Kabel- oder Satellitenfernsehen zum Interner Link: Hybrid-TV, zum "Herzstück des Heim-Entertainments". Der Fernseher bleibt als "connected device", also als ein mit dem Internet verbundenes Gerät, ein zentraler Bestandteil der meisten Haushalte. Um ihn herum entsteht eine Infrastruktur von ebenfalls web-fähigen Geräten, also etwa Tablets, die ebenfalls jeweils alle Möglichkeiten des linearen wie nicht-linearen Fernsehkonsums ermöglichen. Oder sie dienen als Interner Link: second screens, die gleichzeitig als TV-Gerät verwendet werden. Der TV-Bildschirm sei nur noch "ein Display unter vielen", schrieben die Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister und Knut Hickethier.
Schließlich ist es nicht mehr zwingend nötig, einen "Kanal" im konventionellen Sinn zu schauen. Der Slogan "Im Internet wird jeder zu seinem eigenen Programmdirektor" ist vielleicht plakativ, im Kern aber im Prinzip korrekt: Über zahlreiche Plattformen, nicht zuletzt über YouTube, wird das individuelle, nicht an bestimmte Zeiten gebundene Abspielen von Inhalten, anywhere anytime, möglich. Dies bedeutet auch, dass nicht nur viele Filme und TV-Serien jederzeit verfügbar sind, sondern auch Informationen aller Art. Technologie-Konzerne wie Google und Apple arbeiten an eigenen TV-Systemen. Das US-Unternehmen Netflix, das mit dem Verschicken von DVDs per Post anfing und nun massiv ins Abruf-TV im Netz investiert hat, produzierte mit House of Cards eine eigene Serie.
InfokastenNetflix
Der Internetanbieter Netflix (dt. "Internet-Filme") hat zunächst, wie andere Anbieter auch, als Online-Videothek Filme per Post an seine Abonnenten verschickt (DVD). Neuerdings ersetzt die Streaming-Technik den Versand von Bildträgern. Darüber hinaus wurde mit der Eigenproduktion von Serien für die eigenen Kunden begonnen: Die US-Politserie "House of Cards" (Regie: David Fincher; ursprünglich BBC, nach dem gleichnamigen Roman des britischen Schriftstellers Michael Dobbs) ist die erste erfolgreiche "Webserie", die bei den Golden Globes und den Emmy Awards ausgezeichnet wurde.
Vereinfacht gesagt: Der Status "Rundfunkveranstalter" wird zunehmend zu einer juristischen Kategorie. Faktisch senden via Internet viele Anbieter Inhalte, die den klassischen TV-Sendern Konkurrenz machen.
Aufgabenwandel bei den Öffentlich-Rechtlichen?
Daraus folgt die Kernfrage: Was sollen ARD, ZDF und Deutschlandfunk in der digitalen Medienordnung dürfen? Inwieweit hat sich ihr Auftrag durch das Entstehen des konvergenten Medienkanals "Internet" verändert, bzw. auch nicht verändert? Die Regulierung der Öffentlich-Rechtlichen ist Ländersache, aber ist dieses Modell noch zeitgemäß? Und: Was ist Rundfunk in der digitalen Welt überhaupt? Was sind zulassungsfreie Interner Link: Telemedien, was ist Rundfunk?
Zunächst hat sich der Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen durch das Internet nicht verändert:
QuellentextAufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist es, ein jedermann zugängliches Angebot an Informations-, Bildungs- und Unterhaltungssendungen zu machen.
Das Internet eröffne neue Möglichkeiten zur Informations-Ergänzung und Informations-Vertiefung. Entzöge man dem gebührenfinanzierten Rundfunk das Recht, die digitalen Medien zu nutzen, "wäre ihm nicht nur die Möglichkeit eines verbesserten Informationsangebots genommen. Er drohte auch seine Wettbewerbsfähigkeit mit dem kommerziellen Rundfunk zu verlieren." Genau diese Wettbewerbsfähigkeit sei ihm aber verfassungsrechtlich zugesichert.
Dagegen steht die Sorge der kommerziellen Anbieter, die eine stetig wachsende Zahl gebührenfinanzierter digitaler Angebote registrieren. Diese Anbieter wollen den Öffentlich-Rechtlichen nicht komplett den Weg ins Internet versperren, aber sie wollen die Sender dort so gut wie möglich einhegen: Sie wollen definieren (lassen), was genau der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Netz darf und was eben nicht. Was er nicht können soll: den Privaten Konkurrenz machen. Doch wo diese Konkurrenz anfängt und wo sie aufhört, ist fast unmöglich zu beantworten. ARD und ZDF seien für die Interner Link: Grundversorgung der Bürger mit Informations- und Bildungsangeboten verantwortlich, heißt es dann oft. Doch Grundversorgung bedeute nicht "Minimalversorgung", führte der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm aus, Grundversorgung bedeute in diesem Fall "Vollversorgung".
Wie hat die Digitalisierung die Strategie der Öffentlich-Rechtlichen verändert?
Der ehemalige ZDF-Intendant Markus Schächter sagte bereits 2008: "Wer nicht im Netz ist, hat keine Zukunft". Wie der Großteil der kommerziellen Medienunternehmen haben selbstverständlich auch ARD, ZDF und Deutschlandradio verstanden, worauf es in der digitalen Welt ankommt: deutliche Präsenz. Ulrich Wilhelm, einst Regierungssprecher von Angela Merkel und heute Intendant des Bayerischen Rundfunks, sagte im März 2013:
QuellentextDigitalisierung
Wir werden uns nicht mehr wie bisher nach Übertragungswegen aufstellen, sondern nach Inhalten. Das heißt: Wir werden integrierte journalistische Bereiche haben für Aktualität, für Wirtschaft, für Wissenschaft, für Sport und vieles mehr.
Quelle: Ulrich Wilhelm, 2013
Die Hörfunk-Mitarbeiter des BR sind beispielsweise zu den TV-Kollegen auf den "Fernsehcampus" gezogen. Interner Link: Trimedial lautet das Schlagwort. Das heißt: TV, Radio und Internet sollen zusammen gedacht werden.
Dagmar Reim, die Intendantin des rbb in Berlin-Brandenburg, schaffte die Fernsehdirektion und die Hörfunkdirektion ab und führte dafür die Programmdirektion ein. Dort gibt es auch Gesprächsformate, die sowohl im TV wie im Radio laufen.
Der MDR entwickelt ebenfalls Formate, beispielsweise für Radio Sputnik, die auf allen drei Medienkanälen Inhalte anbieten. 2011 wurde beim MDR ein trimedialer Interner Link: Newsdesk in Betrieb genommen und mit Stefan Raue ein "trimedialer Chefredakteur" berufen. "Mit der multimedialen Vernetzung wollen wir unsere Informationskompetenz stärken, Mehrwert bieten und auch jüngere Menschen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk interessieren", sagte Raue zu seinem Start.
Warum birgt diese Strategie Konfliktpotenzial?
Wie eingangs skizziert, folgt aus der digitalen Revolution ein Konflikt, der mit dem bestehenden regulatorischen Instrumentarium nur schwerlich zu lösen sein wird. Die Interner Link: Medienpolitik hat auf die Digitalisierung zwar mit den Novellen des Staatsvertrags reagiert. Bisher wurden aber weder die Folgen der Konvergenz für die etablierten Medien noch die Rolle und Befugnisse neuer Player wie Google und Facebook befriedigend in die bestehende Medienordnung "einsortiert". Fraglich ist auch, ob die bestehenden ordnungspolitischen Regelungen überhaupt auf ein digitales Mediensystem angewendet werden können.
Auf einer sehr grundlegenden Ebene ist die Einführung einer neuen Finanzierungsform für die Öffentlich-Rechtlichen mit der Frage nach deren Rolle in der digitalen Welt verbunden. Gegen die Umstellung auf eine Interner Link: Haushaltspauschale, die bereits Ende 2010 von den Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer beschlossen wurde, regte sich Ende 2012 öffentlicher Unmut, der nicht zuletzt über die Tagespresse artikuliert wurde. So titelte die "Bild"-Zeitung auf der ersten Seite: "Wutwelle gegen GEZ". Die Umstellung ist eine Folge der Digitalisierung: In einer Zeit, in der Fernsehen eben nicht nur aus dem Fernseher kommt, sondern auch auf dem Handy oder dem Tablet läuft, ist eine gerätebezogene Abgabe in der Tat nicht länger sinnvoll. Die alte Rechtslage sei "von der Wirklichkeit überholt" worden, sagte beispielsweise BR-Intendant Ulrich Wilhelm.
Die Öffentlich-Rechtlichen geraten unter Legitimationsdruck
Im Zuge der Umstellung wurde aber gleichzeitig die Legitimationsfrage provoziert: Wofür brauchen wir heute die öffentlich-rechtlichen Sender? In der Debatte stehen sich zuweilen sogar die Argumente der Kritiker gegenüber. Die privaten Medienunternehmen betrachten die digitale Strategie der Öffentlich-Rechtlichen seit Jahren als eine Art Ausweitung der Kampfzone. Die Expansion beispielsweise mit neuen Digitalkanälen erfordere jeweils mehr Mittel, dieses führe wiederum zu einem erhöhten Finanzbedarf, der schließlich in einem gestiegenen Rundfunkbeitrag münde. Die Einführung der Haushaltsabgabe wird im privaten Lager als ein Weg gesehen, die Mittel, die in das öffentlich-rechtliche System fließen, weiter zu vermehren. ProSiebenSat.1-Chef Thomas Ebeling spricht wie andere seiner Kollegen von einer "Zwangsgebühr". Für die Öffentlich-Rechtlichen ist der Ausbau des Systems dagegen tatsächlich zwingend nötig, um weiter ausreichend von den Bürgern wahrgenommen zu werden.
Der Druck, der seitens der Gebührenzahler aufgebaut wird, kommt aus einer ganz anderen Richtung: Sie fordern einen Gegenwert für ihre monatlichen Zahlungen von 17,98 Euro. Aus ihrer Sicht ist eine Expansion der Öffentlich-Rechtlichen auf alle verfügbaren Kanäle nicht fragwürdig, sondern wünschenswert. Sie fragen sich aber: Was tun die Sender für mich? Wie kann ich auch auf meinen neuen Geräten, beispielsweise meinem Tablet-PC, TV sehen oder Radio hören? Wie kann ich den "Tatort" vom Sonntag auch am Mittwoch danach via Mediathek abrufen?
Neue Anbieter erfordern eine neue Systematik
Neben den Konflikten, die sich zwischen den etablierten Playern in der Medienlandschaft entzündet haben, gibt es auch neue Anbieter, mit denen sowohl öffentlich-rechtlichen wie private Fernsehanbieter konkurrieren. Die vor allem bei Jugendlichen extrem populäre Plattform YouTube ist nach geltender Regelung kein Rundfunk. YouTube, sagte RTL-Medienpolitikchef Tobias Schmid, sei "ein ernst zu nehmender Konkurrent". Die Frage sei nur, "ob als Sender oder eben als Plattform unzähliger weiterer Nischenangebote". In Paragraph 2 des Rundfunkstaatsvertrags ist festgehalten:
InfokastenRundfunkstaatsvertrag
§ 2 Begriffsbestimmungen
"(1) Rundfunk ist ein linearer Informations- und Kommunikationsdienst; er ist die für die Allgemeinheit und zum zeitgleichen Empfang bestimmte Veranstaltung und Verbreitung von Angeboten in Bewegtbild oder Ton entlang eines Sendeplans unter Benutzung elektromagnetischer Schwingungen. Der Begriff schließt Angebote ein, die verschlüsselt verbreitet werden oder gegen besonderes Entgelt empfangbar sind. Telemedien sind alle elektronischen Informations- und Kommunikationsdienste, soweit sie nicht Telekommunikationsdienste nach § 3 Nr. 24 des Telekommunikationsgesetzes sind, die ganz in der Übertragung von Signalen über Telekommunikationsnetze bestehen oder telekommunikationsgestützte Dienste nach § 3 Nr. 25 des Telekommunikationsgesetzes oder Rundfunk nach Satz 1 und 2 sind."
Christoph Keese, Konzerngeschäftsführer Public Affairs bei der Axel Springer AG, meinte 2011 in einem Interview: "Das Internet passt nicht in die Systematik des heutigen Rundfunkbegriffs. Die Hilfskonstruktionen erweisen sich zunehmend als nicht mehr tragfähig". Zuvor hatte die WDR-Intendantin Monika Piel gesagt, die Nachrichtenwebsite Bild.de müsse eigentlich eine Rundfunklizenz beantragen, weil dort viele Bewegtbildinhalte abrufbar seien. Dies lehnen Verlagsvertreter ab – sie verweisen darauf, dass auch die Printpresse keine Lizenz benötigt. Betreiber von Angeboten im Netz sollten ebenfalls keine Lizenz beantragen müssen, sondern sich einer Selbstregulierung unterwerfen. Keese: "Wenn Fernsehen und Internet verschmolzen sind, werden unterschiedliche Regulierungen endgültig zum Anachronismus".
ProSiebenSat.1-Chef Thomas Ebeling forderte 2011: "Entweder werden Google und Facebook angemessen reguliert, oder die bestehenden Regulierungen für die Fernsehsender werden gelockert". Tendenziell bedeutet das, das die Privatsender eher nicht wollen, dass YouTube und Co. zu Rundfunksendern erklärt werden. Sie wollen umgekehrt weniger Regulierung für ihre eigenen Angebote. Denn: Während beispielsweise ein Nachrichtensender im TV den Regulierungsregeln unterliegt, ist sein im Netz verbreitetes Angebot diesen Regeln nicht unterworfen. Tobias Schmid (RTL): "Das Wichtigste ist, dass alle Medienanbieter, die miteinander konkurrieren, das gleiche Regulierungsniveau haben". Das heißt: Schmid geht davon aus, dass vor allem bei der Werberegulierung die Standards eher sinken als steigen.
Ausgesuchte Konfliktfälle im Detail
Der Streit um die Tagesschau-App
Eines der Symbole in der Auseinandersetzung um die Rolle der öffentlich-rechtlichen Sender in der digitalen Welt ist die Tagesschau-Interner Link: App. Die Anwendung, die für Smartphones und Tablets der gängigen Betriebssysteme verfügbar ist, bietet Nutzern Videos, Bilder und Texte der Tagesschau-Website wie auch Livestreams der Nachrichten-Sendungen in einem für die jeweiligen Geräte optimierten Design. Die App ist seit Ende 2010 verfügbar und entwickelte sich rasch zu einer populären Anwendung. Sie ist kostenlos und wurde bisher mehrere Millionen Mal heruntergeladen.
Zum besseren Verständnis: Auf Smartphones und Tablets sind Nachrichten-Apps neben Spielen und Serviceprogrammen zu finden, also beispielsweise neben einer Wetterbericht-App oder einem Navigationsprogramm. Das Smartphone und noch mehr das Tablet sind Unterhaltungs- und Info-Center, in der verschiedenste Anwendungen um Aufmerksamkeit konkurrieren. Hunderte von deutschen Medienmarken, von der "Saarbrücker Zeitung" über den "Spiegel" bis zum "Feinschmecker", sind mittlerweile als App verfügbar. Große Medienmarken haben gar ganze Produktfamilien entwickelt. Das Ziel kommerzieller Medienunternehmen ist in der Regel, die Apps sowohl über den Verkauf der App an die Nutzer wie auch den Verkauf von Werbung zu refinanzieren.
Am 21. Juni 2011 reichten acht Zeitungsverlage eine gemeinsame Wettbewerbsklage gegen die ARD und den für die Tagesschau verantwortlichen NDR ein. Das Kernargument der Kläger: Die App sei zu textlastig, damit "presseähnlich", also direkte Konkurrenz. Diese "Presseähnlichkeit" sei aber durch den Rundfunkstaatsvertrag verboten: "Ohne konkreten Bezug zu einer erfolgten Sendung" dürften öffentlich-rechtliche Sender keine "presseähnlichen digitalen Inhalte" verbreiten. Dietmar Wolff, der Geschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverlage, sagte dazu: "Es bedarf in Deutschland keiner staatsfinanzierten Presse". Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, so sehen das zumindest die Verlagsvertreter, seien keine Presse.
Für die Verlage, zu denen u. a. die Herausgeber der "FAZ", der "Süddeutschen Zeitung" und der "Welt" gehören, kommt erschwerend hinzu, dass die Tagesschau-App kostenlos angeboten wird – so wie auch das Web-Angebot der Nachrichtensendung gratis ist. Dies hat allerdings seinen guten Grund, denn die über die App ausgespielten Inhalte wurden bereits über den Rundfunkbeitrag von ihren Nutzern bezahlt. Aus Sicht der kommerziellen Anbieter, die zumindest für einen Teil ihrer App-Angebote Geld von Nutzern verlangen, wirkt die Tagesschau-Anwendung aber wettbewerbsverzerrend. "Wenn sich bezahlte Applikationen auf mobilen Geräten nicht durchsetzen, wird dies Tausende Arbeitsplätze in der Verlagsbranche kosten", prognostizierte beispielsweise Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG. Diese Wettbewerbsverzerrung, argumentierte dagegen der Medienjournalist Stefan Niggemeier, sei im dualen System geradezu gewollt:
QuellentextÖffentlich-rechtlicher Rundfunk
Gerade wenn alle anderen Medien hochwertige journalistische Inhalte nur noch gegen Geld anböten, müsste der öffentlich-rechtliche Rundfunk kostenlos bleiben: damit auch diejenigen Menschen, die sich die kostenpflichtigen Angebote nicht leisten können, gut versorgt werden.
Quelle: Stefan Niggemeier, 2010
Zurück zur Wettbewerbsklage: Zu einer vom zuständigen Richter am Landgericht Köln angeregten außergerichtlichen Einigung kam es nicht. Eine weitgehend ausgearbeitete "Gemeinsame Erklärung", die eine Beschränkung der Textinhalte seitens der Sender und eine Zurückhaltung bei der Bereitstellung von Bewegtbildern seitens der Zeitungsverlage vorsah, wurde schließlich doch nicht unterzeichnet. Das Gericht entschied schließlich im September 2012, die geprüfte "Ausgabe" der App vom 15. Juni 2011 stelle ein "nicht-sendungsbezogenes, presseähnliches" Angebot dar. Dies sei nach dem Rundfunkstaatsvertrag nicht zulässig. Ein generelles Verbot der App sei aber nicht möglich, denn diese habe zuvor erfolgreich den Interner Link: Drei-Stufen-Test, ein 2009 eingeführtes Genehmigungsverfahren, durchlaufen. Und: Das Urteil bezieht sich tatsächlich nur auf die "Ausgabe" vom 15. Juni 2011.
Aus Sicht der klagenden Verlage war dieses Urteil ein Teilsieg. Denn das Gericht gelangte zu der Auffassung, die App könne "als Ersatz für die Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften" dienen. WDR-Chefin Piel schwächte dies mit dem Verweis auf die fehlende Allgemeingültigkeit des Urteils ab. Der Konflikt könne nur medienpolitisch, nicht aber juristisch geklärt werden. Vermutlich primär aus formalen Gründen legte die ARD Berufung gegen das Urteil ein. In den vergangenen Monaten suchten Vertreter der Öffentlich-Rechtlichen wieder einen Konsens mit den Verlagen. BR-Intendant Ulrich Wilhelm sagte beispielsweise, es sei "an der Zeit, nach gemeinsamen Interessen" zu suchen. So könnten die Sender den Verlagen "Know-how" über den Aufbau von Bewegtbildern im Netz beibringen. Ganz neu ist der Ansatz nicht – eine Reihe von Verlagen hatte bereits mit den Öffentlich-Rechtlichen kooperiert, etwa die WAZ Gruppe und der WDR. Auf den Websites der WAZ-Zeitungen wurden ab 2008 vom WDR produzierte Bewegtbilder zum Abruf bereitgestellt. Im Zuge der Konflikte wurde die Zusammenarbeit nach drei Jahren wieder beendet.
QuellentextUrteil des Landgerichts Köln, 31 O 360/11
Die Beklagten werden verurteilt, es bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 €, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungsgeld bis zu 6 Monaten zu unterlassen, das Telemedienangebot "Tagesschau-App" wie in der mit diesem Urteil verbundenen Anlage K 1 enthalten zu verbreiten/verbreiten zu lassen.
Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerinnen 20% und die Beklagten 80%.
Das Urteil ist hinsichtlich Ziffer 1. gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 300.000,00 €, im Übrigen gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand Bei den 11 Klägerinnen handelt es sich um Zeitungsverlage, deren Angebot auch elektronisch, teilweise über sogenannte Apps, abrufbar ist. Die Beklagte zu 1 ist die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (künftig ARD). Der Beklagte zu 2, der Norddeutsche Rundfunk (künftig NDR) ist innerhalb der ARD verantwortlich für die Umsetzung des Telemedienangebots "Tagesschau-App", das die Klägerinnen mit der vorliegenden Klage als wettbewerbsrechtlich unlauter angreifen. Dem liegt folgendes zugrunde: Der Rundfunkstaatsvertrag in seiner aktuellen Fassung enthält in § 11 d (erstmals nähere) Regelungen darüber, ob und in welcher Form die ARD, das ZDF und das Deutschlandradio über die herkömmlichen Fernseh- und Rundfunkangebote hinaus auch Telemedien anbieten dürfen, die journalistisch-redaktionell veranlasst und journalistisch-redaktionell gestaltet sind. Nach der Gesetzessystematik werden dabei unterschieden sendungsbezogene und nicht sendungsbezogene Angebote. In § 11 d Abs. 2 Nr. 3 letzter Halbsatz heißt es: "Nicht sendungsbezogene presseähnliche Angebote sind nicht zulässig". Des Weiteren ist in § 11 d und § 11 f RStV im Einzelnen geregelt, wann und in welcher Form sog. Telemedienkonzepte vorzulegen sind, die in einem bestimmten Verfahren geprüft und genehmigt werden müssen. Wegen der Einzelheiten wird auf die gesetzlichen Bestimmungen verwiesen. Die Beklagte zu 1 hat unter der Federführung des Beklagten zu 2 ein solches Telemedienkonzept für das Angebot "tagesschau.de" entwickelt, das nach Durchlaufen des sog. Drei-Stufen-Tests mit Bescheid vom 17.08.2010 genehmigt wurde. Die hierzu eingereichten Unterlagen, Stellungnahmen und Bescheide sind zwischen den Parteien nicht im Streit. Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen. Seit dem 21.12.2010 haben die Beklagten zusätzlich das Angebot "Tagesschau-App" bereitgestellt. Dabei handelt es sich um ein Angebot, das – anders als das Angebot "tagesschau.de" für das Internet – für die verschiedenen Betriebssysteme von Smartphones und Tablet-PCs von jedem Interessenten kostenlos auf den jeweiligen Plattformen abrufbar ist. Mittlerweile soll es etwa 4 Millionen Downloads dieser Applikation gegeben haben.
Neben der Tagesschau-Apps gibt es viele weitere von öffentlich-rechtlichen Sendern entwickelte Anwendungen für Tablets und Smartphones, etwa die ZDF-Mediathek, die ARD Sportschau und viele Radio-Apps, über die sich das live gesendete Programm beispielsweise via Smartphone hören lässt. Die seit Februar 2013 verfügbar "heute"-App des ZDF stieß erwartungsgemäß auf Kritik der Verlegerverbände. Auch in diesem Fall lautet deren Urteil: Zu textlastig. Für die App werde keine einzige Zeile Text mehr geschrieben, als auf der Website zu lesen sei, entgegnete Eckart Gaddum, der bei dem Mainzer Sender für Neue Medien verantwortlich ist.
Der Konflikt zwischen Verlagen und gebührenfinanzierten Sendern besteht nicht erst seit dem Start der Tagesschau-App. Vehement kritisieren vor allem Zeitungsverleger die Online-Strategie der Öffentlich-Rechtlichen insgesamt. Problematische Angebote der Sender im Netz sind aus ihrer Sicht beispielsweise Foren, Chats und Communities mit Themen ohne "gesellschaftlichen Mehrwert", mobile Dienste in Konkurrenz zu Verlagsangeboten, Fotogalerien, Spiele- und Quiz-Angebote ("Spielen mit der Maus", "ZDF Torwandschießen"), Tipp- und Gewinnspiele.
Im 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag wurde zum 1. Juni 2009 ein sogenannter Drei-Stufen-Test eingeführt, ein Genehmigungsverfahren für Telemedien. Seither wird auf Weisung der EU-Kommission und nach dem Vorbild des Public Value Test der BBC durch die jeweiligen Rundfunkräte geprüft, ob die gesellschaftliche Relevanz eines digitalen Angebotes gegeben ist, ob es zum publizistischen Wettbewerb beiträgt und ob der Kostenrahmen stimmt. Besteht ein Angebot den von externen Gutachtern durchgeführten Test, darf es online gehen bzw. im Netz bleiben. Fällt es durch, muss es eingestellt werden.
Der Stufentest ist auch vier Jahre nach seinem Beschluss nach wie vor umstritten. Kritiker sagen, das Verfahren sei zu teuer und kontrolliere die Sender bzw. deren Angebote gar nicht wirklich – denn eigentlich sollten nicht die Rundfunkräte die Ergebnisse der Tests prüfen, sondern möglichst eine unabhängige Kommission die Aufsicht bekommen. So aber dürfen die Rundfunkräte die Gutachter etwa selber auswählen. Im Interviewteil der 2013 veröffentlichten Studie "Im öffentlichen Auftrag" von Fritz Wolf urteilen allerdings amtierende oder ehemalige Rundfunkräte selber sehr kritisch. Der Test sei "schrecklich" gewesen, "zeitraubend", "ein Muster ohne Wert" und "reine Geldverschwendung". So sollen in einigen Fällen Gutachten sechsstellige Summen gekostet haben – und damit teurer gewesen sein als das begutachtete Angebot. Im vorauseilenden Gehorsam hatten die Sender bereits 2009 Web-Angebote eingestellt, die den Test nicht bestanden hätten, darunter Single-Börsen, ein "virtuelles Tierheim" und Versicherungsrechner.
Die Mediatheken und die Sieben-Tage-Regel
Das Web ist das größte Archiv der Menschheit. Täglich wächst es z. B. um Millionen von Videos. Auf dem Videoportal YouTube, das zu Google gehört, wurden Mitte 2013 pro Minute rund 100 Stunden Bewegtbildmaterial eingestellt. Für TV-Sender bietet das Netz wie für alle anderen Medienanbieter die Chance, ein permanentes Archiv aufzubauen, das sofort verfügbar ist. Es ist naheliegend, diese Sammlung den Gebührenzahlern zur Verfügung zu stellen: 2008 öffnete die ARD ihre Mediathek im Netz, das ZDF war deutlich schneller und schickte eine erste Version ihrer Mediathek schon 2001 online.
Der im Jahr 2009 beschlossene 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag zwang die Sender, große Teil ihrer Archive im Netz zu "depublizieren", spricht: zu löschen. Mit dieser Maßnahme soll die Ausdehnung der Öffentlich-Rechtlichen im Web begrenzt werden. Das "Verweildauerkonzept" im Staatsvertrag sieht vor, dass reguläre TV- und Radiosendungen sieben Tage nach ihrer Ausstrahlung wieder offline gehen, also "depubliziert" werden müssen. Aufzeichnungen von Großereignissen, darunter Sport-Events, können nur 24 Stunden in der Mediathek abrufbar sein. Beiträge aus den Politikmagazinen der Sender müssen nach maximal einem Jahr aus den Archiven verschwinden. "Zeit- und kulturgeschichtliche Inhalte", die inhaltlich nicht näher bestimmt werden, dürfen dagegen unbefristet eingestellt werden.
SWR-Intendant Peter Boudgoust, im Jahr 2010 ARD-Vorsitzender, fasste damals den Ärger der Öffentlich-Rechtlichen über den Zwang zur Löschung zusammen:
QuellentextÄrger des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks
Beliebte Inhalte der ARD im Internet müssen von uns aus dem Netz genommen werden. Und die Möglichkeit, unsere Sendungen zeitlich unbegrenzt abzurufen, ist bereits jetzt vielfach eingeschränkt. Das ist schade, da unsere Angebote vor allem wegen der vielen Audios und Videos für die Gebührenzahler einen deutlichen Mehrwert im Netz bieten.
Quelle: Peter Boudgoust, SWR-Intendant, 2010
Das Gegenargument der Kritiker in den Verlagen läuft in etwa analog zu der Streitlinie im Fall "Tagesschau-App": Allein die schiere Masse an Texten, Bildern und Videos mache es privat finanzierten Anbietern schwer, mit werbefinanzierten Angeboten ihr Geschäftsmodell noch profitabel zu führen. Darum müssten die Inhalte auch quantitativ begrenzt werden.
In der Theorie ist es durchaus denkbar, dass öffentlich-rechtliche und private Online-Angebote substituierbar (austauschbar) sind. Diesen Nachweis aber auch zu führen, ist in der Praxis schwer möglich. Leicht vermittelbar ist der Vorgang des "Depublizierens" jedenfalls nicht – die Inhalte, die nun unweigerlich nach einer festgelegten Zeit gelöscht werden, wurden allesamt von den Gebührenzahlern finanziert. Gegen die Sieben-Tage-Regel sprach sich unlängst Ruprecht Polenz (CDU) aus, der Chef des ZDF-Rundfunkrates. In einem Interview sagte er: "Für viele jüngere Nutzer sind die Mediatheken inzwischen der entscheidende Zugang zu den Angeboten von ARD und ZDF. Man sollte es den Rundfunkanstalten überlassen, wie lange sie ihre Beiträge über Mediatheken abrufbar halten wollen. Das würde sicher auch der Akzeptanz des Rundfunkbeitrages dienen". Trotz der Gegenmeinungen drängten ARD und ZDF zuletzt darauf, ihre Mediatheken erweitern zu dürfen. Sie wollen künftig dort auch zugekaufte (also nicht selbstproduzierte) Serien und Spielfilme einstellen.
Eine Stufe weiter als die Mediatheken geht das Projekt "Germany's Gold", das die kommerziellen Tochterfirmen von ARD und ZDF mit elf Produktions- und Rechtefirmen planen. Dahinter steckt ein Interner Link: Video-on-Demand-Portal, also eine Abrufplattform, bei dem Nutzer gegen Bezahlung eine große Auswahl von Filmen anschauen können. Eine "Verweildauer" für Inhalte würde es auf dieser Plattform nicht geben. Das Bundeskartellamt hatte jüngst Bedenken gegen die Pläne geäußert, weil die Sender auch eine gemeinsame Werbevermarktung für das Portal aufziehen wollen. Dies könne zu einer Wettbewerbsverfälschung führen.
Zuvor hatte das Kartellamt ein ähnliches Projekt der TV-Gruppen RTL und ProSiebenSat.1 mit Namen "Amazonas" untersagt. Auch hier lag es an der geplanten Werbevermarktung, denn die Sendergruppen verfügten bereits über ein "marktbeherrschendes Duopol" auf dem Fernsehwerbemarkt. "In-Stream-Videowerbung", also Werbung in über das Netz gestreamten Filmen, sei der TV-Werbung zuzurechnen. Die Privaten sehen sich allerdings im Internet als Konkurrenten solcher Online-Player wie YouTube oder anderer On-Demand-Plattformen – ziehen also eine ganz andere Marktabgrenzung als das Kartellamt mit dem Bezug zum herkömmlichen Fernsehwerbemarkt.
Die Expansion in Digitalkanäle
In den vergangenen Jahren haben ARD und ZDF um ihre Hauptsender herum eine Reihe von zusätzlichen Kanälen aufgebaut. Wie auch im Fall der Tagesschau-App verhalten sich die Öffentlich-Rechtlichen hier wie alle kommerziellen Anbieter auch – das Ziel ist der Aufbau einer Produktfamilie. Dies resultiert aus der Erkenntnis, dass die Mediennutzung immer stärker fragmentiert. Also: Das TV-Ereignis "Wetten, dass...?" war früher so etwas wie ein" "Lagerfeuer", weil sich die gesamte Familie vor dem Bildschirm wiederfand, generationenübergreifend. Inzwischen hat sich der Trend zur Nische verstärkt. Und je mehr Ausgabegeräte in einem Haushalt zur Verfügung stehen, umso wahrscheinlicher wird es, dass einzelne Familienmitglieder auch am Samstagabend ihren jeweiligen Interessen nachgehen, statt gemeinsam etwas zu schauen.
Neben dem "Ereigniskanal" Phoenix (ARD und ZDF halten je 50 %), dem Kinderkanal KiKA (ARD und ZDF je 50 %), 3sat (ARD, ZDF, ORF und SRG) und dem deutsch-französischen Sender Arte (ARD und ZDF halten gemeinsam 40 %) haben ARD und ZDF jeweils drei Digitalkanäle aufgebaut, die über Kabel- und Satelliten-TV zu empfangen sind. Die ARD bietet Tagesschau24 (NDR), Einsfestival (WDR) und EinsPlus (SWR). Das ZDF wartet auf mit ZDFinfo, ZDFneo und ZDFkultur.
Gedacht sind diese Kanäle als Angebote auch und vor allem an junge Menschen, an Kulturinteressierte und Informationshungrige: Die Jugendlichen sollten durch populäre Moderatoren wie etwa Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf Sender wie ZDFneo frequentieren; im Idealfall könnten die jungen Zuschauer dann irgendwann einmal ins Hauptprogramm des ZDF gelotst werden. Beide Moderatoren wechselten inzwischen jedoch zum Privatsender ProSieben. Auch, indem Sendungsformate, die zuvor erfolgreich bei einem Digitalkanal liefen, ins Hauptprogramm geholt werden. Der "Generationenabriss", vor dem etwa der ehemalige ZDF-Intendant Markus Schächter wiederholt warnte, könnte verhindert werden. So zumindest die Theorie.
Nun sagen wiederum die Kritiker, die Digitalkanäle gingen am Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen vorbei. ZDFneo sei ja beispielsweise als Kanal für Dokumentationen angelegt gewesen, sagte der Geschäftsführer des Senders Tele 5, Kai Blasberg. Für dieses Konzept habe es eine Genehmigung der Ministerpräsidenten gegeben. Aber, so Blasbergs Chef Herbert Kloiber: "Jetzt zeigt das ZDF dort Serien und Spielfilme. Das ist auch ein Angriff auf uns. Da gehen wir auf die Barrikaden".
Kurt Beck, einst medienpolitische Leitfigur der SPD, sprach sich bereits Ende 2011 für eine Reduzierung der Digitalkanäle aus. Die Angebote machten Phoenix, Arte und 3sat Konkurrenz – aus den eigenen Reihen. Fest steht: Ohne eine Bereinigung wird es nicht gehen. Die Kosten für alle sechs Kanäle belaufen sich auf etwa 90 Millionen Euro. ZDF-Intendant Bellut kündigte bereits an, ZDFkultur zu opfern. Und ARD-Intendant Marmor schlug jüngst vor, die sechs Digitalkanäle zu fusionieren, also Einsfestival und ZDFneo, tagesschau24 und ZDFinfo sowie EinsPlus und ZDFkultur zusammenzuführen. Sein Motto: "Gemeinsam sind wir stärker." ZDF-Chef Bellut lehnt diesen Vorschlag als zu kompliziert ab.
Die Idee eines gemeinsamen Jugendkanals, die vor allem von der ARD befördert wird, sieht Bellut ebenfalls skeptisch. Die ARD könne diesen Plan auch alleine umsetzen, das ZDF konzentriere sich dafür auf ZDFneo und ZDFinfo. Das wiederum will die ARD nicht. Der ARD-Vorsitzende Lutz Marmor rechnet mit einem Start des Kanals im Jahr 2015, erklärte er in einem Interview.
Bei den privaten Anbietern stößt die Vorstellung eines Jugendkanals von ARD und ZDF kaum auf Gegenliebe. Es stelle sich die Frage nach der Finanzierung; die bisherige WDR-Chefin Monika Piel geht von "mindestens" 60 Millionen Euro im Jahr aus, die der Kanal kosten werde. Der Geschäftsführer des Verbandes Privater Rundfunk und Telemedien (VPRT), Claus Grewenig, sagte, die Idee eines Jugendkanals folge der "Verspartungsidee". Zudem sei zu befürchten, "dass auch hier mehr Geld in immer kommerziellere Programminhalte fließen wird". Der Jugendkanal könnte nur mit Zustimmung der Länderchefs entstehen. Wesentlich positiver sieht der VPRT dagegen die Idee der Reduktion auf drei Sender. So viel Zustimmung zu einer Idee aus der ARD war vermutlich lange nicht in dem Verband.
Die ARD plädiert für mehr Zusammenarbeit, das ZDF will die Aufgaben lieber zwischen den beiden großen Anstalten aufteilen. Bis Ende April 2013 sollte eine gangbare Lösung gefunden werden. Doch, so befand der CDU-Medienpolitiker Johannes Beermann:
QuellentextARD und ZDF
Die Sender sind gerade mal aus den Bunkern in die Schützengräben gerobbt, wo sie sich jetzt einbuddeln.
Quelle: Johannes Beermann, Staatsminister und Chef der Sächsischen Staatskanzlei, CDU
Was Beermann recht drastisch formuliert, teilen von der Sache her auch andere Medienpolitiker: Die Expansion der Öffentlich-Rechtlichen muss finanziell gebremst werden. Der Einsicht fügen sich mittlerweile auch Intendanten, so Thomas Bellut: "Ich glaube wirklich, dass die Grenze der Ausdehnung des Systems erreicht ist".
Ausblick in die Zukunft
In Zukunft werden nahezu alle Empfangs- und Lesegeräte auch internetfähig sein. Der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Menschen wird sich in den kommenden Jahren darum zunehmend auf digital vernetzten Geräten abspielen. Die Wirkungsmacht des Internets hat die Medienordnung nachhaltig verändert. Es ist nun Aufgabe der Medienpolitiker, über neue Regeln für ein neues Medienzeitalter nachzudenken. Alle hier genannten Konflikte sind Resultate von Leerstellen der Regulierung. Doch es bedarf womöglich nicht mehr Regulierung, sondern einer anderen Regulierung, die der konvergenten Medienwelt konsequent Rechnung trägt.
Kritiker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wie der "Handelsblatt"-Journalist Hans-Peter Siebenhaar sagen, der Auftrag zur medialen Grundversorgung sei im digitalen Zeitalter "schlichtweg überflüssig" geworden. Angesichts der Informationsfülle im Netz litten die gebührenfinanzierten Sender unter einem Bedeutungsverlust. Es mag Anhaltspunkte für diese These geben, etwa das hohe Durchschnittsalter der Zuschauer von ARD und ZDF, das bei rund 60 Jahren liegt. Doch auch wenn die öffentlich-rechtlichen Sender mitunter schwerfällig wirken – sie haben es bisher durchaus verstanden, die neuen Möglichkeiten digitaler Medienkanäle sinnvoll zu nutzen. Die Kritik von Privatsendern und Verlagen wäre nicht so deutlich, wenn ARD und ZDF nicht auch vieles richtig gemacht hätten.
Zum Weiterlesen auf bpb.de
Dossier Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West:
Die "Tagesschau" und "Tagesthemen" der ARD
Erste Kriminalserien im West-Fernsehen
Erste Nachrichtensendungen in West und Ost
Finanzierung durch den Rundfunkbeitrag
"Glücksrad" und Co. – Quizshows nach amerikanischem Vorbild
Christian Meier ist Chefredakteur des Medien-Branchendienstes MEEDIA. Zuvor war er u.a. Ressortleiter Digital des Branchendienstes kressreport und Kolumnist der Welt am Sonntag. Als Autor schrieb und schreibt er u.a. für die Zeit, den Tagesspiegel, die NZZ und das Medium Magazin. Meier studierte Nordamerikastudien, Geschichte und Volkswirtschaft an der WWU Münster, der University of Washington in Seattle und der Freien Universität Berlin. 2012 erschien Medien - Basiswissen für die Medienpraxis (Halem), das er gemeinsam mit Stephan Weichert schrieb.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).