Der Artikel erschien in der drehscheibe Sonderpublikation Angekommen in Deutschland (1,33 MB).
Jede Medaille hat zwei Seiten, das ist der Kern des journalistischen Einmaleins. Aber es gibt nie die Guten und die Bösen, sondern die Guten, die mal böse sind, und die Bösen, die Gutes tun. Bei der Flüchtlingsdebatte in „gut“ und „böse“ einzuteilen und nur über die „Guten“ zu schreiben, ist daher nicht nur falsch, es ist auch töricht. Selbstverständlich werten Banken ein Grundstück neben einem Flüchtlingsheim ab – und zwar unabhängig davon, ob Politiker die Debatte darüber unanständig finden. Selbstverständlich irritieren andere Sitten Menschen, die damit nie konfrontiert waren. Und selbstverständlich passiert menschlich Abgründiges, wo Menschen auf engstem Raum zusammen sind. Wer das bewusst ausblendet, vergreift sich an einem Kernprinzip journalistischen Selbstverständnisses: Sei so nah dran, dass du alles erkennst, bleib so weit weg, dass du dich nicht gemein machst.
Finger in Wunden legen
Es mag sein, dass die Polizei nicht offen mit Gewalt durch Flüchtlinge oder Gewalt an diesen umgeht. Beides stört das Bild einer friedlichen Willkommenskultur. Aber das darf nicht der Maßstab unseres Handelns sein. Unsere Aufgabe ist es auch hier, freien gesellschaftlichen Diskurs zu befördern und den Finger in die Wunden zu legen. Und die klaffen überall: bei denen, die die wildesten Gerüchte über die „Barbaren aus dem Morgenland“ befeuern, und bei denen, die glauben, ein freundliches Willkommen könne die tiefen gesellschaftlichen Gräben überbrücken, die durch das Aufeinandertreffen so unterschiedlicher Kulturen entstehen. Das alles sind Themen für uns Journalisten, denn hier müssen wir aufklären.
Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel
Tabuisierung ist eine manipulative Rechtfertigungsmethode. Wenn wir diesen Mechanismen folgen, wird aus freiem Journalismus Agitation und Propaganda. Stattdessen sollten wir beispielsweise die immer kruder werdenden Posts in den einschlägigen Facebook-Gruppen an die Öffentlichkeit zerren. Ihre Urheber radikalisieren sich ja auch, weil die reale Gegenöffentlichkeit fehlt. Mein Plädoyer: Jede Lokalredaktion sollte das Thema gemeinsam diskutieren. Welche Stimmen hatten wir noch nicht im Blatt? Welche Experten gibt es vor Ort? Was sagt die Bank wirklich zu den Grundstücken? Wer hilft, wer verdient an den Flüchtlingen? Gibt es ein geeignetes Dialogformat? Wenn wir nicht endlich lernen, ausgewogen zu berichten, wird unser Akzeptanzproblem bei den Lesern noch größer. So gesehen steht unsere Glaubwürdigkeit bei diesem Thema auf dem Spiel. Es ist umgekehrt aber auch unsere große Chance.
Text: Ralf Freitag