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Praxis: "Richte keinen Schaden an, ganz einfach" Podiumsdiskussion: Berichten über Katastrophen

Peter Schwarz

/ 3 Minuten zu lesen

Der Amoklauf eines Schülers im Baden-Württembergischen Winnenden im Jahr 2009 erschüttert die Region. Während die Berichterstattung in den Medien und das Verhalten der angereisten Journalisten in die Kritik gerät, entscheiden sich die Journalisten der Lokalredaktion für einen anderen Weg, über den Fall zu berichten. Mit der Ethik im Journalismus befasste sich 2011 eine Podiumsdiskussion beim Forum Lokaljournalismus in Waiblingen. Welche Lehren müssen die Medien aus der Berichterstattung über den Amoklauf von Winnenden ziehen? Was lief falsch, was richtig? Wie können Zeitungen ihrer ethischen Verantwortung gerecht werden?

Zettel mit den Worten "Keine Presse und Gegen Paparazzi" sind am Freitag, 13. März 2009, in Winnenden in den Fenstern einer Nachbarschule der Albertville-Realschule in Winnenden zu sehen. Am Mittwoch hatte dort ein Amokläufer neun Schüler und drei Lehrer erschossen. Insgesamt kamen 16 Menschen ums Leben. (© AP)

Es ist ganz einfach, im Grunde sind sich darüber alle auf dem Podium einig. Wie ein Berichterstatter sich im Angesicht einer schrecklichen Katastrophe zu verhalten hat, lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen, und um ihn zu begreifen, reicht der gesunde Menschenverstand: "First do no harm", sagt Bruce Shapiro vom Dart Center for Journalism and Trauma – keinen weiteren Schaden anzurichten bei den Betroffenen, das sei die erste Leitlinie.

Wer über Entsetzliches wie einen Amoklauf, eine Naturkatastrophe, einen Verkehrsunfall berichtet, muss sich in jedem Augenblick der Verantwortung gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen bewusst sein. Sie sehen sich vollkommen unvorbereitet in eine Situation hineingeworfen, aus der es keinen Ausweg gibt – in solch einer Lage "ruht eine erhöhte Verantwortung auf den Schultern des Journalisten", sagt Gisela Mayer, deren Tochter Nina am 11. März erschossen wurde. Alles Weitere ergibt sich daraus – die psychologische Nachsorge hat in Winnenden in einer viel beachteten Handreichung für Journalisten die naheliegenden Regeln durchdekliniert: Trauernde nicht bedrängen; keine Minderjährigen befragen; Schulen und Wohnhäuser nicht belagern. Oder mit den Worten von Frank Nipkau, Redaktionsleiter beim Zeitungsverlag Waiblingen: die "Jagd auf Opfer- Fotos und Opfer-Geschichten" nicht mitmachen, nicht zwei Stunden nach der Tat bei den schockstarren Eltern klingeln: Haben Sie Bilder von Ihrer Tochter? Hatte sie einen Freund? Der Zeitungsverlag Waiblingen hat auf blutige Einzelheiten der Tat verzichtet – und "es gab keinen Leser, der gesagt hat, da hat uns was gefehlt". Man kann sich der Hatz nach den grellsten Details also entziehen – und nimmt gerade dadurch keinen Schaden: Lokaljournalisten sind keine routinierten Katastrophenprofis, die von irgendwoher anreisen, eine Geschichte raushauen und wieder verschwinden; Lokaljournalisten sind auch keine "Bild"-Reporter, von denen man nun mal weiß, dass Behutsamkeit, Zurückhaltung, Respekt nicht Teil des Geschäftsmodells sind; Lokaljournalisten müssen auch am Tag, in der Woche, im Jahr nach dem Geschehnis den Menschen in ihrer Heimat in die Augen schauen können. Wenn sie ihrer Verantwortung gerecht werden, gewinnen sie den Respekt der Leser. Das ist eine "ermutigende Botschaft" für jede Lokalredaktion, sagt Nipkau. So weit ist den Podiumsbeiträgen nicht im Geringsten zu widersprechen. Am spannendsten sind aber womöglich zwei Beiträge, die über diesen Common Sense hinaus Problemhorizonte aufreißen.

"Gründlichkeit statt Schnelligkeit"

Frank Nipkau, Redaktionsleiter beim Zeitungsverlag Waiblingen: die "Jagd auf Opfer- Fotos" nicht mitmachen (© Zeitungsverlag Waiblingen)

Bei der Berichterstattung über ein derart existenziell erschütterndes Drama, sagt Prof. Christian Schicha von der Mediadesign-Hochschule Düsseldorf, muss die Maxime lauten: "Gründlichkeit statt Schnelligkeit". Aber sich dem Diktat der Schnelligkeit zu entziehen – das Frank Nipkau wird künftig nicht leichter. In einer ganzen Serie von Referaten kreist dieses Lokaljournalistenforum um die Frage, wie der Journalismus sich in der digitalen Zukunft behaupten wird. Es wird, sagen viele, darum gehen, minutenaktuell Nachrichten in die multimedialen Kanäle einzuspeisen und so gegen die ebenfalls im Hecheltempo operierende Konkurrenz zu bestehen. Schnelligkeit aber steht strukturell in einem Widerspruch zu Genauigkeit, Reflektiertheit, Behutsamkeit. Wie sichern wir uns in diesem Hamsterrad der Beschleunigung Denkpausen? Prof. Wolfgang Donsbach von der Technischen Universität Dresden fordert "mehr Schutz der Journalisten, die sich dem Weiterdrehen der Schraube verweigern, Schutz für die, die sich in der Tageshektik dem Druck entziehen". Wenn ein Journalist aus einem Gefühl professioneller Verantwortung heraus eine eigenständige Entscheidung trifft, müsse er auf einen kollegialen "Schutzwall" bauen können, müsse er auf seinem Gewissen beharren dürfen – selbst wenn von dieser Entscheidung ökonomische Verlagsinteressen berührt sind. Und das, sagt Donsbach, gilt nicht erst bei einem Amoklauf. Es beginnt bei viel alltäglicheren "ethischen Problemen"; bereits dort, wo ein Journalist "über einen Inserenten nicht schlecht schreiben" darf, weil der sonst womöglich keine Anzeigen mehr schaltet. Wer gewohnt ist, Einmischungen als Unausweichlichkeiten zu akzeptieren, Vorgaben zu gehorchen und sich das freie Denken abnehmen zu lassen, wird im Zweifelsfall in einer dramatischen Ausnahmesituation nicht über die Erfahrung und das Selbstbewusstsein verfügen, auf seinen inneren Kompass zu vertrauen.

Weiterführende Links

Die Berichterstattung über den Amoklauf hat die Zeitung in einem eigenen Bereich gebündelt
Externer Link: http://www.zvw.de/amoklauf-winnenden

Das Aktionsbündnis setzt sich gegen Gewalt an Schulen ein
Externer Link: www.aktionsbuendnis-amoklaufwinnenden.de/

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der Dokumentation des Forum Lokaljournalismus 2011

Peter Schwarz ist Redakteur in der Kreisredaktion des Zeitungsverlages Waiblingen