Uelzen. Die Kolonne an Polizeifahrzeugen ist schier endlos. Mit Blaulicht und Martinshorn schiebt sich Mannschaftsbus um Mannschaftsbus über die Straßen der kleinen Kreisstadt in der Lüneburger Heide, vorbei am Redaktionsgebäude der Allgemeinen Zeitung. Die Kennzeichen verraten, dass ein Großeinsatz bevorsteht. Die blau-grünweißen Wagen kommen aus Oldenburg und Berlin, Essen und München - im östlichen Niedersachsen weiß jeder: Der nächste Castor-Transport ins atomare Zwischenlager Gorleben rollt bald in Frankreich los.
Es ist dasselbe Ritual wie fast jeden Herbst, und das mittlerweile zum zwölften Mal. Ein Atomzug fährt in den Landkreis Lüchow-Dannenberg, Zehntausende protestieren, die Medien berichten vom größten Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik. So war es im November 2010, so wird es im November 2011 sein – also business as usual für alle Beteiligten, inklusive der Berichterstatter? Für die Beiträge überregionaler Zeitungen und Fernsehsender mag das zutreffen. Doch für die Menschen vor Ort und somit auch für die örtlichen Reporter ist jeder Castor eine Fahrt voller Ungewissheiten, voller Geschichten, voller großer und kleiner Tragödien. Wutbürger, Stuttgart 21? Solche Schlagworte entlocken vielen Menschen im Wendland nur ein müdes Lächeln. Denn was seit einem Jahr in Baden-Württembergs Landeshauptstadt vollmundig propagiert wird, ist im Osten Niedersachsens seit Jahren Alltag, wenn im Herbst der Castor rollt und eine ganze Region zum Hochsicherheitstrakt wird.
Vom kleinen Protest bis zur organisierten Pressearbeit
Am Anfang waren es einige hundert Protestler, die sich formierten, nachdem Ernst Albrecht, niedersächsischer Ministerpräsident von 1976 bis 1990, sich zu Beginn seiner Amtszeit für Gorleben als Standort des "Nuklearen Entsorgungszentrums" entschieden hatte. Die Zahl der Beteiligten war übersichtlich, die Informationsstränge leicht nachvollziehbar. Es gab einen Veranstalter und eine berechenbare Zahl von Pressemitteilungen, Aktionen und Pressekonferenzen. So war die Berichterstattung in der Zeit zwangsläufig und klar strukturiert, wie es für Redaktionen Alltag ist. Heute ist der Castor-Transport für die örtlichen Redaktionen eine logistische und journalistische Herausforderung ohnegleichen. Praktisch jedes Dorf im Wendland hat eine eigene Widerstandsgruppe, die Protestler sind verlinkt, halten sich über Internet und an den Castor-Tagen selbst auch über den eigenen Radiosender, "Freies Wendland", auf dem Laufenden. Längst haben Widerständler und Staatsmacht erkannt, dass eine professionelle Pressearbeit das A und O eines solchen Einsatzes sind.
An fast allen neuralgischen Punkten des Schienentransportes zwischen Lüneburg und Dannenberg sind auch Polizisten eingesetzt, die für den Umgang mit der Presse geschult sind. Journalisten werden hinter die Kulissen und auf mit Kameras, Bewegungsmelder und Stracheldraht geschützte Brücken geführt, höflich aber bestimmt gibt es immer dieselben gelernten Antworten. Die Protestbewegung wiederum nimmt Redakteure bereitwillig in den SMS- und E-Mail-Verteiler auf, damit die schreibende Zunft und vor allem die Fotografen immer auf der Höhe sind, wenn sich Castor-Gegner anketten oder Greenpeace einen als Bier-Lkw getarntes Hindernis auf die Straße "schweißt". Teilweise erreichen täglich über 1.000 E-Mails mit Presse-Informationen die Redaktion. So bekommt der Reporter Einblicke in die eigens für Polizisten gebauten Container-Dörfer, in deren Großküchen, in denen rund um die Uhr für die Einsatzkräfte gekocht wird. Er weiß dank der Demonstranten Oftmals eher als die vor Ort eingesetzten Polizisten, wo sich der Castor gerade befindet und wo die nächste Trecker-Blockade geplant ist. Der Reporter wird geradezu zugeschüttet mit Informationen und mit Versuchen, für die eigene Sache, sei es Widerstand gegen oder Schutz des Castors, eingenommen zu werden.
Gefasst auf Beeinflussung von allen Seiten
Manipulation und Beeinflussung sind Alltag für den Journalisten. Denn nicht immer stimmen die Informationen, die Polizei und Protestierende der Redaktion zuspielen. Beide versuchen gezielt, die Medien zu instrumentalisieren. Zum Beispiel gibt die Polizei Falschinformationen über die Route an die Zeitung, in der Hoffnung, dass diese verbreitet werden und die Demonstranten auf eine falsche Fährte locken. Umgekehrt verbreiten Protestierende falsche Zeiten und Orte von Aktionen, um wiederum die Polizei zu täuschen. Wer keine Erfahrung in der Berichterstattung über Gorleben hat, kann diese Informationen nur schwer prüfen. Unsere Redaktion hat im Laufe der Jahre ein Netz aus zuverlässigen Kontakten und Quellen aufgebaut, um diese Fallen zu entdecken. Auch unsere Ortskenntnisse helfen uns, da viele angeblich geplante Aktionen an einem bestimmten Ort zum Beispiel geografisch gar nicht möglich oder völlig unsinnig sind. Darum ist es wichtig, jedes Jahr die gleichen Personen mit der Berichterstattung zu beauftragen. So bin ich stets dabei und achte darauf, auch eine gewisse Kontinuität meines Teams, das aus zwei bis drei Leuten besteht, zu erreichen – auch wenn etwa der Fotograf mit den Jahren gewechselt hat.